Continente perduto

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
4. September 2010
Abgelegt unter:
CD

Score

(4/6)

Angesichts der dem Freund klassischer italienischer Filmmusiken geläufigen, eher schlechten, häufiger sogar weitgehend desolaten Archivsituation erscheint es auf den ersten Blick kaum glaubhaft, dass in den dortigen Metropolen seinerzeit ebenfalls ein technisch durchaus am Puls der Zeit befindliches Kinoleben stattfand. Mit der Veröffentlichung der Filmmusik zum 1955er Kulturfilm Continente perduto (US-Titel The Lost Continent) • Der vergessene Kontinent präsentiert Alhambra dazu dem Filmmusikmarkt nun eine mittlere Sensation. Doch zuerst noch ein kleiner Ausflug in die Geschichte des Breitwandfilms, der auch derartigen Reisebeschreibungen zu einer neuen Blüte verhalf.

Das bis auf den heutigen Tag populäre Breitwandkino erhielt 1953 mit der Einführung des CinemaScope-Verfahrens den entscheidenden Schub. Zwar war in den USA bereits 1952 das gigantomanische, mit drei 35-mm-Projektoren für das Bild sowie einer separaten Maschine zur Abtastung des zugehörigen Sieben-Kanal-Magnettones arbeitende Cinerama an den Start gegangen. Dies war/ist im Panoramaeffekt und der vorzüglichen Bildqualität zwar überwältigend. Infolge seines exorbitanten Aufwandes und der damit verbundenen Kosten war es allerdings kaum zum flächendeckenden Einsatz geeignet. Nicht nur in Deutschland blieb Cinerama deswegen eine auf die Metropolen beschränkte Randerscheinung, die hierzulande übrigens erstmalig im Jahr 1958 mit Windjammer bestaunt werden konnte.

In Europa hingegen ging also CinemaScope zuerst allein an den Start, was in dieser Phase ausschließlich mit vierkanaligem Magnet-Stereoton einherging. Da viele Kinobesitzer neben dem Umbau auf breitere Leinwände nicht noch zusätzlich in den teuren Magnetton investieren wollten, kam Hollywood dem ab 1955 durch Kopien entgegen, die neben den Magnettonspuren noch eine Mono-Lichttonspur (Magoptical) enthielten. Dafür musste allerdings das Bildformat von ursprünglich 1 : 2,55 auf das heutzutage ausschließlich noch übliche 1 : 2,35 reduziert werden. Darüber hinaus trat ab 1954 vorübergehend ein zumindest interessantes Kuriosum auf den Plan: „Perspecta Stereophonic Sound“. Perspecta arbeitete mit einer speziell codierten Lichttonspur, die mit der üblicherweise vorhandenen Lichtton-Ausrüstung kompatibel war, also auch wie gewohnt vorgeführt werden konnte. Allerdings resultierte beim Perspecta-Verfahren kein echter Stereosound. Vielmehr wurde der einkanalige (Mono-)Lichtton mit Hilfe eines so genannten Integrators entsprechend dem Leinwandgeschehen, mit unterschiedlicher Lautstärke auf die drei Frontlautsprecher verteilt. Damit war es zwar unmöglich ein komplexeres akustisches Geschehen überzeugend abzubilden. Aber immerhin konnten spezielle Situationen der Filmhandlung (etwa ein in den Bahnhof einfahrender Zug) durch einen entsprechend „gerichteten“ Mono-Ton mit einem pseudo-stereophonen Raumeffekt versehen werden. Perspecta wurde übrigens in besonderem Maße von Paramount im Zusammenhang mit dem VistaVision-Breitwandprozess dieses Studios favorisiert. Im deutschen Sprachraum wurde das weniger durch seine Breite, sondern vielmehr mit vorzüglicher Auflösung – praktisch in 70-mm-Qualität – bei beträchtlich vergrößerter Bildhöhe brillierende Bild mit dem blumigen Slogan „VistaVision – Symbol der Vollendung“ beworben. Doch die Magoptical-Option lief dem, auf dem 20 Jahre alten und damit technisch zwangsläufig überholten Lichttonstandard beruhenden Perspecta-Verfahren rasch den Rang ab. Nachdem bereits 1957 die letzten US-Filme mit Perspecta-Lichtton auf den Markt kamen, war, zumindest in den USA, spätestens Ende der 50er das Buch bereits wieder geschlossen. Heutzutage gehört Perspecta zu den Verfahren, die völlig im Nebel der Kinogeschichte verschwunden sind. „Perspecta Stereophonic Sound“, bleibt ein reines Kuriosum, eine Art sehr unzulänglicher Vorläufer des analogen Dolby-Stereo-Verfahrens der 1970er, das insbesondere mit Star Wars seinen Siegeszug antrat.

