„Farbe im Kino“
Farbgestaltung und Farbdramaturgie haben auch im modernen Kino eine große Bedeutung. Mit den ausgefallenen, komplexen Farbkompositionen in Zhang Yimous Hero stimmt die Autorin Susanne Marschall den Leser auf ihr Buch ein, das eine Farbenlehre der Filmkunst sein will. Marschall hat sich mit der hier in Buchform vorliegenden Studie an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz habilitiert. Die vorliegende Publikation geht mit dem Anspruch ins Rennen, ein Standardwerk zu Technik, Geschichte und Ästhetik der Farbe im Kino zu sein. Als nicht ganz glücklich erscheint mir allerdings, dass fortwährend von den „Farben im Kino“ und nicht treffender von „Farben im (Kino-)Film“ gesprochen wird.
„Farben bilden eine Brücke über das weitgehend unbekannte Niemandsland zwischen Verstand und Gefühl.“ Mit diesen Worten beginnt die Autorin ihre breit gefächerte, interdisziplinäre Untersuchung zum Thema Farbe im Kinofilm. Dabei fließen Erkenntnisse anderer Disziplinen, aus natur-, geistes-, kunst- und kulturwissenschaftlichen Fachrichtungen mit ein; entsprechend wird auch die Verwandtschaft von Farbeindrücken mit Klängen betont. Die unvermeidlichen theoretischen Einschübe machen die Texte dieses heterogenen Diskurses zum Thema Farbe im Film nicht immer unmittelbar und leicht verständlich; diese Passagen sind teilweise etwas akademisch geraten.
Die symbolische Bedeutung der Farben im Film ist vielschichtig, steht in engem Zusammenhang mit dem jeweiligen Filmkontext. Dabei gilt allgemein: Farbe im Kinofilm bedeutet meist das exakte Gegenteil von Natürlichkeit. Gerade die an Stelle fehlender Eindeutigkeit anzutreffende mehrdimensionale Vieldeutigkeit macht das Thema ebenso faszinierend wie auch komplex in der analytischen Betrachtung. Ein gewisser „letzter Rest“ an Wirkung bleibt dabei unübersetzbar, ein Mysterium, das jeder rein individuell empfindet. Dagegen spricht übrigens auch nicht, dass sich, wie auch in anderen Bereichen des Filmemachens, im Farbenspiel der bewegten Bilder ebenfalls gewisse Standardisierungen und Stereotype, im Sinne symbolischer und psychologischer Klischees, entwickelt haben. So verweisen farblich stark gedämpfte und/oder monochrome (eventuell nebelige) Bilder oftmals auf das Unterbewusste, auf Vorgänge in der Seele, auf Träume, wie auch auf Zwischenstadien zwischen Leben und Tod, z. B. in Alejandro Amenábars The Others oder in Alfred Hitchcocks Vertigo — Aus dem Reich der Toten. Die besonders auffällige Farbe Rot steht oftmals für das Lebendige, Kraftvolle und Mächtige und damit auch für die erotische Leidenschaft, aber Triebhaftes ist nun mal nicht immer rot, wie anhand von z. B. Zhang Yimous Wuxia-Spektakel Hero im ersten Kapitel des Buches belegt wird.
Auch die farbigen US-Musicals der 40er und 50er Jahre werden eingehend gewürdigt. In diesen ist die Farbe zwar oftmals einfach nur um ihrer selbst willen, also ohne symbolische Last, rein auf Effekt hin eingesetzt. Für Letzteres steht der in seinen exzessiven, grellbunten (Neonreklamen-)Farbtönen der Pop-Art verpflichtete Singin’ in the Rain von Stanley Donen, aber auch The Wizard of Oz. Markant anders geartet ist Vincente Minnellis An American in Paris, in dem die Farben künstlerischer eingesetzt sind. Minnellis Technicolor-Exkurs zeigt sich beeinflusst vom berühmtesten britischen Ballettfilm, The Red Shoes (1948), und verweist in der farblichen Gestaltung auf den Impressionismus und die Gemälde Toulouse-Lautrecs.
