L’impero del sole

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
28. Februar 2009
Abgelegt unter:
CD

Score

(5/6)

Die in den Kinos in den 1950er Jahren gezeigten Dokumentarfilme waren in vielem Wegbereiter des modernen Massentourismus unserer Tage. Die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges langsam auch bei breiteren Bevölkerungsschichten spürbar werdende wirtschaftliche Erholung nährte im Zusammenwirken mit den im Kino zu sehenden Schönheiten ferner exotischer Schauplätze die Lust auf Entdeckung fremder, zuvor kaum erreichbarer Welten. Präsentiert wurde Derartiges natürlich möglichst unter Nutzung der technischen Innovationen jener Zeit: dem damals noch nicht alltäglichen Farbfilm und den Breitwandverfahren, also besonders 35mm-CinemaScope oder gar 70mm. Hinzu kam bei Letzteren ein schon recht üppiger Magnet-Stereo-Raumton, der den Besuch der abendfüllenden Dokumentarstreifen zur auch akustisch beeindruckenden und anregenden Reise in ferne Gefilde werden ließ.

All diese Filme sind natürlich heutzutage in gewissem Sinne antiquiert. Sie ermöglichen dem Betrachter aber eine nicht nur nostalgische, sondern zugleich interessante Zeitreise: Schaut doch so manche Stätte heute erheblich anders aus als zur Zeit der Entstehung der betreffenden Filmproduktionen.

Gewissermaßen den Anfang der Deluxe-Kinodokus setzte der im Projektionsaufwand extravagante This is Cinerama (1951) — drei simultan gesteuerte 35-mm-Film-Projektoren plus eine vierte Maschine zum Abtasten des sieben-kanaligen Stereo-Magnettons. Wie seine Nachfolger kommt auch dieser Streifen ohne hohe Stargagen aus. Präsentiert werden alle unverzichtbaren Stationen für den pauschal reisenden Europa-Hopper. Der Zweiteiler Traumstraße der Welt (1958/1961, Musik: Winfried Zillig) ist in diesem Zusammenhang sogar ein beachtliches deutsches CinemaScope-Projekt von Hans Dominik, das den Zuschauer auf eine abwechslungsreiche und farbenprächtige Reise über rund 30.000 km, entlang der „Panamericana“ von Alaska bis ins südliche Mexiko mitnimmt. Windjammer (1959, Musik: Morton Gould), zeigt die Reise eines Segelschulschiffs von Oslo nach New York und beeindruckte sein Publikum durch die Bildgewalt des an Cinerama anknüpfenden Cinemiracle-Verfahrens. Flying Clipper — Traumreise unter weißen Segeln (1962, Musik: Riz Ortolani), produziert in „Superpanorama MCS 70“, tritt ziemlich punktgenau in diese Fußstapfen — und ist übrigens erst kürzlich, auf der 59. Berlinale im Rahmen der Retrospektive in neuer Kopie gezeigt worden. Hier begleitete eine wiederum in Deutschland entwickelte 70mm-Kamera ebenfalls ein nordisches Segelschulschiff auf seiner Reise durch das Mittelmeer.

L’impero del sole (Empire of the Sun) • Auf der Spur der weißen Götter (1956) zählt zu den italienischen Ausflügen ins Reich der in 35-mm-Scope gefilmten Expeditionen. Der Streifen (ent-)führt seine Zuschauer ins südamerikanische Peru, begleitet von einer üppig klangschwelgerischen Filmmusik von Angelo Francesco Lavagnino (1909-1987).

Angelo Francesco Lavagnino ist hierzulande noch deutlich weniger geläufig als sein Landsmann und Kollege, der bis dato noch immer nur bedingt „entdeckte“ Nino Rota (1911-1979). Wie Rota besaß auch Lavagnino eine erstklassige klassische Musikausbildung — absolviert am Mailänder Konservatorium „Giuseppe Verdi“. Mitte der 1930er Jahre begann er für Oper und Konzert zu komponieren. Mitte der 1940er startete sein Engagement beim Film, wobei Lavagnino geraume Zeit als Ko-Komponist ohne Angabe in den Credits tätig war. Mit ca. 200 offiziellen Filmkompositionen ab 1948 bis etwa Mitte der 1970er darf man ihn als äußerst produktiv und für Italien als in besonderem Maße bedeutend ansehen. Die wichtigste Rolle spielten seine musikalischen Beiträge im italienischen Film der 50er bis in die erste Hälfte der 60er Jahre. Neben weiteren Dokumentarfilmvertonungen — Das grüne Geheimnis (1953), Der verlorene Kontinent (1954), Das letzte Paradies (1957) — finden sich in der Serie der oftmals eher drittklassigen italienischen Sandalenfilmproduktionen einige beachtliche Beiträge wie Die letzten Tage von Pompeji (1959) oder Pontius Pilatus — Statthalter des Grauens (1961). Daneben ist auch seine eigenwillige archaisierende Vertonung zu Orson Welles’ Falstaff (1965) besonders erwähnenswert.

Von seinen insgesamt recht vielfältigen Filmmusiken ist besonders außerhalb Italiens nur eine Handvoll auf Tonträger, in der Regel als Single oder EP (eine Single mit verlängerter Spielzeit), nur in Ausnahmefällen als LP herausgebracht worden. Einer der unter Sammlern geläufigsten Lavagnino-LP-Titel der frühen Jahre ist die Musik zur US-italienischen Koproduktion, dem Kostümfilm Henry Kosters The Naked Maja • Die nackte Maja (1958).

