Die Gattung „Bergfilm“ wurde entscheidend vom Regisseur Arnold Fanck geprägt. Der 1889 geborene Fanck hatte bereits mit seinem Kinodebüt großen Erfolg, dem Ski-Film Das Wunder des Schneeschuhs (1920). Den zunehmenden Wandel seiner anfänglich rein dokumentarischen Leinwandschöpfungen zum Naturfilm mit Spielfilmcharakter zeigen seine erfolgreichsten Filme wie Im Kampf mit dem Berge (1921), Der Berg des Schicksals (1924), Der heilige Berg (1925/26), Der große Sprung (1927), Die weiße Hölle vom Piz Palü (1929), Stürme über dem Montblanc (1930) und schließlich S.O.S. Eisberg (1933). Zu einer Zeit, als die Filmproduktionen noch überwiegend im Studio entstanden, realisierte Arnold Fanck seine Filme nahezu ausschließlich im Freien. Der Regisseur hat auch Luis Trenker ausgebildet, dessen Bergfilme – wie Der Berg ruft (1937) – vielen Lesern bekannter sein dürften. Er entdeckte ebenfalls Leni Riefenstahl, die zusammen mit Luis Trenker als Schauspielerin in Fanck-Filmen debütierte. Fancks ästhetische Prinzipien wurden später von Leni Riefenstahl und Luis Trenker übernommen und für ihre Zwecke weiterentwickelt. Leni Riefenstahl errang in den dreißiger Jahren mit ihren zweifellos bildgewaltig inszenierten NS-Parteitags- und den Olympiafilmen (Triumph des Willens, Fest der Völker, Fest der Schönheit) umstrittene Berühmtheit.
Piz Palü kommt aus dem Rätoromanischen und bedeutet „Der bleiche Berg“. Der Film Die weiße Hölle vom Piz Palü entstand im ersten Halbjahr 1929 in Zusammenarbeit mit dem Regisseur G. W. Pabst im schweizerischen Bernina-Massiv. Er hatte am 15. November des selben Jahres seine Uraufführung. Die Begeisterung des Premierenpublikums und auch der Filmkritik führte zu sensationellen Besucherzahlen. Innerhalb von nur vier Wochen sahen 100 000 Menschen den Film im Berliner Ufa-Palast. Auch international war Die weiße Hölle vom Piz Palü sehr erfolgreich. Die von Universal Pictures im Jahre 1930 produzierte Tonfassung wurde sogar als erster deutscher Film überhaupt im riesigen New Yorker Roxy-Kino gezeigt.
Die einfache Story ist hier mehr der Aufhänger für die Schauwerte einer intensiv verbildlichten Natur, deren Gewalten das Geschick der Figuren bestimmen – insofern ist die „Botschaft“ sogar ökologisch zeitgemäß. Ein frisch verlobtes Paar (Leni Riefenstahl und Ernst Petersen) gerät unter der Führung des erfahrenen Bergführers, Johannes Kraft, (Gustav Diessl) – der vor Jahren bei einem Unglück hier seine Frau verlor – infolge dramatischer Umstände in Bergnot. Nach Tagen in bitterer Kälte werden die auf einem unzugänglichen Felsvorsprung Wartenden vom seinerzeit als Kunstflieger-Ass berühmten Ernst Udet entdeckt. Die herbeieilenden Rettungstrupps können aber nur die Verlobten lebend bergen – der Bergführer bleibt im ewigen Eis verschollen.
Trotz seines Alters von nunmehr über 70 Jahren vermag der für seine Zeit avantgardistische Film auch heute noch weitgehend zu überzeugen und hat nur wenig Patina angesetzt. Die malerischen, stimmungsvollen Naturaufnahmen und die dazu äußerst einfallsreichen, herrlichen Bildeffekte können den, der nicht bloß auf vordergründige Action aus ist, nach wie vor begeistern. Der Film zeigt, wie winzig der Mensch und seine Technik (hier Fliegerass Ernst Udet und seine Maschine) sich vor der gigantischen Naturkulisse ausnehmen. Beeindruckend sind auch die meisterhaft eingefangenen Hochgebirgspanoramen, das Innere eines etwa 60 Meter tiefen Gletschers, die Bilder von Schneestürmen und Lawinenabgängen. Das Werk beweist ebenso, wie brillant selbst Schwarz-weiß-Filme sein können: z.B. die raffiniert eingefangenen Lichtbrechungseffekte in Eis und Schnee sind faszinierend anzusehen und haben echte Klasse.
