Die Matrix entschlüsselt

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
11. April 2004
Abgelegt unter:
Lesen

Nun hat sich der bekannte Filmbuchautor Georg Seeßlen auch auf das Universum der Matrix-Trilogie eingelassen, ist mit Akribie daran gegangen, dieses vielschichtige Phänomen für den interessierten Betrachter, der bislang oftmals wohl nur Bahnhof verstanden hat, zu entschlüsseln. Das vorliegende Buch „Die Matrix entschlüsselt“ aus dem Bertz Verlag (www.bertz-verlag.de) ist dabei in den die Matrix-Trilogie dominierenden „Farben“, Schwarz-Weiß und Grün, gehalten. Zusätzliche Nähe zu den Filmen stellen die jede Seite von oben nach unten durchlaufenden Zahlenkolonnen her.

Der Verfasser hält die Filmtrilogie für eine einzigartige Mischung aus Design und Philosophie, Action und Religion und zugleich für eine offene Filmwelt, die man sozusagen unendlich lesen, interpretieren und diskutieren kann. „Die populäre Mythologie der Unterhaltungsindustrie hat mit den alten Mythen gemeinsam, dass sie in sich einen enormen Reichtum von Erfahrungen, Wissen und Problemen trägt, mehr oder weniger gut maskiert.“

Georg Seeßlen sieht den Zauber von Filmen wie E. T. darin, dass Regisseur Spielberg die Kunst entwickelt hat, den Inhalt, die zugehörigen Gedanken und Träume amerikanischer Kinderzimmer zu verfilmen. Die Matrix setzt entsprechend im Zimmer eines Heranwachsenden unserer Tage an, der sich an der Schwelle zum Erwachsenen-Dasein befindet. Hier finden sich nicht nur Science-Fiction- und Cyberpunk-Romane, sondern auch Philosophische Schriften. Eventuell gar Jean Baudrillards „Simulacra & Simulation“, das einer der Filmhelden frivol vor die Kamera hält. Natürlich befindet sich im Zimmer unseres Jugendlichen neben dem Massenmedium Fernseher auch ein Computer. Damit besteht neben den virtuellen Welten unseres Medienalltags ebenso Zugang zur mitunter ebenfalls cyberhaften Welt des Internets.

Der Autor stellt außerdem fest: „Der Film weiß schon wie schlau er ist. Genauer gesagt, er weiß, wie er es anzustellen hat schlauer als alle seine Interpreten zu sein. Er bombardiert seine möglichen Analytiker mit mehr Stoff, als sie jemals verarbeiten können. Und er dreht ihnen schon im Vornherein eine lange Nase.

  • Matrix ist etwas Neues. Deswegen lohnt es sich genauer hinzuschauen, was drinsteckt und was rauskommt.
  • Die Filme haben es auf ihr philosophisches Echo abgesehen. Sie spielen schon damit, und das tun sie gut.
  • Was das Tolle an den Matrix-Filmen ist, das ist nicht allein der Umstand, dass in einem perfekten Stück Action-Design eine philosophische, politische und ästhetische Wundertüte steckt.
  • Das Tolle ist, dass es Spaß macht, sie zu öffnen. Sie enthält zwar viel schönen Unfug, es ist aber keine Mogelpackung. Was da herauspurzelt ist schon ziemlich wüst und jede und jeder kann etwas anderes damit anfangen.
  • Noch toller ist sogar, dass es auch Spaß macht, einander seine Lieblingswundertütendinger zu zeigen.“

„Aber ein offenes System ist noch lange kein System der Beliebigkeit. Deshalb besetzen die Matrix-Filme auch, bei aller Verspieltheit, einen sehr konkreten Punkt in unserer Geschichte von Technologie und Politik, Kultur und Wahrnehmung.“ Damit macht der Autor deutlich, dass das Pop-Phänomen „Die Matrix“ auf vielen Ebenen rezipiert und durchleuchtet werden kann. Entsprechend liefert er dem Leser einen überaus vielfältigen Themenkatalog.

Nach einem allgemeinen einführenden Kapitel zum Stand des Science-Fiction-Kinos im Zeitalter des Cyberspace werden eingehend literarische und filmische Vorlagen, die Regisseure — Larry und Andy Wachowski — sowie ästhetische Aspekte beleuchtet. Anschließend stehen genaue Betrachtungen der Film-Teile I + II auf dem Programm. Hierbei werden nicht allein die prägenden Einflüsse aufgezeigt, sondern ebenso zur gelungen verknappten Handlung lesenswerte Interpretationen und weitere Anregungen mitgeliefert. Seeßlen geht aber ebenso auf weitere, die Matrix-Trilogie ergänzende Produkte ein: das Computerspiel „Enter the Matrix“ und auf die Reihe der „Animatrix-Filme“.

