Der Herr der Ringe – Die Gefährten: eine Literaturverfilmung? (Teil I)

Geschrieben von:
Peter Kramer
Veröffentlicht am:
28. März 2002
Abgelegt unter:
Special

Peter Jacksons Der Herr der Ringe – Die Gefährten – eine Literaturverfilmung?
Freie Filmkunst und Werktreue

Teil I

1396Der Filmschaffende ist immer in erster Linie ein freier Künstler, der ein eigenständiges Werk hervorbringt – auch wenn er nach einer bereits bestehenden (Buch-)Vorlage arbeitet (sogenannte Literaturverfilmung). Wenn jedoch er und die Werbung für sein Werk (hier beziehe ich mich hauptsächlich auf das offizielle Filmbuch von Brian Sibley) den Anspruch erheben, dem Werk gerecht geworden zu sein oder gar die Visionen des Autors verwirklicht zu haben, wird er sich an diesem Anspruch messen lassen müssen.

Dies gilt insbesondere für „Der Herr der Ringe“ von John Ronald Reuel Tolkien, denn der Autor selbst hat bereits Ende der 50er Jahre in einer vernichtenden Kritik Stellung zu einem damaligen Filmprojekt genommen. Diese ausführliche Stellungnahme zu einem Storyboard liegt auch veröffentlicht vor (J. R. R. Tolkien, Briefe, hg. v. Humphrey Carpenter, Stuttgart: Klett-Cotta 1991, Nr. 210, S. 355-363), und man sollte davon ausgehen können, dass die Drehbuchautoren sie zur Kenntnis genommen haben. Umso erschütternder ist es, wie oft Zitate aus diesem Brief zur Kritik am Film passen.

Auch muss jede Verfilmung von „Der Herr der Ringe“ (oder eines anderen Tolkien-Werkes) davon ausgehen, dass viele Fans die Geschichte Mittelerdes besser kennen als ihre eigene und dass sie ihnen bis in die Details hinein lieb und teuer ist.

Bereits nach meinem ersten Besuch in Peter Jacksons Film Der Herr der Ringe – Die Gefährten hatte ich ein sehr zwiespältiges Gefühl und wusste nicht recht, was ich von dem gerade Gesehenen halten sollte. Einerseits gab es dort wunderschöne Bilder und gelungene Szenen von großer Imaginationskraft und Inspiration, die man immer wiedersehen will (dazu rechne ich insbesondere das Feuerwerk bei Bilbos Abschiedsfest und Gandalfs Kampf mit dem Balrog); andererseits hatte man hier offensichtlich dem Buch an verschiedenen Stellen Gewalt angetan – und das nicht nur im übertragenen Sinne.

Ich bin dann zu dem Schluss gekommen, dass eine pauschale Bewertung diesem Film nicht gerecht werden kann. Deshalb habe ich ihn in gut 60 „Szenen“ aufgeteilt (nicht Schnittszenen, sondern inhaltlich zusammengehörende Sequenzen), um sie einzeln zu besprechen und insbesondere ihre Stimmigkeit mit dem Buch zu überprüfen.

Selbstverständlich gilt die eingangs zitierte Regel vom freien Filmkünstler, und die Filmkunst folgt anderen Gesetzen als die Literatur. Deshalb kann nicht jede Abweichung vom Buch schlecht sein; es gibt

– interessante und positive Ergänzungen, die den Film bereichern;
– bedeutungslose Fehler und filmisch notwendige Anpassungen;
– unnötige Abweichungen vom Buch, die dem Film als Film schaden;
– Entstellungen, bei denen der Autor wohl Einspruch erhoben hätte.

Die Szenen im Detail:

1. Stimme Galadriels
Die Stimme Galadriels ertönt aus dem Off und spricht einige Worte zur Einleitung in die Vorgeschichte des Ringkrieges.

