Kleine Klassikwanderung 29

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
2. Oktober 2006
Abgelegt unter:
Special

Kleine Klassikwanderung 29

Dieses Mal eine vom Umfang her wahrlich kleine Klassikwanderung, die eine handvoll aktueller Klassik-CD-Veröffentlichungen zeitnah vorstellen möchte.

Franz Waxman: „Joshua“

Bis zum posthumen 100. Geburtstag von Franz Waxman (biografische Infos zum Komponisten: siehe Mr. Skeffington) hat Universal die jetzt vorliegende, bereits aus dem Jahr 2004 stammende Einspielung des Oratoriums „Joshua“ im Archiv schlummern lassen. Der schottische Dramatiker James Forsyth hat für Waxman das Libretto nach dem alttestamentarischen Buch Josua eingerichtet. Zur Komposition des Werkes wurde Waxman durch den Tod seiner ersten Frau Alice im Jahr 1957 inspiriert, zu deren Andenken er dieses geistliche Chorwerk entwarf. Im Ausdruck ist „Joshua“ eher maßvoll modern gehalten, bleibt durchweg leichter zugänglich, ähnlich wie das „War Requiem“ Benjamin Brittens. Zu den Filmmusiken Waxmans finden sich nicht allein einige Zitate (The Spirit of St. Louis, The Silver Chalice), im ausgeprägt jüdischen Tonfall sind deutliche Ähnlichkeiten zu The Story of Ruth spürbar.

Alles in allem handelt es sich zweifellos um ein sorgfältig auskomponiertes Chorwerk, das jetzt erfreulicherweise in einer sehr ausgewogenen Einspielung auf Tonträger zugänglich ist: Mit Maximilian Schell als Erzähler, mit dem Bariton Rod Gilfry, der Mezzo-Sopranistin Ann Hallenberg, den Tenören Peter Buch und Patrick Poole sowie dem philharmonischen Chor und den Prager Philharmonikern unter der Gesamtleitung von James Sedares.

Für den Waxman-Freund ist die CD zweifellos ein Muss und hält auch für den aufgeschlossenen Klassikfreund Hörenswertes bereit. Ob „Joshua“ allerdings zukünftig in der Lage sein wird, in den Konzertsälen dieser Welt stärker beachtet zu werden, erscheint mir zweifelhaft. Nicht nur ob seines sehr speziellen jüdischen Themas dürfte das 1959 uraufgeführte Werk wohl, wie bereits in der Vergangenheit, nur geringe Chancen besitzen, aufgeführt zu werden; auch fehlt der Musik doch etwas ein durchschlagender, packender Funke, wie ihn die ganz großen Chorwerke der Musikliteratur, z. B. das o. g. „War Requiem“, besitzen.

Mozart: Die Zauberflöte

War das wirklich nötig? Schon wieder eine Einspielung der wohl populärsten Mozartoper überhaupt? Immerhin gab und gibt es davon auf Tonträgern bereits haufenweise Versionen in x-fach interpretatorisch unterschiedlicher Auslegung. Nun, die Frage überhaupt zu stellen, ist letztlich wohl müßig, denn gerade die populären, infolge des Überangebotes mitunter schon abgedroschen erscheinenden großen Werke der Musikliteratur stellen natürlich auch für den Nachwuchs ein Terrain dar, das man nicht einfach den mitunter legendären Interpreten der Vergangenheit überlassen will.

Das aus bewährten deutschen Nachwuchs-Kräften rekrutierte Solistenensemble mag angesichts so mancher geradezu legendären Einspielung des Werkes nicht durchweg optimal erscheinen. Es gibt jedoch keinerlei Anlass, über großartige Ausreißer oder Ausrutscher zu jammern. Dorothea Röschmann als Pamina und Hanno Müller-Brachmann als Papageno liefern hierbei wohl die überzeugendsten Interpretationen. Der eigentliche Zauber des im September 2005 im italienischen Modena entstandenen Live-Mitschnitts geht jedoch für mich vom so superb und leichtfüßig aufspielenden Mahler Chamber Orchestra aus. Die überwiegend jungen Musiker des vom Dirigenten Claudio Abbado mitbegründeten Klangkörpers vermögen es vortrefflich, einen der Komödie angemessenen schlanken und zugleich strahlenden „Mozartton“ mit geradezu spielerischer Leichtigkeit zu treffen. Claudio Abbado hat hier übrigens erstaunlicherweise erstmalig — im Alter von immerhin 72 — für „Die Zauberflöte“ zum Taktstock gegriffen. Das mag für so manchen Opernfreund vielleicht gerade entscheidend dafür sein, im heimischen CD-Hort für diese Neuaufnahme doch noch ein freies Plätzchen zu finden.

