Kommentar zu Film und Filmmusik
Der unerwartete Sieg der (west-)deutschen Nationalelf am 4. Juli 1954 im Endspiel um die Fußball-Weltmeisterschaft über die ungarische Mannschaft war Anlass für eine kollektive Euphorie, die in die Aufbruchsstimmung jener Zeit passte. In der Bundesrepublik der Adenauer-Ära standen die Zeichen auf Wirtschaftswunder – etwas, wofür neben dem Aufbauwillen der Deutschen sowohl der Kalte Krieg als auch der (heiße) in Korea bedeutungsvoll waren.
Der Weltmeistertitel war sicher ein Schlüsselerlebnis für das (westliche) Nachkriegsdeutschland auf dem Weg zum „Wir sind wieder wer!“. Allerdings sollte man mit dem Beschwören eines deutschen Heldenmythos, also dem Überhöhen des damaligen Ereignisses zurückhaltend sein, damit die Legende um den vorgeblichen Mythos nicht selbst verklärend wirkt. Hier wird im Umfeld des Filmereignisses m. E. manches denn doch etwas übertrieben dargestellt. Ich kann mich nicht entsinnen, dass – weder in der Schule noch im väterlicherseits fußballbegeisterten Elternhaus – besagtes Wunder von Bern über einen Moment kollektiven Glückszustandes hinaus (weder national noch sonst wie) verklärt betrachtet worden ist. Ich entsinne mich in dem Zusammenhang (ab den 80er Jahren!) eher an kritische Vergleiche zwischen der materiell doch sehr bescheidenen Situation der Berner „Helden“ und den seit den 60er Jahren im deutschen Profi-Fußball immer mehr ins Kraut geschossenen Gehältern bis hin zu den heutigen abgehobenen Fantasie-Gagen …
Natürlich wird ein in Deutschland produzierter Film mit zeitgeschichtlichem Hintergrund von den (nicht allein ausländischen) Kritikern besonders misstrauisch beäugt. Es wird dann mitunter ein Mangel an kritischer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und ein zuviel an (Sieges-)Pathos beanstandet.
Regisseur Sönke Wortmann (Der bewegte Mann) hat sich in seiner Verfilmung des Stoffes für eine Hommage an das große Gefühls- und Unterhaltungskino klassischer Prägung entschieden. Dabei verbindet er im bewährten Erzählstil drei Handlungsstränge durch Parallel-Montage: die Umstände um das WM-Turnier und den Fußballer Helmut Rahn, eine Kriegsheimkehrer-Story mit Familien- und Vater-Sohn-Konflikt sowie die Erlebnisse eines jungvermählten Reporters, der nicht auf seine Hochzeitsreise gehen kann, sondern von seinem Chefredakteur zwecks „Bewährungsprobe“ zur Berichterstattung nach Bern entsandt wird.
Der Film gerät so zum nostalgisch anmutenden, im positiven Sinne, altmodischen Kino-Event für „die ganze Familie“ – etwas, das seit der Karl-May-Film-Welle der 60er kaum mehr geboten worden ist. Den Anspruch dabei zugleich eine Art großer Aufwasch zum Thema Nachkriegsdeutschland, Wirtschaftswunder, Trümmerfrauen und Ost-West-Konflikt sein zu wollen (oder zu müssen), erhebt der Film überhaupt nicht. Gott sei Dank! Dann wäre er wohl eher verkorkst geraten. Letzteres musste ich erfreulicherweise nicht feststellen. Die rund zwei Stunden Kino bieten vielmehr ähnlich wie bei Titanic – wo man den Ausgang ebenso im voraus weiß – eine gelungene, keineswegs spannungs- und humorlose Kinounterhaltung.
Sascha Göpel verkörpert den am 14. August diesen Jahres im Alter von 73 Jahren verstorbenen Helmut Rahn. Rahn ist nicht allein der entscheidende Mann beim Berner Wunder, sondern zugleich Idol und Vaterfigur für den fußballbegeisterten elfjährigen Matthias Lubanski aus Essen-Katernberg. Dieser wird, wie auch die anderen Familienmitglieder, durch den aus russischer Kriegsgefangenschaft traumatisiert heimkehrenden Vater in eine Krise gestürzt.