Der Zweck dieser „Szene“ ist es augenscheinlich, von vorneherein eine geheimnisvolle Stimmung zu erzeugen. Eine solche Mystifizierung halte ich nicht nur für unangebracht, sondern sie steht auch kaum im Zusammenhang mit dem nachfolgenden Film. Sie ist also völlig überflüssig. Davon abgesehen enthalten bereits diese Eingangsworte ein Beispiel dafür, mit wie wenig Sorgfalt die Dialoge teilweise geschrieben wurden, wodurch sich mancher Unfug in den Film einschlich. Es wird gesagt: „Vieles, was einst war, ist verloren, weil niemand mehr lebt, der sich erinnert.“ Diese Worte ausgerechnet von Galadriel sprechen zu lassen, die lange Zeitalter vor dem ersten Aufgang von Sonne und Mond im Segensreich Aman geboren wurde, ist doch wohl widersinnig.

2. Prolog
1659Der Film beginnt mit der Vorgeschichte des Ringkrieges. Während Galadriels Stimme erzählt, werden Szenen aus der Vergangenheit gezeigt.

Hier, gleich am Anfang, wurde meiner Meinung nach eine falsche Grundentscheidung getroffen: Während die Geschichte sich im Buch langsam entwickelt, der Leser zusammen mit den Hobbits nach und nach immer mehr Informationen sammelt, wird der Zuschauer des Films sofort mit Informationen zugeschüttet. Diese sind für einen „Neuling“ nicht nur schwer verdaulich; man verschenkt auch ein Spannungsmoment, wenn von Anfang an klar ist, dass Bilbos Ring der Eine ist. Die Abweichungen von der durchgestalteten Dramaturgie des Buches kommen dem Film keineswegs zugute. (Übrigens gab es auch im Herr-der-Ringe-Film von Ralph Bakshi von 1977 einen solchen Prolog – mit etwas anderer Akzentuierung, aber ebenso wenig erfreulichem Ergebnis.)

Man kann diese Vorgeschichte in fünf Abschnitte einteilen, bei denen den Kampfszenen (wie im ganzen Film) unverhältnismäßig viel Platz eingeräumt wird:

a) Die Ringe der Macht werden geschmiedet

Die drei Elben, denen die Ringe am Anfang gegeben wurden, sind Gil-gald, Círdan und Galadriel selbst. Círdan, der Schiffbauer, ist der einzige Elb, von dem es heißt, dass er einen Bart trug, aber hier hat er keinen.

Die Karte von Mittelerde (aus dem Buch) wird leider später nicht mehr verwendet, obwohl man auf ihr gut den Weg der Gefährten hätte zeigen können.

Sauron hatte beim Ringschmieden noch seine schöne Gestalt, aber für die Wiedererkennung im Film ist es wohl besser, dass er schon diesen merkwürdigen Schuppenpanzer trägt.

b) Die Schlacht des Letzten Bündnisses

Die Darstellung der Schlacht ist zwar optisch gelungen, aber inhaltlich grundlegend falsch.

Nach allem, was man aus Tolkiens Schriften weiß (HdR 268f., 1151; Sil 322f.; Briefe 131 [S. 208]), wurde Saurons Heer in der Schlacht von Dagorlad im Jahre 3434 des Zweiten Zeitalters vernichtend geschlagen. Darauf folgte die siebenjährige Belagerung von Saurons Festung Barad-dûr, und erst als die Belagerung nicht mehr auszuhalten war, stellte sich Sauron zum Kampf. An den Hängen des Schicksalsberges wurde er von Gil-galad und Elendil besiegt, denen nur Elrond, Círdan und Isildur beistanden. Doch auch die beiden Hochkönige kamen bei dem Kampf um, und Elendils Schwert zerbrach, als er darauf fiel. Sauron ist also bereits besiegt, wenn Isildur den Ring von seinem Finger schneidet – er wird nicht durch diesen Akt niedergestreckt. Der Eine Ring verleiht keine besondere Kampfkraft oder Unbesiegbarkeit (doch auch später den Ringträgern nicht), und Saurons Heere lösen sich auch nicht bei Verlust des Ringes in Luft oder Staub auf! (Diese Szene erinnert übrigens frappant an den Schluss von Die Mumie kehrt zurück von Stephen Sommers [2001].) Es ist ja auch unlogisch, dass trotzdem noch Orks übrigbleiben, um Isildur im nächsten Abschnitt umzubringen.

c) Tod Isildurs

Isildurs Ende wird relativ kurz abgehandelt. Sein Trupp gerät in einen Hinterhalt, und in der nächsten Einstellung schwimmt seine Leiche im Fluss. Der „Betrug“ des Ringes dabei (indem er durch Größenänderung vom Finger gleitet) wird nicht deutlich; immerhin wird es im erzählenden Text angedeutet.

d) Gollum findet den Ring

Sméagol fischt den Ring aus dem Fluss und zieht sich damit unter das Gebirge zurück, wo er 500 Jahre lang durch den Ring zu Gollum verdorben wird.