Die Autorin stellt dabei unter anderem resümierend fest: „Für das Kino in Farbe ist das Kino in Schwarzweiß ungeheuer wichtig (gewesen), denn das Spiel von farblosem Licht und Schatten durfte sich von Anfang an von der Realität entfernen. Aus seinem nach und nach angehäuften Vorrat an Gestaltungsformen, die ureigen zur Ästhetik des Kinos gehören, konnte der Farbfilm schöpfen.“ Entsprechend gilt, dass auch vielen Schwarzweißfilmen eine Art ausgeklügelter „Farbdramaturgie“ zugrunde liegt, die sich in den vielschichtigen Grauabstufungen spiegelt. So schockiert Bette Davis die gute Gesellschaft von New Orleans auf dem großen Ball (Männer in schwarz, unverheiratete Frauen in weiß) in William Wylers Jezebel (1938) durch ein aus glänzendem Stoff gearbeitetes, leuchtend rotes Kleid. Dies erscheint hier in einem von reflektierenden Lichteffekten gebrochenen Schwarz, das beim Zuschauer durchaus einen Eindruck von Farbigkeit hinterlässt. Farbe löst eben nicht nur Emotionen aus, sondern beeinflusst zugleich die Wahrnehmung. So ist film- und kulturhistorisch der Wechsel von Farb- zu Schwarzweißfilm in der Wahrnehmung des Publikums als historisch oder dokumentarisch fest implantiert.
Susanne Marschall führt den Leser kompetent durch ein umfangreiches und vielschichtiges Gebiet. Eingestreut in die interessante Abhandlung finden sich drei ausführliche, analytische Betrachtungen zu Alfred Hitchcocks Vertigo, Ingmar Bergmanns Schreie und Flüstern und Carlos Sauras Goya en Burdeos • Goya: Die Spirale des Lebens. Hinzu kommen viele weitere Beispiele zur Dramaturgie der Farbe im Film, von den frühen Farbfilmen bis zu aktuellen Streifen wie Memento und Dancers in the Dark.
Hervorzuheben ist die fast durchgehend vorzügliche Qualität der den besprochenen klassischen wie auch modernen (Farb-)Filmbeispielen beigegebenen farbigen Abbildungen (Screenshots) — meist im originalen Kinoformat. Deren Bildvorlagen ermöglichte das High-Tech-Videomedium DVD.
Entsprechend bietet gerade die DVD die idealen Voraussetzungen für eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Medium Film und damit natürlich auch mit dem Thema Farbe im Film. Zwar sind Standbilder nur eine Hilfskonstruktion im Sinne einer groben Annäherung an die kontinuierlichen Bildeindrücke beim Erlebnis Kinofilm; die enthaltenen rund 230 Abbildungen verleihen den Ausführungen aber in jedem Fall eindrucksvolle Plastizität. Dem bereits Vorhandenen soll zukünftig noch so manches durch ergänzende Untersuchungen hinzugefügt werden, wie die Agfacolorfilme der 40er-Jahre.
Fazit: Susanne Marschalls Habilitationsschrift, präsentiert in handlicher Buchform, reflektiert viele der Facetten, die das ästhetische Potenzial der Farben im Film ausmachen. Der Band, eine Mischung aus referierten theoretischen Grundlagen und analytischer Betrachtung, wirkt grundsteinlegend und ordnend in einem bislang nur teilweise erschlossenen Feld der Filmforschung, bei dem es nur zu Teilaspekten Literatur gibt. Wie die Autorin eingangs schreibt, wird diese interessante interdisziplinäre Studie zu einem Schauplatz des Suchens und Findens, der Entdeckungen und Verwerfungen. Auch wenn die Publikation aufgrund ihrer Wissenschaftlichkeit nur bedingt ein Lesebuch ist, ist sie m. E. für alle Interessierten wertvoll, die einen breiter gefächerten Einstieg in die Materie suchen. Dabei bieten solide erarbeitete Anhänge (Literaturverzeichnis und Filmregister) zusätzliche Hilfestellung.
Dieser Artikel ist Teil unseres umfangreichen Programms zum Jahresausklang 2006.
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