Eine heutzutage ebenfalls völlig vergessene, eher obskure Theaterverfilmung einer antiken Komödie, ausgestattet mit besagtem Perspecta-Sound, markierte im April 1955 offenbar den Ausgangspunkt für die italienische Scope-Produktion: Giove in Doppiopetto. Kurz darauf, im Mai 1955, ging Continente perduto • Der vergessene Kontinent an den Start, ausgestattet mit dem überlegenen Stereo-Magnetton. In Der vergessene Kontinent sind es nicht irgendwelche Schauspieler, vielmehr ist die Natur der Star. Hier handelt es sich nämlich um einen abendfüllenden, also nicht für das Vorprogramm produzierten Kultur- bzw. Dokumentarfilm, der sein Publikum mit auf eine Reise in die exotische Insel-Welt des malaiischen Archipels nimmt. In der Eiszeit, bei rund 100 Meter niedrigerem Meeresspiegel, bildete die heute aus tausenden großen und kleinen Eilanden bestehende Inselwelt Indonesiens, Malaysias und der Philippinen teilweise eine Landbrücke zwischen Hinterindien und Australien. Darauf nimmt der Filmtitel Bezug.

Freilich fokussiert Continente perduto wie auch die übrigen jener „Kulturfilme“ auf die Schokoladenseite der betreffenden Regionen und zeigt in Teilen auch inszenierte „Dokumentarbilder“. Allerdings, abseits einer beliebten 50er-Jahre-Nierentisch-Kitsch-Idylle muss man bedenken, dass es bereits damals, ebenfalls in CinemaScope und Farbe, nicht nur derartige, zweifellos schön anzuschauende, aber eher idealisierte Reisepostkartenidylls zu sehen gab. Dafür stehen z. B. die eher nüchtern das alltägliche Leben der kleinen Leute auf Sizilien, Sardinien und Kalabrien reflektierenden Dokumentarkurzfilme Vittorio De Setas, z. B. Parabola d’oro (1955) über die Getreideernte auf Sizilien – vermutlich ausgestattet mit Perspecta-Ton.

Zu den überwiegend verträumt romantischen, häufig in üppige Ferrania-Color-Farben getauchten Bildern der Kameramänner Gianni Raffaldi und Franco Bernetti (Regie: Leonardo Bonzi), versehen mit einem erhaben klingenden Kommentar, ist Angelo Francesco Lavagninos Filmmusik ein sehr beachtlicher, hörenswerter musikalischer Kommentar. Neben recht groß besetztem Orchester inkl. Chor reflektiert die Musik das Exotische der Bilder durch eine hörbar umfangreiche Sektion, bestückt mit Instrumenten der Region. Lavagninos Komposition zeigt sich hier auf vergleichbar gediegenem Niveau, wie seine damaligen Kollegen aus Hollywood – etwa Alfred Newman, der ja bereits 1944 für The Keys of the Kingdom einen über die rein klischeehafte Exotik etwa eines Lehar’schen „Land des Lächelns“ merklich hinausgehenden musikalischen Ansatz hören ließ. Die Filmmusik wurde übrigens bereits seinerzeit in Cannes im „Sonderpreis der Jury“ lobend erwähnt.

