film 6: Martin Scorsese

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
14. November 2003
Abgelegt unter:
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Für die meisten Scorsese-Filme gilt: Auch dem weniger fachkundigen Kinogänger wird rasch klar, dass es sich hierbei nicht einfach um etwas Banales handelt. Für die spürbar intelligente Machart stehen die regelmäßig erkennbaren Symbole und Ikonographien, aber in erster Linie die ebenfalls das Talent des Regisseurs verratende, oftmals unmittelbar faszinierende, dabei allerdings komplex-vieldeutige Bildsprache. Insofern werden die Filme des im New Yorker Stadtteil „Little Italy“ aufgewachsenen Regisseurs auch in Zukunft genug Anlass für kontroverse Debatten geben.

Das (aktuelle) Buch aus dem Bertz Verlag „film 6: Martin Scorsese“ bietet die derzeit wohl interessanteste und zugleich beste Möglichkeit sich mit den Rätselhaftigkeiten und Interpretationsmöglichkeiten im Filmschaffen des Martin Scorsese auseinander zu setzen.

Der Autor, Georg Seeßlen (geboren 1948), studierte Malerei, Kunstgeschichte und Semiologie. Seeßlen ist nicht allein renommierter Kritiker, sondern auch Verfasser vieler Bücher und unzähliger Aufsätze zum Thema Kinofilm. Bezeichnend für seine intellektuelle Herangehensweise an die Zeichensprache der Film-Bilder ist die folgende von ihm aufgestellte Gleichung: Übersetzung des Films = Rekonstruktion der Story + Darstellung der Mittel ihrer filmischen Umsetzung + ästhetische Einschätzung nach dem Stand der Filmgeschichte + moralische Reaktion + ideologiekritischer Fußnotenabstand. Seeßlen kommentiert dies mit „Nach Lesen dieser Gleichung ergibt sich eine erste Utopie: nicht über den Film denken, um vom Film zu sprechen, sondern mit dem Film denken, um durch ihn zu sprechen.“

Dies geht zusammen mit einem großen allgemeinen Wissen um die Materie, das es dem Autor ermöglicht, interessante Bezüge herzustellen. Die so entstehenden Resultate sind dabei mitunter etwas trocken und akademisch-komplex formuliert, es handelt sich also nicht immer um leicht verständliche (Lese-)Kost. Im Gegensatz zu manchen eher pseudo-tiefschürfend-verquasten gedanklichen Konstrukten anderer Schreiber lohnen Seeßlens scharfsinnig verfasste Texte aber in jedem Fall den zum Lesen erforderlichen Zeitaufwand. Dies gilt grundsätzlich, auch wenn man sich vielleicht nicht jeder Schlussfolgerung anschließen mag. Entscheidend ist vielmehr, dass der Leser hier gekonnt vorexerziert bekommt, wie man sinnvoll an die Interpretation von Filmen herangehen kann.

In „Film 6: Martin Scorsese“ wird der filmische Kosmos des berühmten und wichtigen zeitgenössischen amerikanischen Regisseurs besonders eingehend und detailliert beleuchtet. Im Zentrum des Bandes stehen Einzelbetrachtungen und analytisch-minutiöse Abhandlungen sämtlicher Filme, wobei natürlich auch der derzeit letzte, Gangs of New York, nicht fehlt.

Hierzu bilden zwei Kapitel gewissermaßen einen Rahmen. Im einführenden „Hölle und Gnadenort“ werden auf rund 30 Seiten sowohl der Werdegang Scorseses als auch die Philosophie seiner Filme beschrieben. Und der im Anschluss an die ausführliche Besprechung der einzelnen Filme rund 100-seitige Essay „Martin Scorsese und die kopernikanische Wende des Kinos“ fungiert als eine Art Resümee. Hier werden interessante Parallelen zum Werk anderer, auch klassischer Filmemacher aufgezeigt und ebenso wird auf das Thema Filmmusik näher eingegangen.

Der mit 80 Seiten umfangreiche Anhang verrät die akribische Arbeitsweise. Er enthält ein sorgfältig erstelltes Register mit detaillierten bibliografischen Angaben und ausführlichen Filmografien.