Die Darstellung ist sehr gerafft, was bedauerlich ist, weil man durch die Ermordung seines Vetters Déagol den schlechten Einfluss des Ringes auf Sméagol/Gollum hätte zeigen können. Auch erfährt man nicht, dass Gollum ein Hobbit ist (bzw. war).

e) Bilbo findet den Ring

Auch diese Geschichte bekommt viel zu wenig Raum, obwohl später auf sie Bezug genommen wird. Es gibt weder „Rätsel im Dunkeln“ noch überhaupt eine direkte Begegnung mit Gollum. Auch der Grund von Bilbos Anwesenheit (die „Sache mit dem Drachen“) wird nicht erklärt. Als Ergebnis muss man die Unlogik in Kauf nehmen, dass Gollum später in Barad-dûr die Namen „Auenland“ und „Beutlin“ preisgibt. Woher kennt er diese, wenn er gar nicht mit Bilbo spricht?

3. Gandalf kommt ins Auenland
Nach diesem Vorgeplänkel beginnt die Geschichte unbeschwert (und ganz unmystisch) bei hellem Sonnenschein damit, dass Gandalf zu Bilbos Geburtstagsfest ins Auenland gefahren kommt.

1658Obwohl die Darstellung in keiner Weise dem Buch entspricht (nur am Rande sei vermerkt, dass es im Buch z. B. ausdrücklich heißt, dass trotz aller Bettelei kein einziger Feuerwerkskörper vor dem Fest gezündet wird), finde ich sie sehr gelungen, weil sie einerseits die idyllische Stimmung des Auenlandes wiedergibt und andererseits die Protagonisten treffend charakterisiert. Mit viel Witz und Einfallsreichtum wird dem Zuschauer ein wahrer Augenschmaus serviert.

Besonders Gandalf ist mit Ian McKellen hervorragend besetzt. Mit Elijah Wood als Frodo bin ich dagegen nicht ganz glücklich – er ist einfach zu jung. Am Anfang ist es ja okay, Frodo wird bei Bilbos Abschied gerade volljährig (bei Hobbits mit 33), aber beim Aufbruch zu seiner eigenen Reise (s. Szene 12) ist er bereits 50, wie Wood im Filmbuch (S. 64) selbst zutreffend sagt. Nun, der Film nimmt es sowieso mit der Chronologie nicht so genau (s. Szenen 7-11, 13, 14-16, 20, 25, 34 und 44-49), und durch die immerhin gute schauspielerische Leistung hat man sich bald an den jugendlichen Frodo gewöhnt.

Ein Lapsus sei noch erwähnt: Die Festwiese liegt praktisch direkt vor Bilbos Tür; im Film scheint sie jedoch ziemlich weit entfernt zu sein – ein Schnittfehler?

4. Gandalf bei Bilbo
Schließlich kommt Gandalf bei Bilbo an. Bei einer Tasse Tee unterhalten sich die beiden alten Freunde über Bilbos Zukunftspläne.

Wie schon das ganze Auenland, so ist auch Bilbos Höhle sehr schön und liebevoll gestaltet. Stimmige Details zeigen einerseits die Behaglichkeit und Größe einer herrschaftlichen Hobbit-Behausung und andererseits das organisierte Chaos eines Schriftstellers, der Bilbo ja auch ist. Besonders schön finde ich die Verwendung der Original-Karte aus „Der Hobbit“, wie auch später (in den Szenen 28 und 39) Illustrations-Material aus den Büchern eingebunden wird.

