Deutschland 1923 – Das Jahr am Abgrund

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
7. April 2023
Abgelegt unter:
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Deutschland im wohl chaotischsten Jahr seiner bisherigen Geschichte: „Deutschland 1923 – Das Jahr am Abgrund“ – als die noch blutjunge 1. deutsche Demokratie trotz widrigster Umstände ihre erste große Krise meisterte.

Um auch für die Gegenwart zu lernen, lädt das Jahr 2023 wiederum ein zur Rückschau in die Vergangenheit. Dabei steht aktuell das für die noch junge Weimarer Republik wahrlich desaströse Jahr 1923 im besonderen Fokus der Buchneuerscheinungen. Dafür mitverantwortlich ist die sich seit etwa der Jahrtausendwende verstärkt durchsetzende Bereitschaft, die zuvor angesichts ihres Scheiterns eher zu geringschätzig in ihrer Bedeutung eingestufte Geschichte der ersten Demokratie auf deutschem Boden zu revidieren. Es wird dieser keineswegs gerecht, sie bloß als eine größere Fußnote abzustempeln, aber ebenso wenig, in ihr nur ein durch den Versailler Vertrag und den Hitlerputsch geradezu zwangsläufig vorgeprägtes Zwischenspiel zur NS-Zeit und dem 2. Weltkrieg zu sehen.

Die deutschen Demokraten von 1918 hatten in jedem Fall nicht nur eine vielfach schwierigere und zugleich eindeutig undankbarere Aufgabe zu bewältigen als ihre zweifellos ebenfalls hoch verdienten Nachfolger im Jahr 1948, wo nicht nur das Ausmaß der totalen Niederlage für praktisch jeden Deutschen tagtäglich unübersehbar war. Im nur auf den ersten Blick vom Krieg unversehrt gebliebenen Deutschland jener Tage erinnerten daran insbesondere die das Straßenbild bestimmenden Heerscharen bettelnder Kriegsversehrter. Die Demokraten von Weimar waren durch eine von oben verordnete Revolution in die Verantwortung genommen worden. Sie mussten nicht nur eine völlig ungewohnte neue Staatsform mit Leben erfüllen, sondern waren zuvor gezwungen, nicht nur einen Waffenstillstand überhaupt erst herbeizuführen. Im Juni 1919 mussten sie dann auch noch einen sehr harten Friedensschluss akzeptieren, um für das nur äußerlich unzerstört gebliebene, aber ansonsten total ausgezehrte Deutsche Reich noch Schlimmeres zu verhindern. Und damit nicht genug, wurde die frisch geborene deutsche Republik in den folgenden Wochen und Monaten auch noch durch revolutionäre Unruhen (Stichwort Räterepubliken) auf der einen und Putschversuche von Teilen der Reichswehr (Kapp-Putsch) auf der anderen Seite schwer erschüttert. Dass es bei einer Nichtunterzeichnung des Versailler Friedensvertrages durchaus noch ganz erheblich schlimmer für Deutschland hätte kommen können, ist durch jüngere Forschungserkenntnisse eindeutig belegbar.

Aus der Besetzung linksrheinischen Gebiets im Dezember 1918 durch Franzosen und Belgier wurde zu Beginn des Jahres 1923 der wesentlich stärker im kollektiven Bewusstsein verankerte und insbesondere von Rechts zum Fanal des nationalen Widerstands hochstilisierte, in der Realität aber praktisch aussichtslose „Ruhrkampf“ mit dem Volker Ullrich seine Betrachtung des Krisenjahres 1923  eröffnet.