Besonders erwähnenswert ist außerdem die nicht allein umfangreiche Ausstattung mit Bildmaterial. Insgesamt schmücken den üppigen und recht gewichtigen Band 1063 Fotos/Bildsequenzen. Erfreulicherweise gibt es die Bilder sogar überwiegend im korrekten Kinoformat und nicht wie meist üblich als Ausschnittvergrößerung. Nur so bleibt die zum Erfassen eines Bildes wichtige Bildkomposition erhalten. Natürlich wird das meiste davon „nur“ in Schwarz-Weiß geboten. 16 Hochglanzpapier-Seiten sind darüber hinaus mit ausgewählten Szenen-Fotos bestückt, bei denen die Farbe dramaturgisch besonders bedeutend ist.

Seeßlen beschreibt den Regisseur als einen der wichtigsten Vertreter einer Generation von Filmemachern, die in der Bilderwelt der populären Kultur aufgewachsen sind und einen ganz neuen Blick auf das Kino entwickelten. Die Filmemacher des Neuen Hollywood der Prä-Blockbuster-Ära kündigten den Pakt der Einheit von Ikonografie, Erzählung und Ideologie auf – was das Zurechtfinden in ihren oftmals vieldeutigen und verwirrenden Bilderwelten erschwert. Der Autor beschreibt Scorsese als einen reflektierenden und sehr autobiografischen Künstler, sieht ihn als großen Mythopoeten der amerikanischen Kultur nach dem Verlust der großen Träume: bezeichnet ihn (sehr sinnig) als den „John Ford der Post-Vietnam-Generation“.

Seeßlen stellt auch fest, dass die Filme keine Antwort auf die Widersprüche der stets neu formulierten Metapher von der Gefangenschaft des Menschen geben: Die Filme selbst „sind“ eine Antwort.

Aufschlussreich ausgeführt sind die Bezüge zu Christentum und Katholizismus in Scorseses Werk. Ermittelt wird der Bezug zum Katholizismus auf mehreren Ebenen: Zum einen auf der des Liturgischen, der Inszenierung der Transzendenz, zum anderen in der Mythologie, der Erzählung von Sünde, Schuld, Opfer und Erlösung. „Der Weg zur Erlösung führt für den Katholiken allein durch die Kirche.“ Sie ist damit Organisation von Macht und Zeichen und zugleich der sakrale Raum, der im Zentrum der Scorsese-Filme steht, auch wenn er dort mitunter nur als blasphemische Abbildung erkennbar wird. Zugleich wird aber angemerkt: „Aber so sehr in seinen Filmen katholische Ikonen und Mythen aufscheinen, so wenig sind sie christlich. Ihre Sichtweise ist wesentlich materialistisch, leiblich auf die Macht gerichtet, analytisch gegenwärtig. Es ist, in der Regel, eine Welt, in der es unter allen Gefühlen das Mitleid am wenigsten gibt.“ Damit wird der Filmemacher zugleich als „Katholischer Materialist“ geoutet.

Und mindestens ebenso interessant sind beispielsweise die Ausführungen über „Das Mitleid“ in Scorseses Filmen im Vergleich zu denen des italienischen Neorealismus. Aus der offensichtlichen Verweigerung, besagtes Mitleid im Bild zu zeigen, wird gefolgert: „weil das Mitleid, wie Jean Baudrillard sagt, sich in der Logik des Unglücks bewegt. So müsse das Mitleid bestätigen, was es betrifft, es sich ausbreiten lassen.“ Seeßlen wirft damit zugleich eine interessante Frage auf: „Ist dies, möglicherweise, die Logik des Christentums, die es bei den Herrschenden so beliebt gemacht hat?“

„film 6: Martin Scorsese“ bildet damit alles in allem zweifellos den Mercedes unter den derzeitig erhältlichen Scorsese-Publikationen des deutschen Sprachraumes. Es dürfte darüber hinaus – aber auch im internationalen Umfeld betrachtet – mehr als einen nur befriedigenden Eindruck hinterlassen, wird vielmehr nur schwer zu toppen sein. Der aufgeschlossene Leser, der von rein emotionalen Pauschalurteilen fort, hin zu einer stärker versachlichten Aussage kommen will, erhält hier wertvolle Anhaltspunkte, die ihm außerdem helfen den Verstand und die Beobachtung zu schärfen. Es wird ein interessanter Ansatz aufgezeigt, wie man Film besser verstehen und behutsam analysieren kann, ohne dabei die Liebe zum Metier aus den Augen zu verlieren.

Lesen Sie hierzu auch das Special zu Martin Scorseses Gangs of New York.

Erschienen
2003
Seiten:
576
Verlag:
Bertz Verlag, Berlin
Kennung:
3-929470-72-1
Zusatzinfomationen:
Hardcover € 25,00 (D)

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