1662Etwas aufgesetzt erscheint mir der Scherz, dass Gandalf sich mehrfach den Kopf stößt. Auf Tolkiens eigenen Zeichnungen von Beutelsend ist zumindest die Eingangshalle etwa dreieinhalbmal so hoch wie Bilbo, also immerhin noch fast doppelt so hoch wie Gandalf. Wenn man außerdem bedenkt, dass heutige menschliche Wohnungen einen halben bis ganzen Meter höher sind als Menschengröße (und in manchen Baustil-Epochen sogar noch viel höher), wird man wohl annehmen dürfen, dass Gandalf – der ja nicht besonders groß war – in den Räumen von Beutelsend bequem stehen konnte.

Das Gespräch zwischen Gandalf und Bilbo zeigt, wie gut die Dialoge werden können, wenn man sich nah an der Vorlage hält. Das meiste davon kommt im Buch zwar an anderer Stelle (kurz vor Bilbos Aufbruch), aber das Verteilen dieser langen Sequenz auf zwei Szenen tut dem Film sicher gut.

Diese Szene bietet jedoch auch ein Beispiel für schlechte deutsche Synchronisation: Bilbo sagt, dass Frodo noch am Auenland hänge, „mit seinen Wäldern und Feldern und langen Flüssen“. Gleich beim ersten Mal wurde ich stutzig: lange Flüsse im Auenland? Und tatsächlich: In der englischen Fassung heißt es korrekt „little rivers“! (In den Untertiteln stimmt’s dann übrigens auch.)

5. Bilbos Abschiedsfest mit Feuerwerk

Die Festszene und insbesondere das Feuerwerk gehören zu meinen Lieblingsszenen in dem Film. Ein bekannter Filmmusikrezensent, der mit mir den Film besuchte, meinte zwar, das Feuerwerk wirke nicht natürlich, aber ich konnte ihm nur antworten: „Das ist ja auch ein magisches Feuerwerk!“ Ich finde es einfach zauberhaft (besonders den Drachen!) – und es ist eine sehr gelungene Umsetzung der kurzen Beschreibung im Buch. Die Einleitungssequenz, in der Gandalf ein Pfeifenrauch-Schiff durch Bilbos Rauchring segeln lässt, ist ebenfalls bezaubernd. Auch ansonsten ist das Fest in seiner optischen Umsetzung und der ganzen ausgelassenen Stimmung gelungen.

Aber es gibt auch einige Wermutstropfen. Der erste – ganz kleine – ist, dass Bilbo einen ziemlich alten Hobbit als „Dick Bolger“ begrüßt. Fredegar „Dick“ Bolger ist den Lesern des „Herrn der Ringe“ als einer von Frodos Freunden wohlbekannt. Er war auch auf Bilbos Abschiedsfest, aber erst 21 Jahre alt. Da seine Rolle aus dem Film gestrichen wurde, hätte man besser auch seinen Namen gestrichen.

[img left]id=1660[/img]Dann die Ansprache Bilbos, in der er stellenweise (!) betrunken lallt (in der englischen Fassung nicht so stark, aber immerhin angedeutet) und dann auf einmal nicht mehr weiß, was er sagen soll, obwohl er das Ganze doch lange geplant hatte. Was soll dieser peinliche Quatsch?

Am gewöhnungsbedürftigsten finde ich jedoch die Darstellung von Merry und Pippin als komplette Idioten, die übrigens zur Zeit dieses Festes 19 und 11 (sic!) Jahre alt waren. Nun, in dieser Szene wären sie ja noch als „Jugendsünder“ akzeptabel, wenn sie sich dann wenigstens weiterentwickeln würden. Doch dazu in Szene 14 mehr. Nun, mittlerweile habe ich sie als humoristische Einlagen des Films akzeptiert – eine Seite, die im Buch auch nicht zu kurz kommt, die im „modernen“ Film aber wohl etwas deftiger ausfallen muss.

Eines verstehe ich bei der ganzen auf Effekte bedachten Machart des Filmes nicht: Wo ist der von Gandalf zur Ablenkung gezauberte Blitz bei Bilbos Verschwinden?

