Die Kritik hat Vilsmaiers Marlene-Film sehr zwiespältig aufgenommen. Nun, ich war vom Dietrich-Mythos eh nie besonders beeindruckt und habe den Film daher vielleicht erheblich weniger befangen in der vierten Woche Samstag abends, in einem Münsteraner Kino erlebt. Trotz „Send“ (einer großen, immer gut besuchten Kirmes) füllte sich die Abspielstätte nach und nach restlos bis auf die ersten zwei „Rasiersitz-Reihen“: mit der Konsequenz, dass ich mich, da ich keine Platzkarte für die hinteren Reihen mehr ergattern konnte, schließlich zusammen mit einer Studentin auf einem der beiden „Notsitze“ wiederfand. Erfreulicherweise waren diese Sitzplätze erheblich besser als Ihre Bezeichnung, so dass der Filmeindruck nicht schon durch ungünstige Rahmenbedingungen beeinträchtigt war, und als im Saal die Lichter wieder angingen, war ich nicht enttäuscht.
Für mich ist Kino primär eine Sache einer möglichst perfekten Unterhaltung, wobei mir dann (nicht zu extreme) Unwahrscheinlichkeiten und Freiheiten des Regisseurs wohl zwangsläufig nicht derart „sauer aufstoßen“ wie anderen, die Kino offenbar zuerst – und wohl typisch deutsch (!) – als „Kunst“ bewerten zu müssen meinen. Warum immer so bierernst? Gewisse Schwächen haben doch nahezu alle Filme, und auch die „Klassiker“ sind nicht völlig frei davon. Wenn man möchte, kann man sich natürlich ein (oder mehrere) Haar(e) aus der Suppe fischen, daraus einen Strick drehen und einen Film damit erhängen.
Sicher ist Vilsmaiers Marlene-Film kein Meisterwerk, aber durchaus eine gut fotografierte, opulent ausgestattete und weitgehend liebevoll gemachte rund zweistündige Unterhaltung in schönen und teilweise atmosphärisch dichten Bildern geworden. Katja Flint ist eine überzeugende Hauptfigur: Die Ähnlichkeit mit der echten Dietrich ist in manchen Szenen geradezu verblüffend. Von den übrigen Darstellern haben mir besonders der weitgehend unbekannte Hans-Werner Meyer als Josef von Sternberg und Armin Rhode als brillante Verkörperung des berühmten deutschen Schauspielers Emil Jannings zugesagt. Der Film beschränkt sich auf die Zeitspanne von 1929 bis 1945, daneben gibt es eine recht geschickt erdachte kleine Rahmenhandlung, die in den siebziger Jahren spielt. Weder auf die Jugendjahre noch die spätere Sängerkarriere der Titelfigur wird eingegangen. Dafür werden die Verwicklungen und Turbulenzen um die Produktion des Blauen Engels gut herübergebracht und auch die dramatischste Kehrseite von Marlenes Kariere zum Weltstar, ihre Einsamkeit, sehr eindringlich verdeutlicht. Schon die Ausstattung des Films ist überaus sehenswert. Die Szenen im Berlin der späten Zwanziger sind zudem atmosphärisch dicht gelungen, und die auf dem Babelsberger Studiogelände vom Oscar gekrönten Produktionsdesigner Rolf Zehetbauer originalgetreu nachgebaute Villa, welche die Dietrich in Hollywood bewohnte, ist ein Augenschmaus. Dasselbe gilt für die opulenten Szenen auf dem Set des Films The scarlet Empress • Die scharlachrote Kaiserin. Auch die im zum „Gloria-Palast“ modifizierten Berliner „Delphi“-Kino inszenierte Premiere von Der blaue Engel, wo die Dietrich dem großen Mimen Jannings die Schau stiehlt, ist gekonnt inszeniert. Die Kameraarbeit von Vilsmaier ist ebenso zu loben: Ein Händchen für gekonnte Bildsprache, ja für den „großen Atem“ eines Films kann man ihm nicht absprechen. Ein erstklassiger Effekt ist schon zu Beginn das prächtige New Yorker Feuerwerk, aus dem sich elegant der Rollentitel formt. Hier ist wirklich nichts von der biederen Schlichtheit und Sprödigkeit mancher intellektueller Langweiler des deutschen Films zu spüren – Rainer Werner Fassbinders Lili Marleen (1980) sei hierfür nur ein Beispiel. Bei Marlene wurde (gekonnt) geklotzt und nicht (halbherzig) gekleckert! Das die Schöpfung aus einem Mix aus sorgfältig recherchierten Details und Fiktion besteht, ist übrigens nie verschwiegen worden. Sicher werden im Verlauf der Filmhandlung (speziell im Abschnitt „Hollywood“) manche Probleme der Diva zu wenig ausgeleuchtet oder ganz ausgelassen, aber bei der Fülle des Materials ist dies auch nicht verwunderlich. Zu den anfechtbarsten „Freiheiten“ die sich der Film nimmt, dürfte zweifellos die fiktive „große Liebe“ der Dietrich zu einem von Heino Ferch sympathisch dargestellten preußischen Offizier zählen. Das sie für diesen im Herbst 1944 sogar allein im Jeep zu einem geheimen Treff in den Ardennen fährt, ist natürlich purer Kintopp, aber trotz allem recht unterhaltsam.
