Die Bamberger Symphoniker beim Lucerne Festival im Sommer 2007 (30.8.2007 – 2.9.2007)
Dirigent: Jonathan Nott
Klassische Musik und Luzern, das sind Begriffe, die auf eine lange gemeinsame Tradition zurückblicken. Die Ursprünge reichen bis in das Jahr 1938 zurück, wo Arturo Toscanini, einer der Gründerväter der Luzerner Musikfeste, mit einem Konzert im Park der Wagner-Villa in Tribschen die ersten Festwochen einleitete. Anlässlich seines 50. Todestages wurde der berühmte Künstler übrigens im KKL, „Kultur- und Kongresszentrum Luzern“, mit einer Ausstellung geehrt.
Das im Jahr 2002 fertiggestellte KKL ist direkt neben dem neuen Bahnhof, unmittelbar am Ufer des Vierwaldstättersees gelegen. Es überrascht durch seine spektakuläre, futuristische Architektur von Jean Nouvel. Im Gegensatz zu manch anderen modernistischen Bauten überzeugt, ja fasziniert es die Besucher durch Einfallsreichtum, gepaart mit Funktionalität, und damit schließlich durch Wärme in Form des Sich-Darin-Wohlfühlens. Zu den besonders raffinierten Auffälligkeiten gehören neben der differenziert ausgeführten Fassade und dem scheinbar schwebenden Dachaufbau zwei Wasserkanäle. Diese sorgen einmal für eine räumliche Trennung der einzelnen Bauteile und dienen, da im Inneren des Gebäudes durch hochglanzlackierte Böden quasi „virtuell“ fortgeführt, zugleich dazu, den See mit in das Gesamtkonzept der Anlage zu integrieren. Ein Spaziergang entlang der gegenüberliegenden Seeseite ist ebenfalls sehr zu empfehlen: Besonders bei Sonnenschein erscheint das KKL, infolge ausgeklügelter Spiegelungseffekte, abhängig von der Position des Betrachters wahrlich vielschichtig.
Die diesjährige Sommerausgabe des Lucerne Festivals fand vom 10. August bis zum 16. September 2007 statt. Das Programm stand im weitesten Sinne unter dem Motto „Herkunft“, woraus Themenschwerpunkte resultierten, wie der vielfältige Einfluss der ungarischen Volksmusik auf die Komponisten des 20. Jahrhunderts und damit verbunden eine dem 2006 verstorbenen György Ligeti gewidmete Restrospektive.
In besonderem Maße waren international renommierte Gastorchester („orchestras in residence“) beteiligt. Neben anderen gastierten: das Mahler Chamber Orchestra, das Boston Symphony Orchestra (James Levine), das Israel Philharmonic Orchestra (Zubin Mehta), die Wiener Philharmoniker (unter Daniel Barenboim und dem Venezolaner Gustavo Dudamel) sowie das San Francisco Symphony Orchestra (unter Michael Tilson Thomas). Ich hatte Gelegenheit, in der Zeit vom 31. August bis 2. September 2007 dreien der insgesamt vier Konzerte mit den Bamberger Symphonikern (unter Jonathan Nott) beizuwohnen.
Der 1946 von böhmischen Emigranten begründete Klangkörper hat im Juli 2003 den Rang eines Staatsorchesters erhalten und firmiert seitdem mit dem Namenszusatz „Bayerische Staatsphilharmonie“. In den letzten Jahren sind die Bamberger unter ihrem (seit 2000) Chefdirigenten Jonathan Nott bereits auf den Festivals in Edinburgh, Salzburg und St. Petersburg zu Gast gewesen; jetzt gaben sie ihr Luzern-Debüt. Jonathan Nott war übrigens von 1997 bis 2002 Chefdirigent des Luzerner Sinfonieorchesters und ist mit seiner Familie in Luzern ansässig. Auf Cinemusic.de sind die Bamberger bislang schwerpunktmäßig durch ihren verdienstvollen Joachim-Raff-Zyklus unter der Leitung von Hans Stadlmair hervorgetreten — siehe Kleine Klassikwanderung Nr. 27. Aber auch Jonathan Nott ist hier kein unbeschriebenes Blatt: neben einer Leo-Janáček-Zusammenstellung (Kleine Klassikwanderung Nr. 29) sei besonders auf das hochinteressante Album „Schubert-Epilog“ hingewiesen — siehe Kleine Klassikwanderung Nr. 21.