Der ehemalige Bundesliga-Fußballer Sönke Wortmann hat die Bewältigung der zwischenmenschlichen Probleme innerhalb der Familie Lubanski sehr gefühlvoll umgesetzt. Peter Lohmeyer mag für die Rolle des Kriegsheimkehrers vom Typ etwas zu weich erscheinen. Sein Eingeständnis von Fehlern gegenüber dem Jüngsten, wie auch die recht emanzipiert agierende Mutter (Johanna Gastdorf), die ihrem Mann kräftig den Kopf wäscht, dürften zumindest in der Zeit der Filmhandlung eher die große Ausnahme gewesen sein. Dies beeinträchtigt die Wirkung des Gezeigten jedoch nicht nennenswert. (Originellerweise ist der Darsteller des Matthias, Louis Klamroth, auch im realen Leben Lohmeyers leiblicher Sohn.)
Peter Franke überzeugt in der Rolle des Bundestrainers Sepp Herberger, und der Film bringt auch dessen WM-Taktik nett herüber. Frankes Rolle ist dabei auch angenehm menschlich gestaltet. Hat doch Herberger seine liebe Not mit einem seiner besten Pferde im Stall: Rahn büchst mehrfach zu nächtlichen Sauftouren aus. Recht amüsant ist zudem, wie Herberger die eher beiläufige ironisierende Bemerkung einer Reinemachefrau aufgreift und auf einer Pressekonferenz dem jungen Reporter Ackermann (Lucas Gregorowicz) als Antwort präsentiert.
Nicht allein an dieser Stelle kommt eine gehörige Portion Humor ins Spiel. Gerade in diesem Punkt ist der dritte Handlungsstrang mit dem nach heutigen Maßstäben Münchner „Yuppi-Pärchen“ bedeutend. Warnt doch der Chefredakteur den jungen Ehemann zuvor eindringlich, mit der Ehefrau nach Bern zu reisen, da Frauen der natürliche Feind allen Fußballs seien. Umso origineller ist die Wandlung der anfänglich in der Tat allein verständnislosen „Sie“. So glaubt Annette Ackermann (Katharina Wackernagel), Fußball sei ein Spiel, bei dem 24 Männer einem Ball hinterher laufen. Allerdings lernt die junge Lady rasant schnell und ist bald darauf sogar fitter als ihr Gatte, der die damals gängige, gegenüber Herberger äußerst skeptische Meinung vertritt. Annette durchschaut umso klarer des Bundestrainers Strategie, was manch originell-witzige Film-Situation heraufbeschwört. So wird außerdem ein gekonnt ironisierendes Highlight während der entscheidenden Minuten des WM-Finales geliefert, das über den deutschen Sieg eher zum Schmunzeln anregt, denn zum nationalen Taumel taugt.
Das Endspiel ist spannend inszeniert, die entscheidenden Szenen sehr überzeugend rekonstruiert und entsprechend choreografiert. Wobei selbst die nachträglich digital aufgefüllten Ränge des getricksten Berner Stadions durchaus solide wirken. Hier kann man auch einen an Lassie kehrt heim erinnernden sehr melodramatischen Moment durchaus akzeptieren: Der von seinem Vater schließlich per geliehenem Auto nach Bern gefahrene Matthias und sein Idol, „Boss“ Rahn, stehen sich im Stadion schicksalsträchtig Auge in Auge gegenüber und der Junge kann anschließend als Glücksbringer für das entscheidende Tor fungieren.
Damit lässt es der Regisseur aber dann auch bewenden. Unnötiges Siegespathos, wie das historisch verbürgte Absingen der problematischen ersten Strophe des Deutschland-Liedes, findet nicht statt. Und ebenso unpathetisch arrangiert lässt der Komponist der Filmmusik, Marcel Barsotti, vor dem Endspiel die Hymne aufspielen: in eher schlanker Instrumentierung mit ausgedünntem Blech und allein dezentem Einsatz des Schlagwerks.