Marlene und den schauspielerisch und dramaturgisch sicher stärkeren Comedian Harmonists halte ich zur Zeit für die Vilsmaier-Filme, welche auch beim breiteren Publikum die beste Chance auf Erfolg haben dürften. Für mich war der Besuch des Marlene-Films entscheidend dafür, mehr über die Hintergründe der Produktion und die Titelfigur erfahren zu wollen und mich mit den unten beschriebenen Büchern zu beschäftigen. Wie Oliver Baumgarten in seiner vernichtenden Film-Kritik zu Marlene in ULTIMO naserümpfend feststellt, „lebt das alte Kino noch“ – ich sage Gott sei Dank!
Der ansprechende Musikbeitrag des österreichischen Komponisten Harald Kloser ist bestimmt von lyrischen Themen und melancholisch auskomponierten Stimmungspassagen. Alles ist nett und handwerklich solide gearbeitet und instrumentiert. Die CD zum Film ist eine ordentliche Mischung aus bekannten Dietrich-Songs und einem allerdings etwas knapp anmutenden Score-Anteil. Hierzu muss aber fairerweise gesagt werden, dass die präsentierten Stücke im Film teilweise mehrfach eingesetzt werden und mir nach dem Besuch des Films auch nicht wesentlich mehr interessante Musik in Erinnerung blieb. Innerhalb der Song-Kompilation gibt es das berühmte Lied aus dem blauen Engel zwei Mal: neben einer Stereo-Version von 1960 in der selten zu hörenden internationalen Film-Fassung als „Falling in Love again“. Sehr originell ist auch das von Katja Flint gesungene Dietrich-Lied „Jonny“: Die Darstellerin der Film-Marlene vermag nicht nur optisch sondern auch stimmlich zu überzeugen. Insgesamt ist die vorliegende CD also schon ein Stück mehr als nur ein Filmsouvenir und daraus resultiert eine solide Bewertung mit 3 Punkten. Bleibt noch zu hoffen, dass Kloser umgehend Gelegenheit bekommt eine groß angelegte dramatische Filmmusik zu komponieren.
Wer sich für die „zweite“ Karriere der Dietrich als Sängerin stärker interessiert, dem gestattet der EMI-3-CD-Schuber, „Marlene Dietrich: Mythos und Legende“ gegenüber der Film-CD erheblich tiefere Einblicke. Während sich obiger Titel weitgehend auf die Song-Highlights und der Tonqualität wegen überwiegend auf Stereoversionen der Sechziger beschränkt, umspannt das Trio in epischer Breite einen Zeitraum von etwa 35 Jahren: von den frühesten Aufnahmen Ende der zwanziger bis Mitte der sechziger Jahre. Hier gibts eine Reihe der Lieder in verschiedenen Versionen zu hören, die zum einen die Änderungen im Zeitgeschmack in den Arrangements, zum anderen aber auch den Reifeprozess der Sängerin eindrucksstark dokumentieren. Eine Reihe der Songs hat auch heutzutage noch durchaus Pfeffer und wirkt zeitlos frisch. Wer die Film-CD außerdem besitzt, kann hier Katja Flints „Jonny“ reizvoll mit zwei originalen Dietrich-Versionen vergleichen. Das berühmte Lied aus dem blauen Engel ist sogar vier Mal vertreten: außer den beiden auch auf der Film-CD enthaltenen Versionen gibts die bekannte deutsche von 1930 sowie eine frühe, bislang verloren geglaubte Fassung. Die Tonqualität der frühen Aufnahmen ist natürlich altersbedingt nicht makellos, die betagten Master sind jedoch weitgehend klar, aber wohl nicht mit neuester Technik nachbearbeitet worden. Jede CD enthält ein zweiseitiges Booklet, das die Daten der jeweiligen Aufnahmen dokumentiert. Daneben gibts noch eines für den Papp-Schuber, das neben einem kurzen Artikel zur Sängerin Marlene, wichtige Daten und Stationen ihres Lebens auflistet. Insgesamt macht die 3-CD-Edition mit einer Gesamtspielzeit von rund 3 Stunden einen guten Eindruck und dürfte für Freunde der Sängerin ein Schmankerl sein.