Im Konzert Freitagnacht, am 31. August, starteten die Bamberger jenseits unseres Heimatplaneten. Mit Gustav Holsts faszinierend farbigem und stimmungsvollem Zyklus sinfonischer Dichtungen „Die Planeten“ ging es begleitet von den London Voices (in „Neptun, der Mystiker“) auf eine musikalische Reise bis an die Grenzen unseres Sonnensystems. Klangschön, dabei durchaus auch mal (klang-)schwelgerisch, kraftvoll und mit Sinn für wohldosierten Effekt wurde hier musiziert. Dieselben Attribute gelten auch für die ohne Pause folgende Suite aus Star Wars von John Williams; Science-Fiction-Filmmusik, deren doch so vertraute musikalische Schemata zu Figuren und Orten erklingen, die laut berühmtem Filmvorspanntext in einer weit entfernten Galaxie vor sehr langer Zeit zu finden gewesen waren.
Gegenüber der geläufigen, ausschließlich aus der Musik zum ersten Film zusammengestellten Konzert-Version legten die Bamberger eine geschickt modifizierte, verlängerte und zugleich aktualisierte Fassung vor:
Nicht zuletzt die Bläser überzeugten durch Präzision und Strahlkraft in so manch besonders anspruchsvoller Passage der mitreißenden Kompositionen. Der Tubist legte sich bei der hörbar ironischen Charakterisierung des Finsterlings „Jabba the Hutt“ besonders liebevoll ins Zeug und wurde dafür mit einem Extra-Applaus belohnt. Wie wenig man sich offenbar vor der Berührung mit der in den Augen so mancher Klassikfreunde leider immer noch als eher belanglos angesehenen Filmmusik scheute, unterstrichen die humorvollen, in drolligem Deutsch vorgetragenen Einführungen zu jedem der Stücke durch Herrn Nott. Das nicht unbeeindruckt gebliebene, natürlich vorwiegend auf Klassik programmierte Publikum quittierte die Bemühungen des gesamten Ensembles mit von Stück zu Stück hörbar zunehmender Anerkennung und schließlich sogar mit einiger Begeisterung.
(Am darauf folgenden Samstagnachmittag agierten die Bamberger auf dem Gebiet der Förderung des Klassik-Hörer-Nachwuchses: der sogenannten „Childrens Corner“ — nur eine von verschiedenen interessanten Facetten des vielschichtigen Festivalprogramms. „Eine Alpensinfonie“ von Richard Strauss erklang in einer als „Orchesterwerkstatt“ („Workshop“) mit freiem Eintritt deklarierten Aufführung. Zur Musik lieferten die auf Großleinwand projizierten, von Schülern der Kantonsschule Alpenquai unter dem Eindruck der musikalischen Naturschilderungen in Schlüsselszenen erstellten Bilder eine visuelle Ergänzung.)
Nachdem die Bamberger Symphoniker am Freitag zu fast nachtschlafender Zeit ihr Debüt im elegant-geschmackvollen Konzertsaal des KKL (mit 1840 Plätzen) gegeben hatten, lag der Einstieg ins sonntägliche (2. September) Konzert-Doppelpack mit 11.00 Uhr auch für Langschläfer moderat. Die Saalakustik ist übrigens ganz ausgezeichnet.
Dieses Mal standen völlig andere klangliche Sphären auf dem Programm: Werke von György Ligeti, Igor Strawinsky und Thomas Tallis. „Lux aeterna“ für 16-stimmigen Chor a cappella stimmte die Besucher ein auf das ehemalige Skandalstück Igor Strawinskys: „Le Sacre du Printemps“. In den Tempi war die Interpretation eher gemäßigt, dafür wurden die vielen abwechslungsreichen Details dieser Musik von den Musikern unter ihrem Dirigenten umso sorgfältiger ausgelotet und akzentuiert herausgearbeitet. (Die brandneue Studioeinspielung des Strawinsky-Opus ist übrigens auf dem Schweizer TUDOR-Label erschienen und wird in Kürze ebenfalls vorgestellt.)
Nach der Pause positionierten sich 40 Mitglieder der London Voices auf der Orgelempore zu insgesamt acht Chören à fünf Stimmen. Die Motette „Spem in alium“ des britischen Komponisten Thomas Tallis ist mit seinen 40 selbständigen Stimmen ein für seine Zeit (komponiert um 1575) in seiner Vielstimmigkeit kolossales einzigartiges Werk der Renaissance. Es ist zugleich eines, das den Raum um den Zuhörer auf spektakuläre Weise nutzbar machen kann. Und in den speziell für dieses Stück ortsbedingt weniger geeigneten Möglichkeiten der räumlichen Differenzierung lag der einzige, kleine Schwachpunkt einer im Übrigen voll überzeugenden Darbietung.
Den Abschluss bildete nach der Motette und dem eingangs gehörten „Lux aeterna“ ein weiterer Exkurs in Sachen Vielstimmigkeit: das Ligeti-Requiem. Dafür nahmen die London Voices auf der Empore in besonders massiertem Aufgebot Aufstellung. Dem mittelgroß besetzten Orchester waren noch zwei Vokal-Solisten zur Seite gestellt: die Sopranistin Mojca Erdmann und die Mezzosopranistin Hilary Summers. Dies vom Orchester, dem Chor und den beiden Solisten subtil und eindringlich ausgeführte Stück verfehlte seinen Eindruck beim Publikum nicht. Entsprechend wurde den Darbietenden im Anschluss der verdiente ausgiebige Applaus nicht verweigert.