Volker Ullrich (*1943) ist Publizist und Historiker. Von 1990 bis 2009 leitete er das Ressort „Politisches Buch“ bei „Die Zeit“. Im Jahr 2008 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universtät Jena für seine außerordentlichen Verdienste um die Geschichtswissenschaft, welche er durch seine besonders elegant lesbar aufbereiteten Publikationen auch bei einer breiten Öffentlichkeit stärker ins Bewusstsein gerückt hat.  Sein jüngstes Buch widmet sich nun der Situation in Deutschland im Jahr 1923. Mit diesem werden insbesondere der so genannte Ruhrkampf, der Hitlerputsch und die Hyperinflation verbunden. Aber wie es Ullrichs Publikation zugleich so faszinierend wie eindringlich zeigt, war alles noch deutlich vielschichtiger. Dabei ist es dem Autor überzeugend gelungen, das hochkomplexe Knäuel sich zum Großteil überlagernder Ereignisse und Krisenphänomene gekonnt zu entwirren und diese für den Leser unter thematischen Gesichtspunkten neu zusammengefasst schlüssig aufzubereiten, z.B. „Ruhrbesetzung und Ruhrkampf“, „Von der Inflation zur Hyperinflation“ oder „Der Ruf nach der Diktatur“. Das Essentielle daraus wird dicht am Stand aktueller Forschung derart gut strukturiert und übersichtlich präsentiert, dass ein höchst lebendiges und faszinierendes zeitgeschichtliches Panorama resultiert, in Form einer äußerst flüssig lesbaren und zugleich ungemein spannenden Lektüre. Wer erst einmal damit anfängt, der gerät fix in den Bann der Thematik und will das Buch nurmehr kurzzeitig aus der Hand legen, bevor er es ausgelesen hat.

Eingestreut in die Fülle der Fakten lässt der Autor auch wichtige Zeitzeugen zu Wort kommen, was die Aneinanderreihung der Ereignisse auflockert und die Lesefreude erhöht. So zitiert er u.a. mehrfach den multikulturell erzogenen, sowohl in Frankreich als auch in Großbritannien und Deutschland heimischen Harry Graf Kessler (1868 –1937). Dieser war einer der wenigen, die aus den Reihen der alten Eliten stammend, sich entschieden dem Neuen, der Republik verschrieben hatten. Kessler war nicht nur ein aufgeschlossener Kulturmanager und Kunstmäzen, sondern einer der durch seine außergewöhnlich scharfsinnigen, die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse porträtierenden Tagebucheinträge zum einzigartigen Chronist seiner Epoche geworden ist.

Dass der Norden Frankreichs und auch Teile Belgiens regional gewaltige Zerstörungen durch die Kampfhandlungen erlitten hatten, wurde seinerzeit im Deutschen Reich kaum entsprechend realisiert. Harry Graf Kessler, der Nordfrankreich im Jahr 1923 bereiste, gibt dazu erschütterndes Zeugnis ab vom, knapp fünf Jahre nach dem Waffenstillstand immer noch desolaten Zustand der zum Teil geradezu in Mondlandschaften verwandelten Regionen, wo von einem systematischen Wiederaufbau kaum die Rede sein konnte. Selbst im als Sieger geltenden Frankreich blieb eben die finanzpolitische Gesamtsituation in der Nachkriegszeit äußerst angespannt, wie allerdings auch in praktisch sämtlichen übrigen europäischen Staaten. Dass sich sämtliche Siegermächte im Kriegsverlauf bei den USA hoch verschuldet hatten, war dabei ein zusätzlich lähmendes Faktum.

In der vielschichtigen Mixtur des Dargestellten findet sich auch so manches Ereignis oder auch Feststellung, die bislang wenig geläufig ist, etwa dass es in Bayern in den Tagen nach dem Hitlerputsch vom 9. November auch von der Studentenschaft entscheidend getragene groß angelegte Demonstrationen für die Putschisten gab, aber auch dass Sachsen, welches heutzutage eher für rechte Schlagzeilen sorgt, seinerzeit ausgesprochen links orientiert war. Dazu gehören ebenfalls der als „Deutscher Oktober“, nach dem Vorbild der Oktoberrevolution 1917 benannte kommunistische Umsturzversuch oder  Konrad Adenauers Projekt einer westdeutschen Republik im Rheinland und die von den französischen Besatzern unterschwellig unterstützten separatistischen Unruhen im Rheinland und der Pfalz. In ganz besonderem Maße gilt dies aber wohl für das ansonsten kaum erwähnte Berliner Judenpogrom, wo am 5. und 6. November 1923 überwiegend jugendliche Berliner, aufgeputscht durch Fake-News, plündernd und prügelnd durch das hauptsächlich von orthodoxen jüdischen Einwanderern bewohnte Scheunenviertel zogen. Bemerkenswert zum Hitlerputsch ist aber auch Ullrichs Feststellung „Bayern entwickelte sich in den frühen 1920er Jahren zur reaktionären Ordnungszelle und Heimstätte von Nationalisten und völkischen Rechten aus dem ganzen Reich.“ Die selbst noch in den Jahrzenten nach 1945 sich immer wieder aufdrängende Frage, warum gerade der deutsche Süden, insbesondere der Freistaat Bayern, bis heute immer noch eine besondere Heimstatt für betont rechtes Gedankengut ist, wäre gar eine eigene Untersuchung wert.