Und auch wer originalgetreues Ambiente der 50er zu sehen bekommen möchte, kommt voll auf seine Kosten. Das perfekt ausgestattete Heim der jungen Ackermanns ist authentisch und detailgenau auf den Luxus der Zeit abgestimmt. Es setzt einen markanten Kontrast zur ebenso stimmigen Einfachheit im Hause der Lubanskis und den sorgfältig inszenierten, karg-schäbigen, aber ebenso stimmungsvollen Bildern des noch sichtlich vom verlorenen Krieg gezeichneten Essener Stadtviertels. Und passend zum jeweiligen Ambiente agieren auch die aufgebotenen Schauspieler: Nicht allein die Trainingsszenen für die WM wirken stimmig altmodisch, auch das ansonsten schauspielerisch Gebotene verzichtet erfreulicherweise auf unpassende moderne Mätzchen.
Eingestreut findet sich manches, das den Film partiell durchaus zum atmosphärisch gelungenen Zeitbild werden lässt und auch einiges Verständnis für die damaligen Lebensumstände vermittelt. So wird der aus russischer Kriegsgefangenschaft Heimkehrende nicht einfach zum bemitleidenswerten Opfer verklärt, und der älteste Sohn der Lubanskis macht seiner Mutter klar, dass er keine Ausbildung bei einem Lehrherrn machen will, der mit den Nazis paktierte. Und auch die bescheidenen Lebensumstände des erst langsam greifenden Wirtschaftswunders spiegeln sich in verschiedenen Szenen, wie wenn der 6 : 1-Halbfinalsieg gegen Österreich mit Bildern von kleinen Jungs gegengeschnitten wird, die in Lederhosen auf einem Bolzplatz im Ruhrgebiet mit ihrem Lumpenball parallel ein Spiel austragen.
Bemerkenswert ist auch die Farbdramaturgie, welche die frühen Szenen im Ruhrgebiet in eher gedämpften Farben, vergleichbar mit frühen Farbabbildungen in alten Zeitschriften, präsentiert. Die Szenen in der Schweiz hingegen rufen in ihrer Geranienbuntheit klar alte Heimatfilme in Erinnerung.
Sönke Wortmanns Film erhielt in Locarno zum Teil negative Kritiken, aber dafür bezeichnenderweise den Publikumspreis. Auch hierzulande scheint das nicht ausschließlich für Fußballbegeisterte geeignete, sondern vielmehr familientaugliche Epos sein Publikum zu finden. Dafür sorgen die sorgfältige und liebevolle Ausstattung, durch die es dem Film gelingt, im Zusammenwirken mit den glaubhaft im Stil der Zeit agierenden Darstellern, die Nachkriegszeit stimmungsvoll lebendig werden zu lassen. Hier zeigt Wortmanns Film Parallelen zum aktuellen Seabiscuit von US-Regisseur Gary Ross, der die Zeit der Großen Depression in den 30ern reflektiert. Darüber hinaus wird gut gemachtes Kino der Gefühle ohne (!) Depri-Schluss geboten. Wer sich also nicht dafür schämt, im Kino vielleicht auch emotional berührt zu werden – wer zwischendrin also auch mal den bekannten „Kloß im Hals“ verspüren mag – und auch wer das Lichtspieltheater gern mit einem zufrieden Lächeln verlässt, der liegt hier genau richtig.
Die Filmmusik von Marcel Barsotti
Einen nicht unbedeutenden Anteil an der Wirkung dieser mit 9 Millionen – teuren deutschen Filmproduktion hat die Filmmusik von Marcel Barsotti. Der gebürtige Schweizer vertont seit den frühen 90ern Werbefilme und TV-Produktionen und ist seit 1998 ebenso für das Kino tätig – Für immer und immer (1998), Dolphins (2000) und Grüne Wüste (2001).
Seine gefühlvolle Komposition zu Das Wunder von Bern legt viel Wert auf kammermusikalische Klarheit und Transparenz. Pathos kommt nur sparsam dosiert und dann auch eher zurückhaltend zum Einsatz. (Weder Wortmann noch Barsotti haben hier versucht, den Zweiten Weltkrieg im Berner Stadion zu einem verspäten Sieg umzumünzen.) Vielmehr erklingt zum Siegestaumel der deutschen Mannschaft eine eher tänzerische, etwas an den Ravelschen Bolero erinnernde Musik. Und überhaupt vermag das in weiten Teilen eher zurückhaltende, nicht massig auftrumpfende Klangkonzept mit der im Zentrum stehenden Familiengeschichte im Nachkriegs-Essen zu überzeugen.