Weitere interessante Einblicke zum Film und der porträtierten Figur bieten die beiden neuen Bücher des Europaverlages: Christian Pfannenschmidt/J. Vilsmaier „Marlene: Der Film“ und Adolf Heinzlmeier „Marlene: Die Biografie“.
Der frühere ZEIT-Journalist Christian Pfannenschmidt verfasste zusammen mit dem Regisseur und Kameramann Joseph Vilsmaier mit Marlene sein erstes Drehbuch für einem Kinofilm. Das mit vielen Film-Farbfotos reizvoll ergänzte Buch „Der Film“ ist besonders etwas für Filmfreunde und solche, die ein Souvenir suchen. Hier kann man das Kinoerlebnis „nach erleben“ und sich dank der vielen Bilder auch die opulente Ausstattung ins Gedächtnis zurückrufen. Der Vorwort-Text „Die preußische Madonna“ ist eine Art Kurzbiografie der Filmfigur und faszinierend zu lesen. Den Epilog bildet ein kurzer, informativer Artikel von Alfred Holighaus zu Vilsmaier und über die Hintergründe der Marlene-Produktion.
Wer sich darüber hinaus (oder auch nur) für tiefere Einblicke in die Lebensgeschichte der „Dietrich“ interessiert, dem sei zusätzlich (oder außerdem) Adolf Heinzlmeiers neue Marlene-Biografie (s. o.) empfohlen. Heinzlmeier ist Autor und Mitautor verschiedener Sachbücher zum Thema Film und verfasste auch Biografien über Fritz Lang, Johnny Depp und Hainer Lauterbach. Die vorliegende, auf Basis aktuellsten Quellenmaterials erarbeitete Marlene-Biografie ist ein flüssig lesbares und spannendes Buch. Der Autor entwirft ein interessantes, facettenreiches Portrait der Titel-Figur und ihres Umfeldes. Ergänzt und abgerundet wird der positive Gesamteindruck durch eine Fülle von Schwarz-weiß-Fotos der „Dietrich“, Szenenfotos ihrer Filme und Bilder sonstiger Personen, die in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielten. Dank des mit 160 Seiten nicht zu großen Umfangs dürfte dieses Buch auch eiligen Lesern willkommen sein, die vor ausgeuferten „Wälzern“ eher zurückschrecken. Somit ist der Band auch für sich allein ein gelungenes Buch und nicht nur (aber auch) eine Ergänzung des Filmbuches. Beide Bücher sind trotz des rechteckigen Formats eine runde Sache.
Fazit: Wer von Vilsmaiers Marlene eine Aufklärung des Dietrich-Mythos erwartet liegt falsch, wer aber rund zwei Stunden opulenter Unterhaltung nicht abgeneigt ist und einige Schwächen verzeihen mag, dürfte zufrieden gestellt werden. Mehr Informationen zum Thema Film und Dietrich-Mythos bieten die beiden liebevoll gestalteten Bücher des Europa Verlages. „Marlene: Der Film“ ist ein gelungenes Souvenir für nicht enttäuschte Kinogänger; „Marlene: Die Biografie“ ist die derzeit aktuellste Darstellung des Lebens von Deutschlands einzigem Weltstar. Ein flüssig lesbares und spannendes Buch, das durch gutes Bildmaterial ergänzt wird. Wer die zum Teil pfiffigen Lieder der Dietrich mag sollte sich die 3er-CD-Box anschauen, wers etwas kleiner möchte nehme die Film-CD, die neben einer Song-Auswahl auch die wichtigen Themen aus Harald Klosers ansprechender Musik enthält.
Mehrteilige Rezension:
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