Jahrzehnte lang war Die weiße Hölle vom Piz Palü nur in verstümmelten und nachbearbeiteten Ton-Fassungen und außerdem in schlechter Bild-Qualität zu sehen. Die gravierenden Kürzungen – etwa 25 Prozent – verändern Rhythmus und Stil des Films dramatisch und rücken die eher nebensächliche Handlung gegenüber der im Original als dominierendes Handlungselement erscheinenden Natur erheblich stärker in den Vordergrund.
Durch einen Glücksfall wurde 1996 eine lange verloren geglaubte, in den dreißiger Jahren für das Reichsfilmarchiv angefertigte Nitrokopie der 1929er Originalfassung, nach abenteuerlicher Odyssey wiederentdeckt. Während der Nachkriegswirren war diese Kopie als russische Kriegsbeute nach Moskau gelangt und ist in den siebziger Jahren an das staatliche Filmarchiv der DDR gegeben worden. Im Rahmen einer weltweiten Recherche nach den Urmaterialien der Filme von G. W. Pabst durch die Stiftung deutsche Kinemathek, fand sich die Kopie ironischerweise im eigenen Hause – nämlich im Besitz des Bundesarchivs, das die DDR-Film-Bestände 1990 übernommen hat.
Die ehemalige staatliche Filmzensur verlangte eine exakte Auflistung von Szenenfolgen und Texten, um mit Hilfe dieser „Zensurkarte“ des Films das eliminieren zu können, was sie als schädlich für die Volksseele empfand. So dubios dieses Anliegen heutzutage anmutet, so hilfreich sind derartige Zensurkarten – wie auch im vorliegenden Fall – in Sachen Filmrekonstruktion. In vielen Fällen ist es nur so möglich, aus zerschnittenen Kopien wieder eine „Urfassung“ zu erstellen.
Die erhaltene Nitrokopie zeigt ein brillantes Bild, nur leichte Gebrauchs-Spuren und – erfreulich – nur leichte altersbedingte Mängel. Verschiedene Ungereimtheiten in der Szenenfolge konnten mit Hilfe besagter Zensurkarte weitgehend ausgeglichen und dazu eine Reihe fehlender Zwischentitel rekonstruiert werden. Auch wurde die Gestaltung der Zwischentitel wieder an die aufwendige expressive Pinselschrift der Originalgrafiken angenähert. Infolge der Zusammenarbeit zwischen der Kirch-Gruppe, dem Bundesarchiv-Filmarchiv sowie arte und ZDF, erstrahlt auch dieser Film (siehe auch das Sissi-Spezial) wieder nahezu im alten Glanz.
Interessanterweise ist jede der existierenden Fassungen des Films mit unterschiedlichen Musiken verknüpft. Für die im Jahr der Uraufführung gezeigte ursprüngliche Version schrieb Willy Schmidt-Gentner die Musik, Komponist der 1935er Tonfassung war Giuseppe Becce und die Komposition der – ebenfalls stark gekürzten – amerikanischen Tonversion aus dem Jahr 1930 stammt von Heinz Roemheld. Hier, wo die Musik das fehlende Wort und auch Geräusche ersetzen muss, kommt ihr eine besonders große Bedeutung zu. Gerade bei Stummfilmen ist es aber nicht unbedingt so, dass die Originalmusik heute auf den Zuschauer noch eine vergleichbar fesselnde Wirkung ausüben kann wie damals. Inwieweit dies auch auf die Original-Musik von Willy Schmidt-Gentner zutrifft, vermag ich nicht zu beurteilen. Allerdings ist die für die rekonstruierte Fassung von ZDF/arte beim australischen Komponisten Ashley Irwin in Auftrag gegebene Musik in jedem Fall sehr gelungen und verleiht dem Film zusätzliche, vielleicht sogar etwas zeitgemäßere Reize: Die in Teilen aktionsbetonte, dynamische Filmmusik verbindet gekonnt majestätischen Alpensifonie-Charakter mit musikalischen Elementen des modernen Abenteuerkinos.