Die sich aus den hohen zu erbringenden Reparationsleistungen ergebenden Schwierigkeiten führten 1923 in Deutschland dann letztlich zu einer Hyperinflation, die derart groteske Züge annahm, dass man die daraus für den Alltag resultierenden Konsequenzen heutzutage nurmehr schwierig nachvollziehen kann. Die damit einhergehende Kapitalvernichtung gigantischen Ausmaßes führte zu dramatischen Wohlstandsverlusten und einer Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, so dass das Inflationstrauma bis heute tief im Bewusstsein der Deutschen verankert blieb.

Wie Volker Ullrichs Buch eindrucksvoll verdeutlicht, war die Wende zum Besseren, die Stabilisierung der Währung, durch Einführung der Rentenmark, nicht allein das Ergebnis kluger deutscher Politik. Diese wurde  nämlich auch dadurch erst möglich, dass den Amerikanern die damals unübersehbar dramatischen Turbulenzen im destabilisierten deutschen Reich zunehmend Sorgen für das übrige Europa und damit die Weltwirtschaft bereiteten. Die US-Kriegsbilanz von 160.000 Toten und 230.000 Verletzten im Verbund mit den insgesamt eher enttäuschenden Friedensregelungen hatten die amerikanische Bevölkerung sehr ernüchtert, und das begründete den ab 1921 von den USA eingeschlagenen strikten Neutralitäts- und Nichteinmischungskurs (Isolationismus). Nun aber begannen die USA, sich wieder verstärkt aktiv auf dem „alten Kontinent“ zu engagieren. Initiativen wie der schließlich von Deutschland akzeptierte, Dawes-Plan zur Reparationsregelung waren also nicht etwa eine komplett uneigennützige Unterstützungsmaßnahme, sondern vielmehr dadurch motiviert, durch eine Stabilisierung Deutschlands und damit letztlich auch der gesamten europäischen Verhältnisse zugleich eigene wirtschaftliche Interessen zu bedienen. Das macht aber ebenfalls deutlich, dass die wirtschaftliche Verflechtung der alten und neuen Welt nicht, wie vielfach angenommen, erst nach 1945 in bedeutendem Umfang eingesetzt hat, sondern etwa die USA mit dem Deutschen Reich bereits vor dem 1. Weltkrieg gute Geschäfte gemacht hatten. Und dasselbe gilt auch für die Briten, welche ihrerseits auf die zuerst eher unnachgiebigen Franzosen Druck ausgeübt haben. Die Annahme der Reparationsregelung und die damit verbundenen umfangreich gewährten US-$-Kredite, gestatteten es der Weimarer Republik dank aufgehender „Dollar-Sonne“ ihre bis zum US-Börsenkrach im Herbst 1929 andauernde stabilste Phase einzuleiten.

Der Geschichte der Kultur, die zur desolaten Politik ein eindrucksvolles, von Aufbruch und ungeheurer Kreativität bestimmtes Pendant bildet ist ein eigenes Kapitel gewidmet: „Kultur im Schatten der Krise“. So wird die in der Weltgeschichte häufig in Krisenzeiten besonders ausgeprägt zu beobachtende kulturelle Blüte gut herausgearbeitet und dabei im Lesefluss zugleich für Kontrast mit Entspannungsfaktor gesorgt.