Ebenso interessant sind die ausführlichen Exkurse zu Politik, Philosophie und Religion der Matrix. Seeßlen zeigt interessante Parallelen auf, zwischen den von der Matrix in einer Art Kokon unbewusst gefangen gehaltenen Menschen und der Gefangenschaft der Menschen in der kapitalistischen Konsumgesellschaft. Und in der Simulation eines normalen Alltags für die Gefangenen durch „Die Matrix“ spiegelt sich für den Autor wiederum unsere Gesellschaft. Er vergleicht TV-mediales wie Soap-Operas und Big Brother mit dem Wunsch nach simuliertem Alltag.

Komplexer und nicht so flott lesbar ist die tiefere Betrachtung der Matrix-Philosophie, wo berühmte Namen wie Hume, Kant, Leibnitz und Nietzsche nicht allein Revue passieren, indem deren Einfluss auf die Filme nachgespürt wird. Seeßlen sieht in bestimmten Figuren der Filmhandlung geradezu die Geisteshaltung oben genannter Philosophen verkörpert. Und ebenso findet sich eine eingehendere philosophische Betrachtung des Begriffs „Wahrheit“.

Der Ansatz der religiösen Interpretationen beschränkt sich nicht nur auf abendländische Glaubensrichtungen, auch fernöstliche wie Taoismus und Buddhismus werden in die Betrachtungen mit einbezogen. Einmal mehr zeigen sich hier das breit gestreute Wissen und die Fähigkeiten des Schreibers interessante Zusammenhänge darzustellen.

Anschließend wird dem dritten Filmteil, The Matrix Revolutions, ein erläuterndes Kapitel gewidmet. Im Umfang ist es zwar deutlich knapper gehalten als die zu den ersten beiden Filmen, aber auch hier wird ausreichend Informatives geboten. Der Autor führt die Matrix-Story zum Ende: sie gelangt nach seiner Auffassung vom Bewusstsein zurück in den Traum, in die Matrix unseres Medienalltags.

Im abschließenden Kapitel „Was also ist die Matrix“ bringt Seeßlen seinen weitläufigen Guide zum Spielplatz „Die Matrix“ eindrucksvoll resümierend auf den Punkt. Wenn Morpheus im ersten Film zu Neo sagt „You take the red pill and I show you how deep the rabbit hole goes“, dann sieht Seeßlen darin die biblische Parallele vom Griff nach dem Apfel vom Baum der Erkenntnis. Ob einem nun jedes Stück dieses vom Autor des Buches sezierten Apfels gleichermaßen mundet und entsprechend zur gewünschten „Erkenntnis“ verhilft, muss jeder für sich entscheiden. An dieser Stelle gilt das bereits zu „film 6: Martin Scorsese“ Geschriebene in gleicher Weise: dass Seeßlens scharfsinnig verfassten Texte den zum Lesen erforderlichen Zeitaufwand lohnen, auch wenn man sich vielleicht nicht jeder Schlussfolgerung anschließen mag.

Der Käufer des Buches erhält durch fundierte, wissenschaftlich-analytische Betrachtung und Folgerung intelligent und eben nicht willkürlich anmutende Interpretationen. Sicher ist diese, fast zeitgleich zum letzten Film der Trilogie auf dem Markt erschienene Publikation weder die erste noch die letzte zum Thema, aber wohl kaum nur eine unter vielen anderen. Das Buch dürfte im Tiefgang und in der Vielfalt der behandelten Themen zum Umfassendsten gehören, das man zur Matrix-Filmtrilogie bekommen kann. Man merkt, hier schreibt einer, der Spaß an der Sache hat. Einer, der bei aller Ernsthaftigkeit nun nicht bierernst wird, bei dem auch augenzwinkernde Ironie nicht zu kurz kommt.

Im insgesamt recht knappen Anteil markanter Film-Bilder kann man einen (kleinen) Schwachpunkt konstatieren, allerdings ist dafür auch der Preis (sicher bewusst) recht niedrig gehalten. Erfreulich ist auch hier, dass der Großteil der Bilder — also da wo es darauf ankommt — im korrekten Scope-Bild-Seitenverhältnis präsentiert ist. Seeßlens „Die Matrix entschlüsselt“ sollte damit das Zeug haben, für die Fans der Kino-Pop-Ikone zum unverzichtbaren Kultbuch zu werden. Aber auch Nicht-Fans, die einfach nur Lust verspüren etwas intelligent und zugleich humorvoll Abgefasstes zu diesem — wohl als besonders „overanalyzed“ zu bezeichnenden — Pop-Phänomen unserer Zeit zu lesen, liegen hier ebenso richtig.

Erschienen
2003
Seiten:
352
Verlag:
Bertz Verlag, Berlin
Kennung:
ISBN 3-86505-151-0
Zusatzinfomationen:
€ 12,90 (D)

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