Warschauer Konzert
Das NAXOS – Label erfreut sich unter Klassikfreunden recht großer Beliebtheit, bietet es doch qualitativ gute bis erstklassige Aufnahmen zu günstigen Preisen. Ausgesprochene Filmmusik wird man allerdings kaum finden. Am ehesten mit diesem Metier zu tun hat u.a. die zwölfteilige, nach Genres geordnete Reihe „The Classics at the Movies“ mit klassischen Kompositionen, die in Filmen Verwendung fanden (wenn es sich auch nicht um die Originalaufnahmen handelt).
Ein echter Leckerbissen, vor allem für die Pianoliebhaber unter den Filmmusikfans, ist jedoch die CD „Warschauer Konzert – Große Klavierkonzerte aus Filmklassikern“. Sie beinhaltet diesmal keine „zweckentfremdeten“ klassischen Kompositionen, sondern ausschließlich Musik, die speziell für den Film geschrieben wurde. Die Aufnahmen entstanden 1995 in Dublin mit Philip Fowke (Klavier) und dem RTE Concert Orchestra (ein Orchester des irischen Rundfunks) unter Proinnsías Ó Duinn.
Das Klavier ist mit der Geschichte der frühen Filmmusik untrennbar verbunden, war es doch lange Zeit die meist einzige akustische Begleitung von Stummfilmvorführungen (nur selten wurde ein größeres Musikerensemble verpflichtet). Auch nach dem Aufkommen des Tonfilms erfreute sich das Piano weiterhin großer Beliebtheit. 1940 schrieb Jack Beaver für The Case of the Frightened Lady einen zugleich kraftvoll-dramatischen und romantischen, Klavier-basierten Score (als zweiter Titel auf der vorliegenden CD enthalten), der eine wahre Welle von ähnlichen Filmmusiken auslöste. Manche davon wurden speziell komponiert, manchmal griff man auch auf bereits vorhandene Klavierkonzerte zurück. Viele dieser Stücke wurden in den jeweiligen Filmen konzertant als sogenannte „source music“ aufgeführt (also Musik, die die Personen im Film selbst hören können). Für einige dieser Kompositionen entstand sogar ein eigener Spitzname: „Denham Concertos“, benannt nach einem berühmten Tonstudio im Londoner Norden. Den Höhepunkt der Klavier-Welle bildeten die 40er Jahre, doch auch in der heutigen Zeit wird bekanntlich immer noch gerne auf dieses Instrument zurückgegriffen, vor allem für romantische und melancholische Passagen – man denke hier nur an die Eröffnungsszene von Forrest Gump, an The Cider House Rules • Gottes Werk und Teufels Beitrag oder natürlich an Das Piano.
Das titelgebende Werk der CD, das „Warschauer Konzert“ von Richard Addinsell, stammt aus dem britischen Film Dangerous Moonlight • Suicide Squadron (US-Titel) von 1941 (siehe hierzu auch Klassische Britische Filmmusik: Teil 3). Der Film erzählt die Geschichte eines polnischen Pianisten, der zu Beginn des zweiten Weltkriegs nach Großbritannien flieht, um dort als Pilot gegen die Deutschen zu kämpfen (einer der Drehbuchautoren war übrigens Terence Young, der später vor allem als Bond – Regisseur zu weltweiter Berühmtheit kommen sollte). Musikalischer Höhepunkt ist eine Konzertszene, in der das besagte Werk zur Aufführung gelangt. Ursprünglich war die Verwendung von Sergei Rachmaninows zweitem Klavierkonzert vorgesehen gewesen, und in der Tat nahm Addinsell denn auch stilistische Anleihen aus diesem und anderen Werken seines russischen Kollegen (Addinsells Komposition wird auch heute noch öfters zusammen mit Rachmaninows Konzert eingespielt). Der Film wurde ein durchschlagender Erfolg, wozu die Musik ganz erheblich beitrug (deren Hauptthema übrigens von einer Rumba stammt, die Addinsell in den 20er Jahren als Student in Oxford komponiert hatte). Man kann das „Warschauer Konzert“ wohl mit Fug und Recht als einen der ersten Hits der Filmmusikgeschichte bezeichnen (mal abgesehen von Max Steiners „Tara-Thema“ aus Vom Winde verweht, das zwei Jahre älter ist).
Miklós Rózsas „Spellbound Concerto“ wurde, anders als die übrigen Stücke auf der CD, nicht direkt für das Kino komponiert. Es basiert aber auf dem oscarprämierten Score zu dem Hitchcock-Film Spellbound • Ich kämpfe um dich von 1945. Eine Besonderheit von Rózsas Musik ist die Verwendung eines sehr frühen elektronischen Instrumentes, das er schon ein Jahr zuvor in Billy Wilders Double Indemnity • Die Frau ohne Gewissen verwendet hatte, des so genannten Theremin (nach seinem Erfinder, einem russischen Physiker, benannt). Dieses Gerät, das auch in der vorliegenden Aufnahme zu hören ist, wird berührungslos durch Bewegen der Hände in einem elektromagnetischen Feld gespielt und produziert gleichsam „ätherische“ Klänge (die in etwa mit denen einer singende Säge vergleichbar sind), weswegen es in Deutschland auch als „Ätherophon“ bezeichnet wurde. Die unwirkliche Stimmung, die so mit akustischen Mitteln erzeugt wird, hat ihr optisches Gegenstück in einer Traumsequenz, die von keinem geringeren als dem berühmten surrealistischen Maler Salvador Dali entworfen wurde. Die übrigen Passagen von Rózsas Concerto klingen dagegen oftmals recht ausgelassen und fröhlich. Knapp 20 Jahre später, nämlich 1963, setzte Hitchcock in The Birds • Die Vögel übrigens ein weiteres elektronisches Instrument ein – das von dem Deutschen Friedrich Trautwein erfundene und von Oskar Sala weiterentwickelte Trautonium (die Tonaufnahmen entstanden damals in Berlin).