Für den 1958 geborenen Ashley Irwin, der nach einer Ausbildung im Bereich Jazz primär als Arrangeur gearbeitet hat, war nach zahlreichen Synthi-Scores die Musik zu Die weiße Hölle vom Piz Palü seine zweite orchestrale Filmkomposition. Klar hörbar besitzt der Komponist eine Vorliebe für das große Sinfonieorchester. In der vorliegenden Komposition hat er jeder Hauptfigur eine eigene instrumentale Stimme verliehen: die romantische Flöte für Maria, die überschwängliche Klarinette für ihren Verlobten, Hans, die majestätische Trompete für den Piloten Udet und der Charakter des geheimnisvollen Bergführers wird sogar durch die Klänge dreier Instrumente (Tuba, Englisch-Horn und Oboe) charakterisiert. Nicht nur für einen Komponisten, der aus dem Unterhaltungssektor kommt, ist diese auch sauber und einfallsreich orchestrierte Film-Komposition eine überaus beachtliche Leistung. Für diese auch im Fernsehen ausgestrahlte Fassung dirigierte der in Sachen Stummfilm-Musik seit längerem sehr engagierte Frank Strobel das Deutsche Filmorchester Babelsberg.
Dem Kinowelt-DVD-Label ARTHAUS ist im Rahmen der Serie von Filmklassikern mit der vorliegenden DVD eine besonders vorzeigbare Produktion gelungen. Der Bildeindruck ist insgesamt sehr gut und der volle Stereo-Surround-Ton für die durchgehend schöne Filmmusik (knapp 2 ¼ Stunden!) macht diesen Titel außerdem zum Schmankerl für den Filmmusikfreund. Als ansprechendes Extra gibt es eine rund 25-minütige Dokumentation „Schicksalswände – Extrembergsteiger erinnern sich. Die Eiger Nordwand“, welche einige interessante Vergleiche zum Bergsteigen damals und heute ermöglicht.
Fazit: Die DVDs Die weiße Hölle vom Piz Palü und Citizen Kane gehören zu einer Reihe von Filmklassikern, die auf dem Kinoweltlabel ARTHAUS veröffentlicht worden sind. Infolge eines historischen Glücksfalls konnte für Die weiße Hölle vom Piz Palü auf eine sehr gut restaurierte Kopie zurückgegriffen werden. Hierdurch erstrahlt dieser für seine Zeit avantgardistische und auch heute noch sehenswerte Film, mit seinen packenden Naturaufnahmen, in neuem Glanz. Für den Filmmusikfreund ist dieser Titel aber zusätzlich besonders attraktiv, durch die durchgehend sehr ansprechende, neu komponierte sinfonische Filmmusik des Australiers Ashley Irwin.
Bei Citizen Kane wurde wohl die auch schon im Fernsehen ausgestrahlte Videofassung videotechnisch leicht nachbearbeitet. Das Resultat ist durchaus gut, erreicht aber nicht die Brillanz, die ich mir gerade bei diesen Film in Sachen Bildqualität wünschen würde. Hier muss man allerdings fairerweise sagen, dass es zweifellos mit erheblichen Kosten verbunden gewesen wäre, in Sachen Filmrestauration tätig zu werden. Nun, die lobenswerten Bemühungen auch um klassische Filmtitel stecken an dieser Stelle sicher noch ein wenig in den Kinderschuhen und dürften mittel- und längerfristig zu noch überzeugenderen Resultaten führen. Bis dahin kann man mit dieser sehr ordentlich gefertigten Edition durchaus leben. Wer über den Film mehr erfahren möchte und das noch möglichst in deutsch, dem sei die Rezension von Laura Mulveys neu erschienenem Buch „Citizen Kane, Der Filmklassiker von Orson Welles“ empfohlen.
Mehrteilige Rezension:
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