Durch das Alhambra-Label hat die Lavagnino-Diskografie jetzt wertvollen Zuwachs bekommen: Nachdem bislang nur rund 20 Minuten von L’impero del sole auf einer Doppel-EP zugänglich waren, enthält das vorliegende CD-Album mit rund 73 Minuten jetzt erfreulicherweise sogar Lavagninos vollständigen Score. Die Archivsituation in Italien ist ja traditionell leider eher bescheiden bis trostlos. In diesem Zusammenhang ist der hier anzutreffende, durchweg sehr klare und volle Mono-Sound von überraschend guter Qualität. Natürlich wäre Stereo schöner gewesen, aber mit dem Vorliegenden kann man sehr gut leben. Man bekommt durchaus einen überzeugenden Eindruck vom Charme, den die Musik bei optimaler Präsentation seinerzeit vermittelt haben mag. Wie aus dem Begleitheft zu entnehmen, stammt das Material aus der Privatkollektion des Komponisten, die originalen Stereomaster dürften längst den Weg alles Irdischen gegangen sein. Obendrauf gibt’s noch als Bonus einen kleinen Lavagnino-TV-Interview-Clip aus dem Jahr 1976, der allerdings wiederum so topfig klingt wie vieles andere aus dem Italien der 50er und frühen 60er. Dafür entschädigt Lavagninos klangschwelgerische, mit raffinierter klanglicher Exotik durchsetzte Kinosinfonik nicht nur durch spontan einprägsame Themen, sondern auch durch ihren recht satten Klang: Keine Angst vor Mono ist hier angesagt.

Das auch vom Komponisten ein paar Mal höchstpersönlich (in den Tracks 1 und 4) gepfiffene liedhafte Hauptthema „Canzone di Lima“ sowie das sinnliche Liebesthema für das in einer Rahmenhandlung präsentierte Liebespaar Juana und Pedro bilden den roten Faden dieser Filmmusik. In abwechslungsreichen Variationen und vielseitiger Instrumentierung immer wieder erscheinend bilden sie eine Klammer, welche die Musik über praktisch die gesamte Laufzeit gut zusammenhält. Hinzu kommt eine nicht oberflächliche, sondern auf eingehenden Studien beruhende Einbindung von klanglicher Exotik und damit ein sehr überzeugendes Flair, das mit den im Film zusätzlich anzutreffenden originalen folkloristischen Musikeinlagen gut harmoniert.

Mal vermittelt die Komposition romantische latinhafte Paradiesstimmung, dann wieder geht es eher temperamentvoll zur Sache. Darunter ist sowohl die „Canzone di Lima“ im Gewand eines traditionellen Walzers (Track 4), aber auch mal ein kleiner Ausflug in die Populär-Standards zeitgenössischer Unterhaltungs- und Tanzmusik vertreten, wie der Cha Cha Cha in Track 6. Derartiges und auch die reichlich vorhandenen Chorsätze verweisen im Sound besonders typisch auf die 1950er; wobei gerade die Chöre mitunter schon ein wenig süßlich sind, man also schon von zeittypischem Kitsch sprechen kann. Hinzu kommt Tonmalerisches im Sinne klassischer Kinosinfonik, vor allem in Form sanfter, romantisch und verträumt wirkender, impressionistisch gefärbter Meeresstimmungen. Aber wenn sich Pelikane und Kormorane ein Stelldichein geben, dann ist auch mal etwas cartoonhaftes „Mickey-Mousing“ gefällig.

Über die volle Laufzeit tritt der Score nur vereinzelt mal etwas auf der Stelle, nämlich in ohne Bildbezug etwas lang gezogen erscheinenden atmosphärischen Rhythmuspassagen. Der Gesamteindruck, den das Album hinterlässt, ist also sehr positiv. Alles in allem ist hier die sichere Handschrift eines tadellosen Sinfonikers alter Schule unüberhörbar, in einer Musik, die sich vor Vergleichbarem aus Hollywood gewiss nicht verstecken muss.

(Beim Editieren des Albumsschnitts ist eine Kleinigkeit schief gelaufen. Das vorletzte Stück läuft scheinbar länger als die angegeben 9:18 Minuten. Für die Musik passt das schon. Anschließend folgt jedoch noch bis 10:43, also über immerhin 1,5 Minuten Laufzeit Stille. Dafür sind vom mit 6:30 Minuten gelisteten Interviewschnipsel nur 2:47 übrig geblieben.)

Sehr lobenswert ist das mit immerhin 16 Seiten recht umfassende, sorgfältig ausgestattete Begleitheft. Stefan Schlegel vermittelt darin eingehendere Infos zum Komponisten in Form einer biografischen Skizze und ebenso lesenswerte Anmerkungen zum Film und der Filmmusik. Und neben dem gewiss nicht trockenen Lesestoff findet sich auch ansprechendes Bildmaterial zur Illustration. Das einzige Wermutströpfchen dabei: Alles zu Lesende gibt’s leider nur in Englisch. Die deutsche Version hat aus Kostengründen nicht den Weg ins Begleitheft gefunden. Der Part mit den Infos zu Film und Filmmusik findet sich immerhin auf der Internetseite von Alhambra Records.

Fazit: Kompositorisch ist die exotische, aber auch typisch auf die 50er-Jahre verweisende Filmmusik Auf der Spur der weißen Götter sehr gediegen gearbeitet. Dafür erscheinen „fette“ viereinhalb Sterne angemessen. Die sehr liebevolle Edition zusammen mit dem feinen Begleitheft, das auf dem Niveau der besseren Intrada-Ausgaben rangiert, und schließlich der hohe Repertoirewert dieser Veröffentlichung rechtfertigen im Sinne einer Albumwertung noch das Aufrunden auf volle fünf Sterne.

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Erschienen:
2008
Gesamtspielzeit:
77:35 Minuten
Sampler:
Alhambra
Kennung:
A 8972

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