Kleine Klassikwanderung 31: Dmitri Schostakowitsch
Beim Wirbel, wenn auch dieses Mal nicht allzu penetrant, um den berühmten Salzburger Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart sollte das parallele 100-jährige Geburtstagsjubiläum des Dmitri Schostakowitsch nicht vergessen werden. Von Seiten der Tonträgerindustrie ist der Beitrag zum Schostakowitsch-Jahr auf der einen Seite recht beachtlich. So sind Zusammenstellungen zuvor veröffentlichter Aufnahmen der Sinfonien, Konzerte und Kammermusik im Rahmen preiswerter CD-Boxen für den Einsteiger eine gute und daher auch lobenswerte Sache. Der Schostakowitsch-Kenner vermisst allerdings die Erweiterung des Katalogangebotes bei kaum eingespielter Musik (z. B. die Oper „Die Nase“) und ebenso bei bislang auf Tonträger überhaupt nicht zugänglichen Werken des Komponisten.
D. Schostakowitsch x 2
In die letztgenannte schmerzliche Lücke stoßen immerhin die ersten beiden vorgestellten CD-Alben mit dem Russian Philharmonic Orchestra unter Thomas Sanderling vor. Da gibt’s erstmalig die vollständige Musik zum Animationsfilm Das Märchen vom Popen und seinem Knecht Balda Op. 36 (1934), gekoppelt mit einer interessanten Fundsache, einer kurzen dreisätzigen Orchestersuite aus der Oper „Lady Macbeth von Mzensk“, die vom Komponisten unmittelbar nach Vollendung des Werkes selbst zusammengestellt worden ist. Nachdem das kühne Opernwerk nach anfänglichem Triumphzug 1936 durch den Diktator Stalin mit einem Bannfluch belegt worden war, verschwand das Musikdrama in seiner Originalgestalt für mehr als 25 Jahre im Archiv und mit ihm diese hier erstmals eingespielte, nicht mit einer Opuszahl versehene Konzertsuite aus der Hand des Komponisten
Hauptattraktion des Albums ist sicherlich die Musik zum unvollendet gebliebenen Zeichentrickfilm von Michail Zechanowski, Das Märchen vom Popen und seinem Knecht Balda. Hier begegnet dem Hörer noch der unreglementierte, in der musikalischen Umsetzung des Puschkin-Märchenstoffes innovativ zu Werke gehende junge Schostakowitsch. Im ironisch-sarkastischen und zugleich spritzigen Tonfall erinnert die Musik an seinen filmmusikalischen Erstling Das neue Babylon (1929) und durch die integrierten Gesangseinlagen nebst Chorpassagen ganz besonders an die 1927/28 komponierte groteske Oper „Die Nase“. Erfreulicherweise findet sich das vollständige Quasi-Libretto dieser (fast) schon kleinen Filmoper im Begleitheft auch in Deutsch. Die unvollständige Partitur des ebenfalls Fragment gebliebenen Films wurde vom Schostakowitsch-Schüler Vadim Bibergang komplettiert.
Das zweite Schostakowitsch-Album, „Lieder und Walzer“, vereint mehrere Liederzyklen mit ausgeprägt grotesk-satirischem Tonfall mit einer aus insgesamt acht Walzern bestehenden Konzertsuite. Letztere präsentiert den russischen Meister als eleganten Melodiker in klanglich süffiger, unmittelbar zugänglicher Form. Dies ist etwas, das im häufig von Tragik überschatteten Œuvre des Dmitri Schostakowitsch nur selten zu finden ist. Zum unmittelbaren Charme der abwechslungsreich gestalteten Stücke im Dreivierteltakt bilden die grotesk-zynischen Liederzyklen, vorzüglich dargeboten vom Bassbariton Sergej Leiferkus, einen scharfen Kontrast.
In „Vier Gedichte des Hauptmanns Lebjadkin“ nach Dostojewskis Roman „Die Dämonen“ zeichnete der Komponist, nur ein Jahr vor seinem Tode 1976, das Porträt einer einfältigen und lächerlichen, aber zugleich Furcht einflößenden Figur. Von Spott über kleinbürgerliches Spießer- und Banausentum geprägt und wider Gemein- und Grobheit gerichtet sind die Gedichte des Dichters Alexander Glikberg (1880-1932), die im Jahr 1960 unter dem Pseudonym Sascha Tschornys in Leningrad publiziert wurden. Schostakowitsch formte daraus innerhalb weniger Tage im Sommer 1960 den Liederzyklus „Satiren (Bilder der Vergangenheit)“.