Ligetis in immer neuartigen Abwandlungen erprobter und experimentell erweiterter, aber zugleich unverkennbarer Personalstil führt beim Hörer zu komplexen, als pulsierend und schwebend zugleich empfundenen Klangfarbenmixturen. Das ist im Resultat zwar zweifellos nicht unmittelbar eingängige, leichte Kost. Allerdings, selbst für den Unerfahrenen wird eine Begegnung mit dieser Musik zur spannenden, oftmals sogar unmittelbar faszinierenden Hörerfahrung.
So reichten sich Werke aus verschiedenen Epochen der Musikgeschichte — der Neuen Musik, der Moderne und der Renaissance — die Hand in einem Konzert, das wohl als der Gipfelpunkt des Bamberger-Luzern-Zyklus angesehen werden darf. In der interessanten Programmkonzeption zeigt sich zugleich der neu gesetzte Trend einer verstärkt hervortretenden Dirigenten-Klientel, die sich der „Neuen Musik“ besonders verbunden fühlt. Durch raffinierte Kombination zeitlich weit auseinander liegender musikalischer Schöpfungen wurden hier z. B. Kontrapunktik damals und heute einander gegenübergestellt. So werden dem Zuhörer neue Zugänge zu Musik eröffnet und Zusammenhänge aufgezeigt.
Den Abschluss bildete am Abend desselben Tages, um 20.00 Uhr, eine konzertante Aufführung von Wagners den Ring-Zyklus eröffnender Oper „Das Rheingold“. Bereits vor Beginn war es eindrucksvoll, den auf dem Konzertpodium Platz nehmenden gewaltigen Wagnerschen Klangkörper mit seinen z. B. 6 Harfen und 8 Kontrabässen eingehender in Augenschein zu nehmen.
Am meisten überzeugte mich die auch nach dieser gewaltigen Kraftanstrengung im vierten anspruchsvollen Konzert innerhalb von nur drei Tagen immer noch sehr beachtliche Spielkultur der Bamberger Symphoniker. Unter der Leitung ihres Dirigenten boten sie Wagners Musik lebhaft dar, wobei ihnen eine sehr durchsichtige Abbildung des Klanges gelang. Auch hier scheuten Jonathan Nott und seine Mannen wiederum nicht davor zurück, die plakativen und effektvollen Stellen der Musik (z. B. im Abstieg nach Nibelheim oder im Gewitterzauber) angemessen und auch wuchtig zu betonen, die lyrischen hingegen subtil und betont klangsinnlich auszumusizieren. Die Sängerriege agierte wacker, ließ es aber häufig an Verständlichkeit des Textes mangeln. Am besten wirkten Wolfgang Ablinger-Sperrhacke als besonders klar artikulierender listiger Loge, Graham Clarke als in spitzen Tönen köstlich jammernder Mime und Franz-Josef Kapellmans in seiner von hitzig bis brummig changierenden Interpretation des Alberich.
Malerische Aussichten auf Berge (Pilatus und Rigi) und den See ließen Luzern bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer der ersten Touristenhochburgen werden. Heutzutage vereint die am nordwestlichen Ende des Vierwaldstättersees gelegene Hauptstadt des gleichnamigen Schweizer Kantons in beeindruckendem Maße Tradition und Moderne. Vielleicht gerade weil abseits der Metropolen der Welt gelegen, besitzt Luzern ganz besonderen, unverwechselbaren Charme. Dank des zweifellos im Aufwind befindlichen Lucerne Festivals (die Auslastung ist gegenüber dem Vorjahr von 92 auf 94 Prozent gestiegen) ist absehbar, dass in weiter zunehmendem Maße Musikfreunde aus der ganzen Welt die Schönheiten — Postkartenblicke sind garantiert — und zugleich die kurzen Wege dieses nicht nur optisch reizvollen Plätzchens in der „Provinz“ werden zu schätzen lernen. Erst kürzlich hat die Leitung des Lucerne Festivals übrigens ein neues Bauprojekt vorgestellt, das auf einer Idee von Pierre Boulez beruht: Ein „Opernhaus der Zukunft“ in Form eines bislang weltweit einzigartig nutzbaren Saals „Salle modulable“. Einzig die Außenwände und das Dach sind fixiert, alles Übrige ist veränderbar. Bis 2012 soll das gewagte Projekt, für das bislang bereits rund 100 Mio. Schweizer Franken von privaten Sponsoren zugesagt sind, fertiggestellt sein. Es bleibt also spannend.
Dieser Artikel ist Teil unseres Spezialprogramms zum 3. Oktober 2007.
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