6. Bilbo entsagt dem Ring
Das Gespräch und der innere Kampf Bilbos um die Aufgabe des Ringes bieten eine der wenigen Gelegenheiten für gute Schauspielkunst (die ansonsten oft von Action und Effekten in den Hintergrund gedrängt wird), was auch von den beiden Ians weidlich ausgenutzt wird. Ian Holm als Darsteller Bilbos sei hier ebenfalls besonders gewürdigt.

Zwei Dinge sind zu bemängeln:

Gandalfs bedrohliche Haltung wirkt in der Synchronisation durch zuviel Hall in der Stimme etwas übertrieben, während die englische Originalfassung wesentlich organischer ist und eine gute Umsetzung des Buches darstellt. Gandalf sagt an dieser Stelle im Film: „Halte mich nicht für jemanden, der mit faulem Zauber arbeitet!“ Was soll uns das sagen? Einen besseren Text hätte man bei Tolkien gefunden: „Wenn du das noch mal sagst, dann wirst du Gandalf den Grauen unverhüllt sehen!“

Den Ring müsste Bilbo eigentlich vor Gandalfs Eintreten in den Umschlag stecken. Dass er das nicht tut, könnte man damit rechtfertigen, dass im Film der Ring gezeigt werden muss. Auch ist die schließliche Entsagung (durch langsames Umdrehen der Hand und Fallenlassen des Ringes) eindrucksvoll inszeniert. Nein, was wirklich stört, ist, dass Gandalf eine Vision von Saurons lidlosem Auge hat, als er den Ring aufheben will. Das ist doch Quatsch! Da würde man doch sofort merken, dass das der Eine Ring ist. Und dass Gandalf ihn dann gar nicht mehr berühren will, … Also, das gehört doch wohl zu den schlechteren Einfällen des Autorenteams – wenig überzeugend.

7. Frodo bekommt den Ring
Frodo kommt herein und nimmt den Ring an sich, worauf Gandalf überstürzt aufbricht.

Im Buch heißt es, Frodo findet Gandalf in Gedanken versunken vor, nicht dass dieser dummes Zeug vor sich her plappert. So wirkt Gandalf nicht nachdenklich, sondern irre. Tolkien schreibt (Briefe 210 [S. 356]): „Gandalf sollte bitte nicht ‘brabbeln’. Er mag zwar manchmal launisch erscheinen, hat Sinn für Humor und nimmt gegen die Hobbits eine etwas onkelhafte Haltung ein, ist aber doch eine Person von hohem und edlem Rang und großer Würde.“

Warum es sicherer sein soll, den Ring in einem versiegelten Umschlag aufzubewahren, als ihn an einer Kette bei sich zu tragen, leuchtet mir nicht ein. Doch warum sonst sollte man die Tatsachen verdrehen und Frodo den Ring in den Umschlag stecken anstatt ihn auspacken zu lassen? Etwa nur, damit Gandalf ihn auch später (in Szene 11) nicht anfassen muss?

Der sofortige Aufbruch Gandalfs (tatsächlich am nächsten Tag, allerdings auch früher als beabsichtigt) ist eine der „wunderbaren“ Zeit-Kontraktionen des Films (die aber bald noch schlimmer werden). Das soll wohl ein Gefühl von Gefahr, Geschwindigkeit oder Action erzeugen, lässt mich jedoch nur fragen, ob Gandalf jetzt ganz durchgeknallt ist.

8. Gollum in Barad-dûr
Eine Kamerafahrt über die Mauern und Türme von Barad-dûr (sehr beeindruckend und einschüchternd), bei der die Schreie Gollums zu hören sind. Dann werden die Ringgeister losgeschickt.

Ohne die Ringgeister wären wir einfach um 10 bis 15 Jahre gesprungen, aber dass diese jetzt schon losgeschickt werden, passt einfach überhaupt nicht zur Chronologie (vgl. Szenen 11 und 13).

9. Gandalf forscht in Minas Tirith
Gandalf kommt nach Minas Tirith (den Namen erfährt man nicht, aber das Design ist wieder sehr schön, obwohl ich nach wie vor die Interpretation von Ted Nasmith für die gelungenste halte) und findet in einem verstaubten Archiv die Schriftrolle Isildurs.