Mangelnde Bildung, Vulgarität und Feigheit des Individuums spiegeln sich in den ursprünglich für Bass und Klavier gesetzten bissigen Texten der „Fünf Lieder nach Texten der (satirischen) Zeitschrift Krokodil“. Darunter findet sich die resignierte Feststellung eines Bürgers, der berichtet, von der Polizei grundlos geschlagen worden zu sein. Im stimmungsvoll mit dem mittelalterlichen „Dies Irae“ unterlegten Lied gesteht der Malträtierte, er bleibe lieber auf dieser einen Tracht Prügel sitzen, als durch eine Beschwerde Gefahr zu laufen, nochmals Prügel zu beziehen. Überhöhung und Krönung der bitteren Realsatire bildet das prophetische, knapp zehn Jahre vor seinem Tod komponierte kleine Vokalwerk „Vorwort zur Gesamtausgabe meiner Werke und kurze Reflexion aus Anlass dieses Vorworts“. In der hintersinnigen Paraphrase zu Puschkins Epigramm über einen talentlosen Lohnschreiber wird nämlich der Name Dmitri Schostakowitsch in breit gestelzten Silben intoniert. Etwas schade ist, dass im Begleitheft die Liedtexte nur in Russisch und Englisch enthalten sind.
Thomas Sanderling, die Musiker des russischen Orchesters und ebenso die weiteren Mitwirkenden, u. a. der Russian State Chamber Choir, legen sich kräftig ins Zeug und bieten (dort, wo nötig) kernig energische Interpretationen dieser aus sämtlichen Lebensabschnitten des Komponisten stammenden Werke — einige sind speziell für diese Einspielung orchestriert worden. Nicht nur für den Filmmusikfreund ist Das Märchen vom Popen und seinem Knecht Balda eine besondere Ausgrabung, ja sogar eine echte Entdeckung und damit das Highlight dieser beiden überhaupt wertvollen Veröffentlichungen anlässlich des 100. Geburtstags des Dmitri Schostakowitsch.
Club 100: Dmitri Schostakowitsch, Gerhard Frommel
Dieses Album ist der Ausgangspunkt einer neuen Alben-Reihe der Universal-Deutsche-Grammophon-Gesellschaft, die Komponisten des 20. Jahrhunderts anlässlich ihres 100. Geburtstags ein klingendes Denkmal setzen möchte. Natürlich bietet sich dafür unmittelbar der Russe Dmitri Schostakowitsch an. Von diesem gibt es das bekannte, originelle Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester, Opus 35, zu hören. Hinzu gesellt sich ein Opus eines bislang praktisch völlig Unbekannten, Gerhard Frommel (1906-1984). Der aus Karlsruhe stammende Gerhard Frommel besuchte ihm Rahmen seiner fundierten musikalischen Ausbildung unter anderem die Meisterklasse bei Hans Pfitzner. Wie dieser sah er in der Tonalität ein organisches Urprinzip in der Musik und nicht, wie die Vertreter der 2. (Neuen) Wiener Schule, allein eine historische Erscheinung. Deswegen fühlte er sich allerdings keineswegs wie sein Lehrer den braunen Machthabern verbunden. Im Gegenteil! Durch seine offen geäußerte Begeisterung für Strawinsky geriet er sogar kurzzeitig ins Visier der Macher der berüchtigten 1938er Ausstellung „Entartete Musik“.
Frommels annähernd zeitgleich zum Konzert für Klavier und Trompete von Schostakowitsch entstandenes Opus 9, das 1934 komponierte Konzert für Klavier, Klarinette und Streichorchester, bildet in gewissem Sinne ein Pendant zum Werk des russischen Kollegen. Beide Konzerte distanzieren sich in ihrer neoklassizistischen Grundhaltung vom klanglichen Überschwang der Spätromantik und sind auch von der Besetzung sehr ähnlich konzipiert. Im Gegensatz zum sehr ironisch-grotesk und stark rhythmisch akzentuiert gehaltenen Schostakowitsch-Konzert ist Frommels Klavierkonzert stärker der „Neuen Sachlichkeit“ Hindemiths verpflichtet, wobei ein dezenter, aber deutlicher romantischer Unterton heraushörbar ist. Darüber hinaus bindet es den zweiten Solisten (Klarinettisten) deutlich stärker ins Geschehen ein, tendiert damit stärker zum Doppelkonzert. Und auch musikalisch zeigt es sich seinem russischen Gegenüber durchaus ebenbürtig. Das Frommel-Opus erweist sich an dieser Stelle als sehr respektable, neugierig auf mehr von diesem Komponisten machende Entdeckung und wird damit zum eigentlichen Bonbon des Eröffnungs-Albums der Reihe „Club 100“.
Die Einspielung des Schostakowitsch-Konzerts stammt aus dem Archiv, exakt aus dem Jahr 1994. Die renommierte Pianistin Martha Argerich und Guy Touvron, Trompete, liefern zusammen mit dem Württembergischen Kammerorchester Heilbronn unter der Leitung von Jörg Faerber eine sorgfältig akzentuierte Interpretation. Auf entsprechend hohem Niveau rangiert die Darbietung des Frommel-Konzerts mit den Nachwuchskünstlern Tatjana Blome, Klavier, und Ib Hausmann, Klarinette, mit der Kammersinfonie Berlin, Dirigent Jürgen Bruns.