Wie Volker Ullrich am Schluss ausführt hätte womöglich auch die auf den Börsenkrach von 1929 folgende noch größere zweite Krise der Republik gemeistert werden können. Mit fähigen Politikern wie Gustav Stresemann († 3. Oktober 1929) und nicht zuletzt einem unerschütterlichen Demokraten wie Friedrich Ebert († 28. Februar 1925) als Reichspräsident wäre vielleicht doch alles komplett anders ausgegangen. Die hier vertretene These des greisen Reichspräsidenten Hindenburg als erzreaktionärem Stachel im Fleisch der Republik und nachhaltigem Wegbereiter des NS-Unheils erscheint in Volker Ullrichs vorzüglicher Veröffentlichung sehr plausibel.

Um die Veröffentlichung einem möglichst breiten Publikum nahezubringen ist der Schreibstil essayistisch gehalten, wobei ein 60 seitiger „Anmerkungs-Apparat“ die Wissenschaftlichkeit gewährleistet. Wer noch tiefer in die Materie einsteigen will, wird in „Quellen und Literatur“ fündig. Hinzu kommt noch ein abschließendes Personenregister.

 

An Interessierte und neugierig gewordene wendet sich der nachfolgende

Anhang zur Vorgeschichte seit der Schlussphase des 1. Weltkriegs

Von Seiten der Generalität, wurde die bereits zuvor aussichtslos gewordene Lage – Schwarzer Tag an der Westfront im August 1918, wo die Alliierten an nur einem Tag etwa 17.000 Gefangene machten etc. –  erst ab Ende September nicht mehr beschönigt. Das Oberkommando drängte nun massiv darauf beim amerikanischen Präsidenten Wilson um einen Waffenstillstand zu bitten und einen Frieden auf der Grundlage seines 14 Punkte umfassenden Vorschlages vom Januar 1918 auszuhandeln. Was folgte waren der Waffenstillstand vom 11. November und die Versailler Friedensverhandlungen von 1919.

Bemerkenswert ist das kühne, zukunftweisende des Wilsonschen Gesamtkonzepts als eine eben nicht nur europäische, sondern vielmehr globale Ordnungsvorstellung inklusive einer komplett neuartigen zwischenstaatlichen Institution zur internationalen Friedenssicherung, dem UN-Vorläufer Völkerbund. Interessanterweise war damals das im Zentrum stehende Recht auf nationale Selbstbestimmung der Völker nicht wirklich eine amerikanische Erfindung. Dieses war nämlich bereits vor dem Krieg Teil der systematischen und aggressiven Politik des Deutschen Reiches gewesen und ist im Sinne einer „revolutionären Infektion“ zur politischen Destabilisierung kolonialer Gebiete seiner Konkurrenten genutzt worden (Herfried Münkler).

Bei einer, wie bisher gewohnt, auf Deutschland fokussierenden Betrachtung wird aber schnell übersehen welch gewaltige Zäsur stattgefunden hatte: Vier Großreiche waren untergegangen und infolge der ebenfalls mit untergangenen „Alten Ordnung“ war nichts mehr so  wie zuvor. Das Deutsche Reich war das einzige Staatgebilde der besiegten Mächte bei dem noch etwas zu holen war. Entsprechend hielten sich die Sieger wegen der Reparationen auch an die Deutschen. Nur in Mitteleuropa schwiegen die Waffen, aber vor allem in Ostmittel- und Südosteuropa, etwa in den Bruchstücken des zusammengebrochenen Osmanischen Reiches, ging das Sterben noch bis 1923 millionenfach weiter.

In Zentraleuropa hingegen wollte der „Krieg in den Köpfen“ (Gerd Krumeich) nicht enden. Infolge einer Welle massivster Propaganda mit bis zum „Kreuzzug“ hoch stilisierten Zielen und Ideologien, einhergehend mit extremer Verteufelung des Gegners, war in allen beteiligten Nationen die Stimmung derart aufgeheizt, dass die Erwartungen an einen „gerechten und maßvollen Frieden“ kaum realisierbar waren. Hinzu kamen die immensen militärischen wie zivilen Verluste.