Dies geschieht im Jahr 3017, also 16 Jahre nach Bilbos Abschiesfest, obwohl im Film der Eindruck erweckt wird, dass sich die Ereignisse bereits überstürzen.

Dass der Film ohne jede Achtung vor der von Tolkien sorgfältig ausgearbeiteten zeitlichen Abfolge entstanden ist, zeigt ein scheinbar kleiner Fauxpas in dieser Szene. Wie kann Isildur seine Schriftrolle im Jahr 3434 (Zweites Zeitalter) schreiben, wenn er den Ring erst 3441 erhält? Ein einfacher Blick in Anhang B hätte hier genügt. Oder glauben die Autoren wirklich, die Tolkien-Fans würden das nicht merken?

10. Schwarzer Reiter befragt einen Hobbit
Der Hobbit verweist den Schwarzen Reiter, der nach „Beutlin“ fragt, voller Angst nach Hobbingen.

Diese Szene passt hier überhaupt nicht hin. Ein besonders krasses Beispiel für die „Un-Chronologie“ – gewissermaßen die Aufhebung von Raum und Zeit. Ich vermute, ihr einziger Sinn und Zweck ist, den Schockeffekt in der nachfolgenden Szene vorzubereiten.

11. Gandalf bei Frodo
In diese lange Sequenz haben sich so viele und teilweise wirklich grobe Fehler eingeschlichen, dass sie einer längeren Behandlung bedarf.

1663Frodo und Sam kommen aus dem Gasthaus (Rosie ist ein Schankmädchen!?). Als Frodo allein in Beutelsend ankommt, wirkt er irgendwie beunruhigt (warum, wissen wir nicht; auch nicht, warum er kein Licht anmacht; aber wir wissen natürlich aus der letzten Szene, dass die Schwarzen Reiter schon den Weg nach Hobbingen kennen – obwohl das gar nicht wahr ist). Und während er sich in seiner Wohnung umsieht, wird er plötzlich von hinten von einer Hand gepackt – ein Horrorschocker aus der untersten Trickkiste, der ja auch immer wieder wirkt, wenn er von entsprechender Musik gestützt wird. Doch hier passt das nun einmal überhaupt nicht hin. Warum sollte Gandalf Frodo so erschrecken? Das macht keinen Sinn!

Überhaupt benimmt sich Gandalf hier noch irrer und aufgelöster als bei seinem Abschied (s. Szene 7), ganz und gar nicht wie ein besonnener Anführer und einer der Weisen von Mittelerde. Gandalfs „Angst“ (Wovor? Er weiß ja noch nichts von der Entsendung der Reiter.) soll sich wohl auf die Zuschauer übertragen, oder spiegelt er die Panik wieder, die der Regisseur bei seinen Zuschauern bereits erzeugt zu haben wünscht? Also, bei mir erzeugt das nur Befremden und Unwillen. Da zeigt sich, dass Regisseur Peter Jackson ein Horror-Spezialist ist.

Hastig wirft Gandalf den Umschlag mit dem Ring ins Feuer und fischt den Ring dann mit der Feuerzange heraus. Er weigert sich weiterhin notorisch, den Ring anzufassen (alles wegen der tumben Idee aus Szene 6) oder auch nur genau zu betrachten, obwohl das nicht nur im Buch, sondern auch durch die Gesetze der Logik und der Wissenschaft so vorgeschrieben wäre. Woher weiß er denn sonst, dass Frodo sich an dem Ring nicht verbrennen wird? Der echte Gandalf wäre dieses Risiko, andere zu gefährden, niemals eingegangen.

Und dann: Als Gandalf die Bedeutung des Ringes erläutert, fängt der Ring auf einmal an zu flüstern, was die beiden zwar bemerken, wodurch sie aber nicht weiter beunruhigt werden. Das ist ein derartiger Unfug, dass ich mir jeglichen Kommentar (auch zu weiterem „Ring-Geflüster“) erspare.

