36 Hours

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
20. Februar 2003
Abgelegt unter:
CD, Hören, Score

Score

(3/6)

Nach dem Roman von Roald Dahl inszenierte Regisseur (und zugleich Drehbuchautor) George Seaton 36 Hours • 36 Stunden (1964), eine recht spannende und fantasievolle Spionagegeschichte. Die Handlung spielt im Vorfeld der alliierten Invasion im Jahr 1944. Die Deutschen entführen in Portugal den alliierten Geheimdienst-Major Jefferson Pike (James Garner), um ihm Informationen über den bevorstehenden D-Day zu entlocken. Sie wollen Pike, der scheinbar in einem „amerikanischen Lazarett“ in Süddeutschland wieder zu sich kommt, glaubhaft machen, er leide an Amnesie und der Krieg sei bereits vorüber …

Dimitri Tiomkin (1899-1979), eine legendäre Komponisten-Figur des Golden Age, schuf zu diesem Filmgeschehen die musikalische Untermalung. 36 Hours entstand als drittletzte Musik, die der Komponist für Hollywood schuf. Tiomkin, der „Hitmacher“ unter den Golden-Age-Veteranen, ebnete mit dem berühmten Song aus dem Western High Noon • 12 Uhr mittags (1952) letztlich auch der Pop-Ära den Weg und damit ebenso für Komponisten-Nachwuchs wie Henry Mancini und ebenso den frühen „poppigen“ — damals noch Johnny, statt John — Williams. Aber auch Tiomkin, der in den frühen 60er Jahren mit der Vertonung der Bronston-Epics 55 Days at Peking, The Fall of the Roman Empire und Circus World (siehe DVD-Rezensionen) noch recht gut im Geschäft war, musste feststellen, dass die goldenen Tage Hollywoods vorüber waren, Komponisten seines Schlages zunehmend „aus der Mode“ kamen.

Für die eher intime Weltkrieg-II-Spionagestory 36 Stunden erarbeitete Tiomkin — dem häufiger vorgeworfen wurde, seine Musik sei zu laut und unsubtil — eine Partitur für ein recht kleines Ensemble, das im Tutti über 37 Spieler nicht hinausgeht, und der Hauptteil des Scores greift sogar nur auf 19 bis 27 Instrumentalisten zurück. Dass der Komponist ursprünglich eine Karriere als Klaviervirtuose anstrebte, spiegelt sich deutlich in seiner Kompositionsweise wider. In der Musik zu 36 Stunden spielt das Klavier sogar die tragende Rolle, agiert zumeist ähnlich wie in einem der Klavierkonzerte von Sergej Rachmaninoff.

Tiomkins oftmals starke melodische Inspiration zeigt sich in unvergesslichen Hauptthemen, wie denen aus High Noon (1952), The High and the Mighty (1954), Friendly Persuasion (1955), Giant (1956) und The Old Man and the Sea (1959). Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Qualität innerhalb seines musikalischen Œuvres (insgesamt rund 110 Partituren für Spielfilme) starken Schwankungen unterworfen ist.

Für 36 Hours schrieb er den eher schwachen Song „A Heart Must Learn to Cry“, der im Film allerdings nur instrumental erklingt. Das etwas blasse Thema taucht im Verlauf des Scores fortlaufend — zumeist in variierter Form — wieder auf. Damit kontrastiert ein für den militärischen Aspekt der Filmhandlung stehendes rhythmisches Snare-Drum-Motiv, mit dessen Hilfe die Spannungsmomente ordentlich gestaltet werden und dabei auch das Klavier mit Rachmaninoff-ähnlichen Akkord-Ballungen aufwartet.

Die Filmmusik erschien zum Filmstart in stark komprimierter Form auf einer LP, die Ende der 70er Jahre — in der Gründer-Phase des Varèse-Labels — zu den ersten Produktionen (einer Reihe von LP-Wiederveröffentlichungen) gehörte. Das jetzt auf der FSM-Edition vorliegende vollständige Material der Studio-Einspielungen für den Film wird der Musik eindeutig gerechter, als der seinerzeitige nur etwa 30-minütige Plattenschnitt. Und als kleinere Highlights enthält nur die FSM-CD den etwas exotisch (lateinamerikanisch) anmutenden „Lisbon Cha Cha“, der hier sogar erstmals in der ursprünglich konzipierten, im Film nicht eingesetzten Form präsentiert wird. In dieser Version wird die eingängige Tanzmusik durch sinfonische Overlays und Einwürfe der Elektrogitarre recht geschickt collageartig verfremdet, wenn Major Pike, von seinen Kidnappern unter Drogen gesetzt, Halluzinationen bekommt. Und in der Sektion der Bonus-Tracks gibt’s auch noch ein Stück mit ansprechenden Jazz-Improvisationen über das militärische Motiv.

Gegenüber dem alten LP-Schnitt zeigt die FSM-Edition der Musik zu 36 Hours insgesamt eine Reihe von Vorzügen; die Musik erweist sich aber nach wie vor als nicht zu den starken, sondern eindeutig zu den schwächeren Werken Dimitri Tiomkins zählend. Sicher, die FSM-CD ist gewohnt liebevoll editiert, klingt sogar hervorragend und ebenso tadellos ist das Booklet geraten. Jedoch, gerade für den, der Tiomkins edle Filmmusiken im Ohr hat, bleibt es doch etwas enttäuschend, dass das auf CD bislang noch völlig unterrepräsentierte Werk des Komponisten gerade durch FSM diesen eher bescheidenen Zuwachs erhält.

Allerdings, die Archivsituation in Sachen Tiomkin-Filmmusik ist wohl insgesamt sehr durchwachsen und gibt kaum Anlass zur Euphorie. Originalmaterial in klangtechnisch vergleichbar hochwertigem Zustand wie 36 Hours dürfte (wenn überhaupt) kaum in besonderem Umfang zur Verfügung stehen. Tiomkin arbeitete stets als freischaffender Künstler, war nie langjährig an ein Studio gebunden und nur wenige seiner Filmmusiken entstanden für die beiden Major-Studios (Fox und MGM), deren Tonaufzeichnungen technisch an der Spitze des jeweils Machbaren orientiert und außerdem besonders sorgfältig archiviert worden sind. So sind beispielsweise mit großer Wahrscheinlichkeit weder die Stereo-Musikaufzeichnungen seiner Warner-Filme, noch diejenigen der Bronston-Epics existent und was bei Paramount, Columbia, Allied Artists und United Artists überhaupt noch hebbar sein mag, ist erst recht nicht abzusehen.

Insofern ist FSMs 36 Hours kein diskografisches Tiomkin-Highlight, repräsentiert eher das zurzeit Machbare in Form eines ordentlich fließenden aber nicht sonderlich aufregenden CD-Albums.

Komponist:
Tiomkin, Dimitri

Erschienen:
2002
Gesamtspielzeit:
66:41 Minuten
Sampler:
FSM
Kennung:
Vol. 5 No. 7

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