Leoš Janáček: Sinfonietta, Taras Bulba, Suite aus der Oper „Das schlaue Füchslein“

Die Musik des Tschechen Leoš Janáček (1854-1928) ist farbig und zugleich effektvoll, dabei von einem besonders markant individuell-slawischen Tonfall geprägt. Dieser sticht vom Gewohnten merklich ab. Janáčeks eigenwillige Tonsprache kann man recht treffend als eine Synthese aus den modern kühlen Klängen der urwüchsig-schroffen Urfassungen Modest Mussorgskijs — nicht den wohlwollend geglätteten Bearbeitungen seines Freundes Rimskij-Korsakoff —, dem Impressionismus Claude Debussys sowie dem impressionistisch nachwagnerischen Tonfall Maurice Ravels beschreiben.

Die mit einer wirkungsvollen Fanfare einstimmende Sinfonietta ist wohl das bekannteste Stück des Komponisten, ein reichhaltiges, fünfsätziges Divertimento für großes Orchester. Es handelt sich um ein vorzüglich instrumentiertes Effektstück, dabei jedoch keineswegs um ein oberflächliches, sondern, wie auch die sinfonische Dichtung „Taras Bulba“ nach Gogol, um von Meisterhand auskomponierte, in Teilen epische Musik. „Taras Bulba“ zeichnet — partiell quasi filmmusikalisch — die tragischen Ereignisse im Leben des ukrainischen Kosakenanführers Taras Bulba nach, dessen zwei Söhne und schließlich er selbst Opfer des Freiheitskampfes gegen die polnische Okkupation werden. Eine zweifellos patriotische, aber keineswegs auf billigen Pomp, sondern vielmehr um ausgefeilten dramatischen Ausdruck bedachte Musik, welche die Titelfigur im strahlenden, von Glockengeläut und Orgel begleiteten Finale hymnisch verklärt.

Das Album präsentiert obendrauf noch einen reizenden Füller: Eine Orchestersuite aus der Oper „Das schlaue Füchslein“. Im Spiel um Meister Reineke geht es eher modern, denn im klassischen Sinne märchenhaft zu. Die Oper beinhaltet Parallelen zwischen den Welten von Mensch und Tier und reflektiert zugleich den ewigen Kreislauf des Lebens in der Natur. Nach den Worten des Komponisten handelt es sich um ein heiteres Werk mit traurigem Ende. Die Musik zeigt ausgeprägt impressionistische Einflüsse, ohne dass dabei stilisierte Tierlaute zum Tragen kommen.

Die Bamberger Symphoniker unter ihrem seit 2000 amtierenden Chefdirigenten Jonathan Nott zeigen sich ihrem guten Ruf verpflichtet. Sie agieren auch dieses Mal als vorzüglich kultiviertes Ensemble im Rahmen einer recht kraftvollen, dabei angenehm ausgewogenen Interpretation. Diese nicht einfach zu spielende Musik gibt den verschiedenen Instrumentengruppen im Zusammenspiel wie auch solistisch vielfältige Gelegenheit ihr Können unter Beweis zu stellen. Janáček hat man schon kantiger, ja aggressiver gehört, was aber nicht einfach für besser steht. Notts Version setzt weniger auf Effekt, betont dafür spielerische Präzision und klangliche Transparenz. Die Toningenieure des Bayerischen Rundfunks haben in Zusammenarbeit mit Tudor ganze Arbeit geleistet und für ein überzeugendes Klangbild gesorgt.

Allan Pettersson: Sinfonie Nr. 12, „Die Toten auf dem Marktplatz“

Der schwedische Komponist Gustav Allan Pettersson (1911-1980) ist hierzulande nur Insidern geläufig. Das Œuvre Pettersons ist stilistisch schwierig einzuordnen. Die insgesamt 17 (in zwei Fällen nur fragmentarisch hinterlassenen) Sinfonien knüpfen beim späten Mahler an, sind gewaltige musikalische Kolossalgemälde, die zwar in der Spätromantik verwurzelt bleiben, aber auch Einflüsse der harschen Moderne des 20. Jahrhunderts spiegeln. Oftmals kommen darin Zorn, Wut, ohnmächtige Verzweiflung und Anklage zum Ausdruck.

Die 12. Sinfonie mit dem bezeichnenden Titel „Die Toten auf dem Marktplatz“ tut dies mit massiver vokaler Unterstützung. Das für einen Festakt der Universität Uppsala am 29. September 1977 als Auftragskomposition entstandene, kolossale Werk ist keine beweihräuchernde Festmusik, sondern eine groß angelegte Totenklage von expressiver Kraft. Das machtvolle Opus ist ein nicht alltägliches nichtliturgisches Requiem auf Texte des „Canto General“ des linksgerichteten chilenischen Dichters Pablo Neruda. Nerudas Gedichte sind den Opfern des Militärputsches gegen die Allende-Regierung 1973 gewidmet. Pettersons 12. Sinfonie präsentiert sich sowohl zeitbezogen als auch als zeitlose humanistische Anklage, als ein Aufschrei der Unterprivilegierten dieser Welt wider das zugefügte Leid und als Ruf nach Gerechtigkeit.