Während die beiden darüber sprechen, dass auch Gollum über den Verbleib des Ringes bescheid weiß (vgl. aber Szene 2e!), wird eine entsprechende Folterszene aus Barad-dûr eingeblendet (nichts, was wir nicht schon wüssten; s. Szene 8), und als Frodo bewusst wird, dass man ihn dann auch im Auenland finden wird, werden Schwarze Reiter gezeigt, die gewaltsam ins Auenland eindringen. Die erste Einblendung mag ja noch als „illustrativ“ gelten können (ich halte sie für eine unnötige Zurschaustellung von Grausamkeiten), die zweite jedoch ist totaler Unsinn. Einmal ganz abgesehen von der chronologischen Komponente (s. dazu unten): Was passiert wohl, wenn jemand gewaltsam in ein Land eindringt? Die Verteidigungskräfte werden alarmiert, das Ganze verwandelt sich in einen wildgewordenen Ameisenhaufen. Das ist absolut nicht die Arbeitsweise der Nazgûl! Außerdem dachte ich – nach Szene 10 -, die Schwarzen Reiter wären längst im Auenland!?

Frodo will Gandalf den Ring geben, der ihn jedoch heftig ablehnt, allerdings mit einer dürftigen Begründung: „Der Ring würde durch mich eine zu große und entsetzliche Macht besitzen.“ Nein, er hat Angst, vom Bösen verführt zu werden! Wieder eine völlig unverständliche Änderung des Buches.

1661Schließlich entschließt sich Frodo zur Flucht, aber warum – in Gottes Namen – sollte er nach Bree gehen? Das Ziel war von Anfang an Bruchtal. Warum sollte Gandalf ihn in Bree erwarten – und vor allem: Wie sollte er das anstellen, wenn er zwischendurch einen „Abstecher“ nach Isengard machen will? Von Hobbingen nach Isengard braucht sogar Schattenfell (den Gandalf noch gar nicht kennt) fast eine Woche, während Bree nur drei bis vier Tagesmärsche entfernt liegt. Tolkien schreibt (in Brief 144 [S. 234]) zur Zusammengehörigkeit von Geographie und Zeit: „Ich fing wohlweislich mit einer Karte an und legte die Geschichte so an, dass sie hineinpasste (im allgemeinen mit penibler Beachtung der Entfernungen). Wenn man es umgekehrt macht, landet man in Durcheinander und Unmöglichkeiten …“

Schade, dass die wunderschönen Karten im Film nur zur Dekoration (s. Szene 2a) Verwendung finden. Doch das „Ziel Bree“ führt zu einer weiteren Brutalität gegen die Geschichte: Es zwingt Gandalf zum Lügen! Auf die Frage, ob der Ring in Bree sicher sei, antwortet er doch glatt, er wisse es nicht! So verblödet kann doch wohl kein Zauberer sein, dass er auch nur einen Moment in Erwägung ziehen würde, der Eine Ring des Feindes könne in Bree sicher sein. In Wirklichkeit hält Gandalf nicht einmal Bruchtal für sicher, denn er ist einer der Hauptverfechter der Ringvernichtung (vgl. Szene 29). Warum lässt man also solch eine Frage überhaupt stellen, obwohl sie im Buch nicht vorkommt?

Frodo macht sich reisefertig (s. dazu unten), und Gandalf gibt ihm noch einige Ratschläge mit, z.B. dass er nur bei Tage reisen solle. Frodo sagt ja und Amen dazu, schert sich dann aber nicht weiter darum, damit der Film eine bedrohlichere Atmosphäre bekommt (s. Szene 15/16).Die Sache mit dem lauschenden Sam ist im Ganzen gut und werkgetreu gemacht, doch warum wurde Sams Herzenswunsch, Elben zu sehen, gestrichen und durch Geplapper vom „Untergang der Welt“ ersetzt? Schade.

Übrigens: Die Szene ist durchweg gut gespielt (im Rahmen der genannten falschen Vorstellung von Gandalf am Anfang), und neben Ian McKellen und Elijah Wood beweist auch Sean Astin, dass er für den Sam Gamdschie die richtige Wahl war.

Hier muss noch eine Bemerkung zum zeitlichen Rahmen gemacht werden, der sich mit dieser Szene deutlich zusammenzuziehen beginnt, um dem Film mehr Tempo zu verleihen (was wohl im „modernen“ Film ein Wert an sich zu sein scheint).

