Der Komponist Alex North (1910-1991) war Sohn wenig bemittelter russischer Eltern. Er erhielt ein Stipendium für die berühmte Juilliard-School in New York, wo er Komposition studierte. Die Depressions-Ära verstärkte die Finanznöte und daher suchte der junge North neben seinen Studien Verdienstmöglichkeiten als Techniker bei Western Union. Musikalisch entwickelte er sich durch die Bekanntschaft mit Aaron Copland (anfänglich) zum Spezialisten für moderne Ballett-Musiken. North nahm in dieser Zeit vielfältige Einflüsse der Jazz-Bands der Ära – z.B. der von Paul Whiteman und Coon Sanders – auf. In den späten 30ern erfolgten erste Fingerübungen in Sachen Filmkomposition für Dokumentarfilme und während des Krieges entstand im Auftrag des „Office of War Information“ die Musik für eine Vielzahl von Kurzfilmen. Nach dem Krieg erarbeitete er auch Schauspiel-Musiken, z.B. für Elia Kazans Inszenierung von Arthur Millers Bühnenstück „Der Tod des Handlungsreisenden“. Kazan war derart beeindruckt, dass er North mit nach Hollywood nahm als er A Streetcar named Desire • Endstation Sehnsucht (1951) verfilmen sollte. In dieser stark jazz-inspirierten Partitur wurde bereits deutlich, dass hier ein „Neuerer“ die filmmusikalische Bühne betreten hatte.
Zu den Markenzeichen der Film-Musik von North gehört es (neben dem für die dramatische Film-Vertonung nutzbar gemachten Jazz), mehr die inneren als die äußeren Aspekte einer Filmhandlung musikalisch zu verdeutlichen. Hierfür griff er zu sparsam eingesetzten Ausdrucksmitteln, wie dem Altflöten-Solo in seiner zweiten Musik für Hollywood, für die Film-Version von Death of a Salesman • Der Tod des Handlungsreisenden (1951). Besagtes ausdrucksstarkes Solo der Altflöte drückt in der realistisch eingefangenen Filmhandlung die Verzweiflung des (keinen Ausweg mehr sehenden) Handlungsreisenden Willy denn auch passender aus, als eine Musik, die sich an der klanglichen Üppigkeit des Golden Age orientiert hätte – Norths Arbeits-Stil weist hier auch Parallelen zum modernen Konzept Bernard Herrmanns auf (siehe hierzu auch The 7th Voyage of Sinbad).
Mitunter schockiert der Komponist den Hörer durch unerwartete, dabei hart und schroff klingende Klangkombinationen. So, indem er beispielsweise eine schöne Melodie durch harte Streicherakkorde oder scharfe Blech-Einsätze und Percussions stört, um nicht sichtbare Gefühlsreaktionen und auch Spannungen zwischen den Figuren zu verdeutlichen. Bei aller (modernen) Komplexität im Ausdruck, klar abseits eines auf puren, simplen Wohlklang ausgerichteten Main-Stream-Stils: North war nie ein abstrakter Neutöner, sondern jemand, der sein starkes melodisches Talent nicht verleugnete. Immer da, wo es die jeweilige Filmhandlung zulässt, blühen herrliche melodische Partien auf, gibt es eine moderne Form der Romantik zu hören.
Während seiner Laufbahn in Hollywood hat sich der Komponist zweimal für das Genre des Sandalen-Epos entschieden: Spartacus (1960) und Cleopatra (1963). Er blieb auch hier den bereits erläuterten kompositorischen Prinzipien treu.
Cleopatra ist – nicht allein in Sachen Ausstattung – ein Film der Superlative; dies gilt ebenso für die faszinierende rund zweieinhalb-stündige äußerst farbenprächtige Filmmusik. Nicht nur die Menge an Musik-Material besticht: Die in Harmonie und Ausführung komplexe, in Teilen recht modernistische Klangschöpfung stellt auch an die ausführenden Musiker außerordentlich hohe Anforderungen. Obwohl die Partitur nicht allein einen groß besetzten, sondern einen auch mit vielen ungewöhnlichen Instrumenten versehenen Klangkörper erfordert, ist ihre Faktur in weiten Teilen eher kammermusikalisch transparent und intim gehalten. Selbst in den pompösen, ausufernd breitorchestralen und komplexen Klangstrukturen der Fest- und Schlachtmusiken, gibt es Partien, die von einer geradezu faszinierenden Ökonomie im Ausdruck – bei 100-prozentiger Wirkung – geprägt sind.