Das alte MGM-LP-Album präsentierte davon nur rund 28 Minuten, zwangsläufig in Mono, außerdem in Teilen mit Geräuscheffekten durchsetzt. Die mit ihren knapp 60 Minuten demgegenüber doppelt ergiebige Alhambra-Album-Präsentation der kompletten Filmmusik zeigt, dass das im Score vertretene melodische Element nicht in vergleichbarem Maße als alles miteinander verbindender Kitt fungiert, wie im ebenfalls auf Alhambra erschienenen L’impero del sole (Empire of the Sun) • Auf der Spur der weißen Götter (1956). Hier „fehlt“ ein wenig ein Pendant zur im vorstehend genannten Score in Varianten häufig erscheinenden „Canzone de Lima“. Das auch in Continente Perduto durchaus vorhandene Melodische, z. B. in „Scarecrows Harvest“ oder „Navigation 2“, vermag sich dagegen im Bewusstsein des Hörers nicht unmittelbar derart durchzusetzen. Demgegenüber treten die mitunter recht ausgedehnten, betont atmosphärischen, insbesondere mit exotischem Schlagwerk versehenen Passagen, z. B. in „Volcanos/The House of Gods“ oder in „Celebration For Good Harvests“, stärker in den Vordergrund. Das dürfte das Anfreunden mit diesem Lavagnino-Score für machen Hörer anfänglich zwar etwas schwieriger gestalten. Aber etwas stetiger Tropfen höhlt (auch hier) rasch den Stein eines eventuellen Anstoßes, lässt die Musik anschließend mit der vorstehend Genannten annähernd gleichwertig erscheinen.

Hinzu kommt noch der höchst erfreuliche Aspekt des Alhambra-Albums in Form des auch qualitativ überraschend guten Stereosounds. Wohl kaum jemand hatte noch damit gerechnet, dass überhaupt etwas aus der frühen Magnet-Stereotonära Italiens überlebt hat. Unterm Strich ist der mit nur leichtem Schleier versehene Klang mit dem der von Varèse, FSM oder Intrada in gutem Erhaltungszustand aus dem Dornröschenschlaf erweckten Fox-Scores derselben Ära vergleichbar. Es ist ein keinesfalls aufdringliches analoges Rauschen vernehmbar, doch das Stereo-Klangbild ist im Übrigen recht präsent und klar. Dabei muss man im vorliegenden Fall zusätzlich berücksichtigen, dass es sich hierbei nicht um einen optimal gelagerten Originalmaster handelt, sondern um eine Kopie höherer Generation, die dazu im Privatarchiv des Komponisten überdauert hat. Auffällig sind die betonten rechts/links-Effekte wie auch vereinzelt ein abmischungstechnisch erzeugtes Wandern bestimmter Instrumentengruppen zwischen den Kanälen (in „Celebration For Good Harvests“). Das ist ein Indiz für die offenbar besonders ausgeprägte Neigung, mit dem Raumeffekt zu experimentieren. Das informative und außerdem ansprechend bebilderte Begleitheft rundet auch in diesem Fall den guten Gesamteindruck der Produktion ab.

Wertungsmäßig muss ich dieses Mal allerdings mit Zuschlägen für den Repertoirewert etc. zurückhaltender sein, um, trotz aller Sympathie für die Musik des Komponisten und derartige Veröffentlichungen im Allgemeinen, ein letztlich verzerrtes Bild zu vermeiden. Fette vier Sterne halte ich für das Album in jedem Fall für gerechtfertigt.

Fazit: Ein weiteres klingendes Denkmal für die zum Teil üppige italienische Kinosinfonik der Fifties setzt Alhambra mit dem liebevoll produzierten Album zu Angelo Francesco Lavagninos Continente Perduto. Dass der Tonträger diese weitere beachtliche Dokumentarfilmmusik Lavagninos darüber hinaus in echtem Stereo präsentiert, erhöht noch den schon so ausgeprägten Repertoirewert. Wer einen Draht zu vergleichbar exotisch angelegten Partituren aus dem Hollywood jener Tage – etwa Alfred Newmans The Keys of the Kingdom (1944) oder Love Is a Many-Splendored Thing (1955) besitzt, der macht auch bei Continente Perduto nichts verkehrt.

Weiterführender LINK zum Kino der Fünfziger: „PLASTISCHER FILM – Die Flachen und 3 D“, in DER SPIEGEL, Heft 9, 25.2.1953: www.spiegel.de/spiegel/print/d-25655580.html

Erschienen:
2010
Gesamtspielzeit:
59:09 Minuten
Sampler:
Alhambra
Kennung:
A 8994

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