Gandalf erreicht Hobbingen am 12. April 3018 und bleibt ein paar Wochen bei Frodo, während derer die Ringprobe, die Gespräche und die Reiseplanungen stattfinden. Es wird ein komplizierter Plan erdacht, damit Frodos Verschwinden aus dem Auenland nicht so auffällt, und als spätester Aufbruchtermin wird Frodos Geburtstag am 22. September festgesetzt. Von einer überstürzten und kopflosen Flucht kann also keine Rede sein, sonst passt ja auch Gandalfs Gefangennahme durch Saruman nicht mehr dazwischen (s. Szene 13), den Gandalf übrigens nicht besucht, um Rat wegen des Ringes einzuholen, sondern weil er dorthin gelockt wird.

Mit Tolkiens eigenen Worten (Briefe 210 [S. 356f.]): „Hier darf ich wohl sagen, dass ich nicht einsehen kann, warum der Zeitplan vorsätzlich zusammengezogen werden sollte. Er ist schon im Original ziemlich vollgestopft, … Die vielen Unmöglichkeiten und Absurditäten, zu denen weitere Beschleunigung führt, werden zwar, nehme ich an, einem unkritischen Betrachter entgehen; aber ich sehe nicht ein, warum man sie unnötigerweise hineinbringen müsste … Eine Zusammenziehung dieser Art ist nicht dasselbe wie die notwendige Verkürzung oder Auswahl der Szenen und Ereignisse, die visuell dargestellt werden sollen.“

12. Aufbruch von Frodo und Sam
Mit dem Aufbruch wartet man schließlich doch bis zum Morgengrauen. Dann hätte man sich ja auch noch einmal ausschlafen können. (Oder hat Frodo doch nicht die ganze Nacht in „Hut und Mantel“ rumgesessen?)

Es wird wieder etwas ruhiger, während die Hobbits unterwegs durch das Auenland sind. Ich möchte jedoch anmerken, dass Gandalf die beiden niemals allein lassen würde, wenn die Situation wirklich so gefährlich wäre, wie in den letzten Szenen angedeutet. Hier passt halt eins nicht zum anderen.

Das Zögern Sams, den einen Schritt zu tun, der ihn weiter von zuhause wegführt als je zuvor, ist zwar nicht gerade glaubwürdig (wer weiß das schon auf den Meter genau?) und kommt (natürlich) auch nicht im Buch vor, aber sie ist ein netter Einfall, um Sams Bodenständigkeit zu zeigen.

13. Gandalf wird von Saruman gefangengesetzt
Diese Szene wird im Buch von Gandalf bei Elronds Rat erzählt. Sie spielt übrigens am 10. Juli, zweieinhalb Monate vor Frodos Aufbruch.

Im Duktus entspricht die Filmdarstellung der Vorlage, aber mit einem wesentlichen Unterschied: Gandalf erzählt Saruman nichts über den Ring, da er ihm nicht traut.

Daneben gibt es noch ein paar kleine Einwände. Saruman zeigt Gandalf nicht den Palantír. Gandalf entdeckt erst später (im Kapitel 11 „Der Palantír“ des 3.Buches [in Band 2]) die Art der Verbindung zwischen Saruman und Sauron. Die Nazgûl überqueren den Isen nicht am Mittsommerabend, sondern am 18. September – über 2 Monate nach diesem Gespräch!

1664Trotz dieser Einwände und obwohl die Szene (in dieser Länge) überflüssig ist, muss ich gestehen, dass sie mir gefällt. Ich habe nun mal eine Schwäche für die Darstellung von Zauberei, die in diesem Film eigentlich immer gelungen ist (vgl. Szenen 26, 36 und 42). Dieser Zaubererkampf erinnert übrigens stark an den Endkampf der beiden Zauberinnen in dem Film „Willow“ von Ron Howard (1988).

Objektiv gesehen gehört dieser Kampf jedoch zu der langen Reihe der Kampf- und Gewaltszenen, die in diesem Film ein deutliches Übergewicht haben.

Ausgesprochen brillant: Christopher Lee als Saruman.

Teil II des Artikels

Dieser Artikel ist Teil unseres umfangreichen Herr-der-Ringe-Specials.

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