Den stärker dissonanten Passagen steht Ruhiges und stärker Melodieorientiertes gegenüber: Kleopatras amourösen Beziehungen sind breit ausschwingende romantische Themen zugeordnet – wobei speziell das für „Antonius und Kleopatra“ unmittelbar Ohrwurm-Charakter besitzt und sehr bekannt geworden ist. Und von großer Zartheit und exotisch-intimer Eleganz sind dazu die Klänge, die der Ton-Schöpfer z.B. dem Film-Finale unterlegt hat – eine Art moderner „Liebestod“ im nicht mehr wagnerischen Sinne.
Der Score verdeutlicht aber auch, wie anders North mit Leitmotiven umgeht: traditionell werden sie personenbezogen eingesetzt, hier sind sie bestimmten Absichten und Handlungen der Figuren zugeordnet. So steht das bereits in der Ouvertüre erscheinende essentielle „Ehrgeiz-Motiv“ für Kleopatras (sämtliche Handlungen dominierende) Absicht der Erhaltung der eigenen Macht und Unversehrtheit ihres Landes Ägypten. Hier kommt der Hörer auch erstmalig mit der Northschen Klang-Vision der Antike in Berührung: die unter anderem verwendeten Mandolinen, Gitarren und Harfen verleihen der Musik ein verführerisches und zugleich archaisierend-mystisches Flair. Die Rücksichtslosigkeit der Königin des Nils, aber auch die ihrer Gegenspieler, kleidet North hingegen in scharfe Dissonanzen und ungewöhnlich kombinierte Klänge.
Wer von Miklos Rozsas Ben Hur kommend erwartungsvoll zu Cleopatra greift, kann bei den ersten Hördurchgängen durchaus enttäuscht sein, da ihm hier eine (fast) völlig andere Klangwelt begegnet. Alex North erzeugt (s)ein Feeling für die Antike und auch für Romantik, verstärkt mit den Mitteln des 20sten Jahrhunderts; Miklos Rozsa hingegen bleibt hier erheblich mehr dem ausgehenden 19ten Jahrhundert verpflichtet. Mancherlei Klangkombinationen und Effekte sind anfänglich äußerst ungewohnt und gewöhnungsbedürftig: Instrumente wie Saxophon oder Cembalo erscheinen auf den ersten (Hör)-Blick gar anachronistisch für die Musikausstattung eines Monumental-Films. Hier ist zweifellos eine gewisse (lohnende) Einhörarbeit zu leisten, die dem Hörer nach und nach eine ungewohnte pseudo-antike Klangwelt eröffnet, deren Flair sich jedoch vergleichbar überzeugend und auch gleichwertig erweist mit dem der Musik Miklos Rozsas in Ben Hur.
Miklos Rozsas Partitur zu Julius Cäsar (1953) steht Cleopatra im Konzept deutlich näher. In Julius Cäsar entschied sich Rozsa für eine deutlich modernere Vertonung, die den Film-Stoff musikalisch als modernes Drama mit historischen Figuren interpretiert. Der Komponist griff hier zu einer deutlich kühleren Musiksprache, die dabei überwiegend atmosphärisch gestaltet und auch erheblich stärker seinen Film-Noir-Vertonungen, denn seinen römischen Epen zugeneigt ist. Selbst da, wo er (nur ganz vereinzelt) auf seine gewohnten Klangschemata für den „römischen-Klang“ zurückgreift, wird das Drama aktiv gestaltet: Die Musik dient weniger zur klanglichen Visualisierung äußerer Pracht – so im Finale, wo der näherkommende „römische Marsch“ die (nicht gezeigte) Ankunft von Octavians Armee symbolisiert. (Anmerkungen zum „echt römischen Klang“ sind im Gladiator-Special zu finden.)
Das Restaurations-Team um Lukas Kendall (Herausgeber von Film-Score-Monthly) hat ganze Arbeit geleistet, um die Cleopatra-Musik zu neuem Leben zu erwecken. Das Resultat der 1962er Aufnahmesitzungen besteht nicht, wie vielleicht vermutet, nur aus einigen größeren Rollen bespielten Magnettonfilms, sondern aus einer Fülle von einzeln realisierten Teilen (Takes). Die Musik verteilt sich außerdem auf eine Vielzahl von separaten Ton-Spuren (Tracks); diese müssen sich aber nicht unbedingt sämtlich auf dem gleichen Magneton-Film-Streifen befinden.