D. Schostakowitsch auf Capriccio
Auch das Capriccio-Label ist nicht untätig geblieben und hat zum Schostakowitsch-Jahr neben der bereits Ende 2005 vorgestellten Neueinspielung sämtlicher Sinfonien (siehe Kleine Klassikwanderung Nr. 24), jetzt noch drei Editionen nachgelegt.
Da ist zum einen als Wiederveröffentlichung eine Box, die sämtliche bislang auf Capriccio veröffentlichten Filmmusikeinspielungen des Komponisten enthält — siehe dazu „Zwischen staatlicher Gängelung und praktizierter Kunst: Der (Film-)Komponist Dmitri Schostakowitsch“. Die Aufmachung ist einfach, dafür ist die Box enorm günstig. In einer aufklappbaren Pappbox befinden sich die CDs in weißen, unbeschrifteten Papierhüllen, wie man sie von Computersoftware her kennt. Als Beigabe gibt’s erfreulicherweise ein solides Begleitheft, das die vollständigen Texte zu den Einzelausgaben vereint. Wer bislang noch nicht gekauft hat, sollte hier zuschlagen.
Außerdem schickt Capriccio noch zwei SACD-Editionen mit Neueinspielungen ins Rennen. Zwar finden sich darunter keine Ersteinspielungen, aber neben häufiger im Katalog Vertretenem wie den beiden so genannten „Suiten für Jazz-Orchester“ und den verschiedentlich eingespielten Ballettsuiten „Der Bolzen“ und „Das goldene Zeitalter“ findet sich auf jedem der beiden Alben zumindest eine Rarität. So die reizende Orchestersuite aus der satirisch angehauchten realsozialistischen Operette „Moskau Tscherjomuschki“ sowie eine rund 10-minütige Orchestersuite aus der Filmmusik zu Das Märchen vom Popen und seinem Knecht Balda, letztere ein Appetitmacher auf die oben vorgestellte Gesamteinspielung.
Alles in allem präsentiert sich Dmitri Schostakowitsch auf diesen beiden Alben von seiner leichter zugänglichen Seite. In den elegant instrumentierten Stücken kommt zwar auch das typisch Groteske zum Tragen, aber besonders ausgeprägt vernehmbar ist hier der Schöpfer einfallsreicher, niveauvoller, mitunter schmissiger Unterhaltungsmusik. Einer, der sich ebenso durch ausgeprägtes melodisches Talent auszeichnete. Über welch eine außerordentliche musikalische Begabung der Russe verfügte, macht bereits die überaus originelle Adaption des bekannten Foxtrott-Songs „Tea for Two“ aus dem 1925 entstandenen Vincent-Youmans-Musical „No, No, Nanette“ deutlich. Schostakowitsch ließ sich den Song während einer Eisenbahnfahrt nur einmal von einer Schallplatte vorspielen. Anschließend zog er sich zurück und schuf innerhalb einer Stunde die elegante Orchesterminiatur „Tahiti Trot“. Hier wird die eingängige Melodie nicht einfach nur geschickt adaptiert, sondern vielmehr durch die Handschrift des Komponisten eindeutig mitgeprägt und damit — im positiven Sinne — gekonnt vereinnahmt. Anfang der 80er Jahre erstmalig auf einer russischen Melodiya-LP erschienen, erfreut sich das klanglich reizvolle Stück mittlerweile offenbar wachsender Beliebtheit, was an der in den letzten Jahren zunehmenden Zahl der Einspielungen abzulesen ist.
Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Steven Sloane (Jazz-Suiten, Moskau-Tscherjomuschki-Suite, Tahiti Trot) und ebenso das MDR-Sinfonieorchester unter der Leitung von Dmitrij Kitajenko (Ballettsuiten, Filmmusiksuite) bringen diese zum Teil energiegeladene Musik mit dem gebotenen Temperament und spieltechnischer Präzision zum Erklingen. Der bereits in der zweikanaligen CD-Variante sehr natürlich verräumlichte, transparent und zugleich dynamische Klang ist das Produkt einer vorzüglichen Aufnahmetechnik. Die problemlos zugänglichen Musiken der beiden Alben eignen sich übrigens vorzüglich für den Schostakowitsch-Einsteiger. Dieser bekommt hier die Gelegenheit, sich auf dem Level edler Unterhaltung der Musik dieses wichtigen Komponisten anzunähern. Die beiden SACDs taugen (wie auch Teile der Filmmusiken) damit unter Umständen für manch einen als wertvoller Wegbereiter für das in Teilen schwierigere Œuvre eines der ganz großen Tonsetzer des vergangenen Jahrhunderts.
Dieser Artikel ist Teil unseres umfangreichen Programms zum Jahresausklang 2006.
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