Zwar ist der sozialistische Tenor eindeutig, was aber keineswegs mit einem Werk des berüchtigten „sozialistischen Realismus“ gleichzusetzen ist. Es handelt sich vielmehr um eine sowohl eindringliche wie ausdrucksstarke Musik von sehr individueller Prägung, die, da nicht allzu sperrig angelegt, ihre unmittelbare Wirkung auf die meisten Hörer kaum verfehlen dürfte.

Der vorliegende Live-Mitschnitt einer Aufführung im September 2004 in Stockholm ist das Dokument einer Glanzleistung. Der Eric-Ericson-Kammerchor, der schwedische Rundfunkchor und das schwedische Rundfunk-Symphonieorchester unter der Leitung des Österreichers Manfred Honeck liefern eine leidenschaftlich-mitreißende, packende Interpretation eines hochinteressanten Werkes, dem größere Verbreitung zu wünschen ist. Die vorzügliche, von Nebengeräuschen praktisch freie Tonbalance des Mitschnitts fächert das Klangbild sehr gut auf und macht so die Finesse der Musik im Detail hörbar. Die vorliegende Einspielung bringt übrigens den hochwertigen cpo-Pettersson-Zyklus zum Abschluss.

Gustav Holst: Die Planeten

Auch für die noch in den 70ern zu den absoluten Raritäten des Plattenkatalogs zählenden Holst’schen „Die Planeten“, gilt — wenn auch nicht in gleichem Ausmaß — das bereits zur Mozart’schen Zauberflöte Angemerkte. Nun, auf der zweiten CD befindet sich ein kleines „Making Of“ in Form eines rund 10-minütigen Videoclips — den man leider nicht per DVD-Player, sondern ausschließlich via Computer anschauen kann — in welchem Simon Rattle den relativ geringen Bekanntheitsgrad des Werkes beim deutschsprachigen Konzertsaalpublikum herausstellt. In erster Linie dürfte der Zyklus wohl den Filmmusikfreunden geläufig sein, die sich nicht zu den Klassikverächtern zählen — siehe auch „Kleine Klassikwanderung Nr. 3“.

Rattle und seine Berliner haben nun nicht allein die sieben von Holst in Form sinfonischer Dichtungen Klang gewordenen Gestirne eingespielt, sondern wollten — wohl auch angesichts der hochkarätigen Konkurrenz — ihrer Neuproduktion speziellen Pfiff verleihen. Dafür bot sich an, die Kollektion noch um „Pluto“ von Colin Matthews (•1946) zu ergänzen. Dieses Stück entstand übrigens auf Anregung des Dirigenten Kent Nagano zur Jahrtausendwende. Holst vollendete seine Planeten-Komposition bereits vor dem ersten Weltkrieg und konnte daher den 1930 entdeckten „erdfernsten Planeten“ unseres Sonnensystems noch nicht kennen — eine Definition, die übrigens infolge aktueller astronomischer Entdeckungen in Frage gestellt ist.

„Pluto“ ist allerdings seit der CD-Premiere mit dem Hallé Orchestra unter Mark Elder im Jahr 2001 (Hyperion CDA67270) bereits mehrfach zusammen mit den Holst’schen Planeten eingespielt worden. Rattle ist daher noch einen Schritt weiter gegangen und hat im Audioteil von CD 2 vier (im weiteren Sinne) zum Thema Himmelskörper passende Musikstücke, mit einer knappen halben Stunde Gesamtspielzeit, unter dem Oberbegriff „Asteroiden“ als eine Art Anhang hinzugefügt: „Asteroid 4179: Toutatis“ (Kaija Saariaho, •1952), „Towards Osiris“ (Matthias Pintscher, •1971), „Ceres“ (Mark-Anthony Turnage, •1960) und „Komarow’s Fall“ (Brett Dean, •1961), zum Andenken an den sowjetischen Kosmonauten.

Ob Matthews „Pluto“ mit Holsts Zyklus wirklich dauerhaft zur Einheit verschmelzen vermag, wage ich dezent zu bezweifeln. Zwar ist „Pluto“ recht geschickt mit „Neptun“ verknüpft und in gewissem Sinne auch verwoben, aber das modern dissonante Anhängsel sticht im Tonfall denn doch (zu) stark vom Rest ab. Diese Aussage gilt für die hier versammelte „Asteroiden-Kollektion“ in noch ausgeprägterem Maß. Insofern stellt das ambitioniert interpretierte, in Weltersteinspielung vorliegende Quartett wohl in erster Linie einen, wenn auch netten, Gag dar.

Was die partiell fast schon zu einem Klassiker der Filmmusik avancierten Holst’schen Planeten betrifft, ist die dem jeweiligen Charakter der sehr unterschiedlichen Stimmungen einfühlsam folgende und zugleich ausdrucksstarke Interpretation der Musik durch die Berliner unter Rattles Leitung tadellos. Die auch tontechnisch vorzügliche Aufnahme vom März dieses Jahres darf sich im Katalog entsprechend in der oberen Liga einreihen.

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