Wie der Politologe Herfield Münkler feststellt, gab es „DIE Siegermächte“ nicht wirklich. Dafür lagen die Einzelinteressen der ehemaligen Verbündeten viel zu weit auseinander. Insbesondere Frankreich, wo noch die Schmach von 1870/71 nachwirkte, war verständlicherweise darauf aus, die Deutschen nicht bloß durch hohe Reparationsleistungen, sondern auch durch Gebietsverluste – etwa eine dauerhafte Abtrennung der linksrheinischen Gebiete – nachhaltig zu schwächen. Aber auch zwischen England und Frankreich gab es alte Feindschaften, welche während des Krieges auch in Form von Massenschlägereien hinter der Front ausgetragen worden sind.

Der US-Präsident wollte für die Friedensverhandlungen ursprünglich auf neutralen Boden, nach Genf, gehen. Paris als Tagungsort (mit Tagungssprache ausschließlich Französisch) war klar ein Zugeständnis an Frankreich und zugleich eine der französischen Demütigungen an die Adresse der Deutschen, eine Revanche für den Frieden zu Frankfurt von 1871. Deren größte war aber wohl die Tatsache, dass mit den Unterlegenen eben nicht verhandelt, sondern nur über sie verhandelt worden ist und die Friedensbedingungen weitgehend einem reinen Diktat entsprachen. Der US-Präsident verweigerte sich standhaft einer dauerhaften Abtretung oder Besetzung linksrheinischer Gebiete und auch die Verhinderung einiger weiterer Verschärfungen im Vertrag geht auf sein Konto, was man ihm unbedingt als weitsichtige, kluge Handlungen anrechnen muss. Wilson, der durchaus sendungsbewusst und auch durch seine physische Präsenz dem Alten Europa nach dem globalen Krieg einen kühnen Entwurf für eine globale Friedensordnung präsentiert hatte, war aber auch klar zu einschneidenden Kompromissen gezwungen, wollte er nicht riskieren, dass seine im Verhältnis immer noch relativ gemäßigten Verhandlungspartner auf insbesondere der britischen Seite (Frankreichs Premier Clemenceau war in besonderem Maße auf Rache eingestellt) ansonsten Gefahr liefen, gestürzt und durch derart radikal-nationalistische Kräfte ersetzt zu werden, mit denen ein Friedensschluss nach selbst deutlich abgeschwächten US-Vorstellungen völlig unmöglich gewesen wäre.

Dem zeitweilig heftig kritisierten US-Präsidenten wird, bei aller Unvollkommenheit seiner längst nicht völlig ausgereiften und auch nicht widerspruchfreien Vorschläge, das ehrliche Streben nach einem gerechten Frieden bescheinigt. Hier zumindest die Keimzelle für den späteren „Weltpolizisten USA“ zu erkennen, ist naheliegend. Bei den zu hoch gesteckten deutschen Erwartungen ist vieles Teil einer kollektiven Selbsttäuschung und reines Wunschdenken gewesen. Immerhin waren die USA seit 1917 selbst Kriegspartei und hatten militärisch ab Spätsommer 1918 einen zweifellos mitentscheidenden und auch verlustreichen Anteil daran, die Deutschen endgültig zurückzuschlagen. Hinzu kam dabei auf alliierter Seite ein nicht zu unterschätzender Vorteil, nämlich, dass bereits zuvor das Eintreffen amerikanischer Verbände die Moral der letztlich ähnlich wie ihre deutschen Gegner stark erschöpften britischen und französischen Soldaten erheblich gestärkt hatte.

Hierzu ein kurzer Rückblick: Nach dem am 3. März 1918 geschlossenen Separatfrieden von Brest-Litowsk konnte die Westfront zwar um rund eine Million Mann verstärk werden, aber dabei handelte es sich eben nicht um frische, unverbrauchte Truppen wie die in Frankreich seit dem Herbst 1917 in immer größerer Zahl anladenden Amerikaner. Im Rahmen einer propagandistisch als „letzter Hieb“ inszenierten Reihe von Offensivaktionen beginnend am 18. März verbuchten die Deutschen trotzdem zuerst nochmals recht große Erfolge und rückten (wie bereits 1914) wieder bis zur Marne vor, also erneut auf 40 bis 50 Kilometer an Paris heran. Infolge Überdehnung der Frontlinien war allerdings ein entscheidender Durchbruch nicht zu erreichen. Der alliierte Gegenschlag (Hunderttageoffensive) setzte die erschöpften Deutschen massiv unter Druck und löste bereits teilweise Panik aus  (s.o.). Die anfänglich noch geordneten Rückzüge schwächten weiter die Moral der in besonderem Maße ausgelaugten Deutschen und auch die spanische Grippe setzte ihnen zunehmend zu. So wird verständlich, dass die Kampfbereitschaft bei den Soldaten der Westfront bereits rund ein Vierteljahr, bevor die Kieler Matrosen revoltierten, sich zunehmend auflöste, weil auch sie nicht mehr verheizt werden wollten.