Barsotti schreibt zu seiner Musik zu Das Wunder von Bern, diese sei im klassisch amerikanischen Stil verfasst. Die Komposition steht jedoch den Vertretern der alten Komponisten-Garde nur bedingt nahe, lehnt sich stilistisch etwas bei Jerry Goldsmith und besonders bei Thomas Newman, James Horner sowie James Newton Howard an. Besonders die durchsichtig instrumentierten Scherzi erinnern in den Klangfiguren der Streicher und Holzbläser an die (weniger experimentellen) stärker melodisch orientierten Kompositionen Thomas Newmans. Auch die meditativ angehauchten, solistisch angelegten, luftigen Orchester-Elegien – leichter Ethno-Touch inklusive – sowie die entsprechend über ruhigen Klangflächen ausgeführten Klavierpassagen deuten in dieselbe Richtung. Zusätzlich kommt in den Piano-Einlagen ein spürbares Quäntchen Rachel Portman zum tragen. Für das spannend inszenierte Endspiel greift Barsotti zu stärker rhythmisierten Actionmusiken, die etwas an Horner und Newton Howard erinnern – zu den frühen Fußballszenen erklingen stimmig und nicht unelegant die erwähnten tänzerisch anmutenden Orchester-Scherzi. Die Basis bildet ein recht einprägsames Klarinetten-Thema, das den Score in variierter Form durchzieht.
An einigen Stellen greift der Komponist auf Stilschemata der Unterhaltungsmusik der 50er zurück, die als Hintergrundmusik fungieren, aber partiell auch sehr nett in die eigentliche Filmmusik integriert sind. Auch wenn die Musik nur bedingt eigenständig genannt werden kann, sie funktioniert im Film sehr gut und ergibt im sorgfältig erstellten CD-Schnitt ein ebenso taugliches wie gut fließendes Hör-Album. Das CD-Booklet gibt Auskunft über die dafür eingesetzten „Crews“ und weist als Orchester die NDR Radiophilharmonie unter Nic Raine aus.
Das vorliegende Album (auf dem Label „zyx“, ZYX) macht insgesamt einen sehr professionellen Eindruck, etwas, das zu deutschen Filmen eine mit besonders viel Mühe und Engagement verbundene Seltenheit ist. Der dahinter verborgenen Arbeit möchte ich meine Anerkennung nicht versagen. Wertungsmäßig sind rein musikalisch-kompositorisch dreieinhalb Sterne sicherlich ausreichend, das erkennbar besonders sorgfältig produzierte Produkt verdient Rückenwind in Form eines Zuschlages von einem halben Stern und damit eine „Albumbewertung“ von 4 Sternen. Als Vorgeschmack auf den Film (oder auch als zusätzlicher Souvenirbeitrag) funktioniert der als Bonus-Track via Computer abspielbare Film-Trailer.
Wer bei der Musik zum Berner Wunder auf den Geschmack kommt und mehr Musik dieses Komponisten hören möchte, sollte sich das CD-Album zu Dolphins (east-west 8573-84517-2) besorgen. Barsottis Vertonung passt zu den Schlagworten des Films: „A Girl, a Prison, a Dream of Freedom“. Auch hier spiegelt sich Barsottis ästhetisches Bestreben, seine Filmvertonungen möglichst „echt“ orchestral auszuleben.
Die NDR Radiophilharmonie wird vom Brahms Chor (vokalisierend) ergänzt. Die Chorpassagen sind dabei nicht allein in abgedroschener James-Horner-Monotonie gehalten, sondern teilweise mehrstimmig und auch kanonisch gesetzt. Ein Klavier-Trio (Das Brahms Ensemble) sorgt neben dem Klarinettisten Guido Schäfer für ausgeprägt solistische Passagen. Dies und die neben Walzeranklängen verschiedentlich eingesetzten Kanon-Strukturen verleihen dem Ganzen einen klassizistischen Touch. Dem Hörer präsentiert sich eine klangschöne und stimmungsvolle, in weiten Teilen eher intime und meditativ gefärbte Filmmusik, die partiell auch ein wenig an Das Wunder von Bern erinnert (Wertung: 3,5 Sterne).
Link zur offiziellen Film-Seite
Offizielle Homepage von Marcel Barsotti