Musiker, Flieger und Kriegsheld – das ist offensichtlich eine Kombination, die beim Publikum der 40er Jahre gut ankam (was zumindest während des Krieges sicher auch für Propagandazwecke ausgenutzt wurde), denn auch der Hauptdarsteller in The Glass Mountain ist alles gleichzeitig. Er wird im 2. Weltkrieg über Italien abgeschossen und verliebt sich in seine Retterin, ein italienisches Mädchen. Zurück in Großbritannien, schreibt er (obwohl verheiratet) eine Oper – auch als musikalische Liebeserklärung an die Italienerin. Die Musik zu diesem Streifen schrieb Nino Rota, der später vor allem durch seine Zusammenarbeit mit Federico Fellini sowie durch The Godfather • Der Pate berühmt wurde.
Recht bekannt und beliebt ist Richard Rodney Bennetts Musik zu der Agatha Christie – Verfilmung Mord im Orient-Express von 1974, die auch für den Oscar nominiert wurde. An etlichen sowohl dramatischen als auch leicht-beschwingten Stellen des Scores ist das Piano maßgeblich beteiligt. Bei dem berühmten Walzer (der hier natürlich auch zu hören ist) – mit der akustisch nachempfundenen Anfahrt des Dampfzuges – spielt es allerdings nur eine untergeordnete Rolle.
Dass sich die herb-romantische Küstenlandschaft Cornwalls besonders gut für Liebesfilme eignet, ist nicht erst seit den Rosamunde Pilcher – Verfilmungen im ZDF bekannt. Bereits ein halbes Jahrhundert zuvor, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs (1945), entstand der Film Love Story – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Streifen von 1970 (mit der oscarprämierten Musik von Francis Lai). Die von Hubert Bath für diesen Film komponierte „Cornish Rhapsody“ zählt ebenso wie Addinsells „Warschauer Konzert“ zu den bereits erwähnten „Denham-Konzerten“ und ist ihrerseits in einer Konzertszene im Film zu hören, diesmal in der Londoner Royal Albert Hall (bei uns vor allem durch die alljährlich dort stattfindende „Last Night of the Proms“ bekannt). Bath gehörte zu den Pionieren unter den Filmkomponisten, hatte er doch schon für den allerersten abendfüllenden britischen Tonfilm die Musik geschrieben – Alfred Hitchcocks Blackmail (1929). Love Story wurde jedoch sein letztes Werk, denn er starb am 24. April 1945.
Bernard Herrmanns „Concerto Macabre“ trägt seinen Namen zweifellos zu Recht: Der Film Hangover Square (1945), aus dem es stammt, erzählt die Geschichte eines geistesgestörten Musikers. Die Handlung gipfelt in einem Klavierkonzert, in dessen Verlauf der Hauptdarsteller den Konzertsaal in Brand steckt, das Konzert aber fortsetzt, bis er schließlich in den Flammen umkommt. Dies spiegelt sich denn auch in der Musik wider – den Schluss bestreitet das Klavier alleine.
Dass ein Stück Filmmusik nach dem Film benannt wird, aus dem es stammt, ist normal. Gelegentlich kommt es auch vor, dass ein Film nach einem (schon existierenden) Musikstück benannt wird, z.B. Schlafes Bruder oder Kaiserwalzer. Dass aber eine Melodie, die speziell für einen Film komponiert wurde, so beliebt wird, dass dieser einige Jahre später erneut herausgebracht wird, nun aber unter dem Namen des Musikstückes – das dürfte ziemlich einmalig sein. Genau dieses Kunststück gelang Charles Williams 1947 mit seiner ausgesprochen romantischen und melodiösen Komposition „Olwens Traum“ aus While I live – drei Jahre später kam der Film als The Dream of Olwen erneut in die Kinos.
1956 entstand in den USA der Thriller Julie mit Doris Day in der Titelrolle. Während der eigentliche Score von Leith Stevens komponiert wurde, steuerte der amerikanische Pianist Leonard Pennario seine einzige Filmkomposition bei – natürlich ein Werk für Klavier und Orchester, das den Titel „Midnight on the Cliffs“ trägt und den Abschluss der CD bildet.
Das Booklet ist grafisch sehr spartanisch gestaltet, bietet aber zu jedem Werk einen recht ausführlichen und informativen Text. Wie die meisten Naxos-CDs ist auch diese Scheibe in vielen Geschäften schon ab 5 Euro zu haben. Dafür bekommt man über eine Stunde interessanter, eingängiger und sehr guter Musik (sowohl kompositorisch als auch von der Interpretation her) in einwandfreier Tonqualität.
Fazit: Auch bei einem deutlich höheren Preis wäre die CD eine Empfehlung wert gewesen. Besonders für Pianoliebhaber ist die Scheibe fast schon ein Muss.