Nachdem sich im September auch die 1916/17 aufwändig als massive Verteidigungsstellung errichtete „Hindenburglinie (Siegfriedstellung)“ als nicht mehr zu halten erwies und Mitte Oktober vollständig durchbrochen war, stand die sich nun ständig rückwärts verschiebende deutsche Front endgültig kurz vor dem totalen Kollaps. Die Zahlen der Obersten Heeresleitung verdeutlichen das Desaster: von März bis einschließlich September 1918 hatte man insgesamt 1.344.300 Mann verloren. Reserven, um diese gewaltige Lücke auch nur im Ansatz zu schließen, waren nicht mehr vorhanden. Da war es kein Wunder, dass die Militärführung nun eiligst versuchte, ihr Total-Versagen zu verschleiern, und als Sündenböcke  die verhassten Demokraten ins Boot holte. Die letzten Kämpfe erfolgten bereits auf belgischem Boden. An der Antwerpen-Maas-Stellung hielten diese sogar noch bis wenige Minuten vor Inkrafttreten des Waffenstillstands von Compiègne am 11. November 1918 um 11.00 Uhr an.

Die über die wahre Lage komplett uninformierte deutsche Öffentlichkeit wurde von der damit verbundenen De-facto-Kapitulation vollkommen überrumpelt. Noch im August hatten die meisten fest an den Sieg geglaubt, darunter übrigens auch Gustav Stresemann, der, wie bei Volker Ullrich zu lesen, im Krisenjahr 1923 interessanterweise längst vom überzeugten Monarchisten zum Vernunftrepublikaner konvertiert war und sich als einer der tüchtigsten und prägendsten Politiker der Weimarer Republik erweisen sollte.

Dass zum Zeitpunkt des Waffenstillstandes kein fremder Soldat auf deutschem Boden stand, begünstigte die Legende einer nicht im Felde besiegten Armee, welcher von Seiten unverantwortlicher, feiger (demokratischer) Politiker ein Dolchstoß in den Rücken versetzt worden sei. Die im Artikel 231 des Versailler Vertrages Deutschland zugewiesene alleinige Kriegsschuld war für die Demokraten zweifellos eine weitere besonders schwere Bürde, in den eher verzweifelten Bemühungen, das natürlich fundamentaloppositionell eingestellte politische Lager der alten Eliten möglichst wenig zu verprellen und in die republikanische Ordnung einzubinden. Die im Dezember 1918 und damit noch vor dem Friedensschluss erfolgte Besetzung linksrheinischer Gebiete im Deutschen Reich durch Franzosen und Belgier brachte die Mehrheit der Deutschen zusätzlich in Rage.

Entsprechend hatten die deutschen Demokraten der ersten Stunde nicht nur einen besonders schweren Job, sie hatten in den Jahren 1919 bis 1924 auch noch einen hohen Blutzoll zu entrichten da zahlreiche politisch motivierte Morde, das öffentliche Leben erschütterten, darunter besonders prominent Finanzminister Matthias Erzberger (1875–1921) und Außenminister Walther Rathenau (1867–1922). Verantwortlich waren sowohl links- wie auch rechtsradikale Gruppierungen und ebenso Teile der Reichwehr, welche im ebenfalls chaotischen Umbruchsjahr 1919 die Räterepubliken niederschlugen und dabei besonders gnadenlos vorgingen.

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Originaltitel
Deutschland 1923 – Das Jahr am Abgrund

Erschienen
2022/09
Land
Deutschland
Seiten:
441 Seiten, Hardcover
Verlag:
Verlag C.H.Beck oHG
Kennung:
ISBN 978-3-406-79103-1

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