Sämtliche Tracks eines Takes mussten vollständig neu abgemischt werden. Häufig waren exotische Instrumente und Schlagwerkgruppen noch zusätzlich separat aufgenommen worden. Diese mussten (nach exaktem Synchronisieren) mit den übrigen Tracks zum klingenden Ganzen erneut zusammengefügt werden. Ein wahres Puzzle-Spiel, das die Toningenieure trotz des Einsatzes modernster Digitaltechnik viel Mühe gekostet hat. So ist allein die knapp drei-minütige Overtüre aus 32 separaten Tracks zusammengefügt worden und der triumphale Einzug Kleopatras in Rom – auf der CD ein Einzel-Track – stammt aus insgesamt acht Takes.
Die umfangreichen Arbeiten haben sich mehr als gelohnt. Seit nunmehr rund 40 Jahren ist dem Filmmusik-Interessierten erstmals die originale und dazu vollständige Cleopatra-Musik überhaupt zugänglich!
Bei dem zum Film veröffentlichten LP-Album handelte es sich (wie häufig) um eine speziell für die Platte nachträglich eingespielte Fassung ausgewählter Teile der Filmmusik. Auch beim Cleopatra-LP-Album wurden Teile des Musik-Materials nicht nur umgestellt, sondern auch nachträglich bearbeitet, woraus mitunter deutliche bis eklatant hörbare Veränderungen und auch Verfälschungen gegenüber dem Original resultieren.
Auf dem vorliegenden Doppel-CD-Album ist z.B. Kleopatras Einzug in Rom erstmals vollständig und in richtiger Reihenfolge hörbar. Zu den imponierenden Momenten des Films zählen die, wenn das Bild zu einer Art antiken Wand-Malerei erstarrt und nach erfolgter Verwandlung (durch Überblenden) daraus erneut zum Leben erwacht: North hat diese Stellen in berückende Töne gefasst, die jetzt erstmalig abseits vom Film genossen werden können.
Der Klang der fast 40 Jahre alten Stereo-Aufnahmen ist sehr frisch, dazu transparent und räumlich. Kaum ins Gewicht fallen leichtes Bandrauschen und ganz vereinzelt hörbare geringfügige Störungen. Das 24-seitige Booklet ist für Varèse-Verhältnisse ungewöhnlich aufwändig und informativ gehalten – es entspricht etwa dem gewohnt guten Standard der Film-Score-Monthly-Editions. Auch hier wäre sicherlich noch etwas „mehr“ denkbar und wünschenswert gewesen. Seis drum: hier reicht es in jedem Fall für den wohlverdienten Spitzenplatz.
Fazit: Die neue Varèse-Doppel-CD mit der erstmalig nicht nur vollständigen, sondern auch von den Ton-Elementen der Original-Einspielungen abgenommenen Filmmusik zu Cleopatra überzeugt (fast) vollkommen. Endlich ist diese ungewöhnliche Filmmusik in einer technisch sorgfältig restaurierten Fassung vollständig zugänglich und damit auch für spätere Generationen gerettet worden. Das (insgesamt ordentliche) Booklet könnte man sich allerdings schon breiter und luxuriöser angelegt vorstellen: Hier wäre eine Ausstattung vergleichbar den Deluxe-Editionen des Rhino-Labels wünschenswert und angemessener gewesen. Aber auch in der vorliegenden Form vermag die Edition zu überzeugen; die (kleinen) Einwände gegenüber dem Booklet verblassen gegenüber der herrlichen Musik (rund 150 Minuten).
Sowohl die nachgespielte alte LP-Version als auch die (nur angeblich vollständige) Tsunami-CD (ein klangtechnisch bescheidener Mix aus Material der LP und Teilen der Original-Musik) schrumpfen neben dem jetzt auf Varèse erschienenen riesenhaften Original zu unscheinbaren Liliputanern, deren Zeit endgültig abgelaufen ist.
In der jetzt vorliegenden Form präsentiert sich die Musik zu Cleopatra nicht nur als eine der brillantesten epischen Filmmusiken von Alex North, sondern überhaupt des 20sten Jahrhunderts: eine Sternstunde der Filmmusik auf Tonträger!
Dieser Artikel ist Teil unseres großen Cleopatra-Specials.