Kleine Klassikwanderung 35: Otmar Suitner

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
2. Juni 2007
Abgelegt unter:
Special

Kleine Klassikwanderung 35: Otmar Suitner auf edel classics

Am 16. Mai 2007 beging Otmar Suitner seinen 85. Geburtstag. Der aus Innsbruck stammende Suitner erlebte beim Salzburger Mozartfest 1934 Richard Strauss als Dirigent der eigenen Sinfonia Domestica und der Jupiter-Sinfonie Mozarts, was bei dem erst 12-Jährigen einen tiefen Eindruck hinterließ. Mit Richards Strauss kam er erneut in den (Lehr-)Jahren am Salzburger Mozarteum in Berührung, wo er bei Clemens Krauss eine umfangreiche musikalische Ausbildung genoss. Sein Lehrer war mit Richard Strauss nicht nur eng befreundet, er war für diesen der wichtigste Uraufführungsdirigent neben Karl Böhm. Den jungen Suitner faszinierten die intensiven Probenarbeiten des Duos Strauss-Krauss zum am 28. Oktober 1942 in München uraufgeführten Konversationsstück für Musik „Capriccio“. Hier erlebte er die Traditionen zweier großer Künstler unmittelbar, was seinen späterhin zum Markenzeichen werdenden unsentimentalen und von zügigen Tempi bestimmten Interpretationsstil entscheidend mitgeprägt hat. Und auch Richard Strauss muss vom Nachwüchsler nicht unbeeindruckt geblieben sein. Gestattete er es diesem doch seine berühmte Oper „Der Rosenkavalier“ für reduziertes Orchester zu bearbeiten. Suitners Neigung Traditionalist im besten Sinne zu werden, zeigte sich auch in seiner Wahl des für die pianistische Ausbildung zuständigen Lehrers Franz Ledwinka. Ledwinka zog er der erheblich berühmteren Elly Ney vor, da dieser noch mit Johannes Brahms und Johann Strauss (Sohn) konzertiert hatte.

Sein Werdegang nach dem Krieg gestaltete sich anfangs eher unspektakulär als Kapellmeister im beschaulichen Remscheid und anschließend in Ludwigshafen/Mannheim. Seine abseits der Metropolen offenbar keineswegs provinzielle Tätigkeit erregte nach und nach auch überregional erstes Aufsehen. Es folgten eine Einladung vom Berliner Philharmonischen Orchester und erste Schallplattenaufnahmen mit den Bamberger Symphonikern für Deutsche Grammophon.

Besonders bekannt machte ihn das anschließende rund 30-jährige Engagement in der DDR. Ab 1960 wirkte er zuerst als Generalmusikdirektor der 1548 gegründeten Staatskapelle Dresden, der sogenannten „Sächsischen Wunderharfe“. 1964 übernahm er, inzwischen bereits zum „König von Dresden“ avanciert, die Leitung der Ostberliner Staatsoper Unter den Linden. Er wurde zugleich zum Chef der Staatskapelle Berlin ernannt — die er als „Meine herrliche Kapelle“ bezeichnete — und der er bis 1990 vorstand. Der Staatskapelle Berlin, dem ältesten Orchester der deutschen Hauptstadt, hat sich Suitner in ganz besonderem Maße verbunden gefühlt. Sein großes Verdienst liegt in der Hebung des durch die Verschärfung der politischen Umstände (wie dem Mauerbau 1961) deutlich gesunkenen Standards dieses traditionsreichen Orchesters. Unter seiner Leitung erreichte die Berliner Staatskapelle wieder das Niveau eines internationalen Spitzenorchesters, dem sowohl auf Tourneen als auch durch diverse Schallplatteneinspielungen erneut große Achtung gezollt wurde. Die Geschichte der berühmten Orchester belegt, wie außergewöhnlich eine derart lange währende Partnerschaft in der Realität ist. In diesem Punkt sind selbst allerberühmteste Meister des Taktstockes in oftmals unrühmlich kurzer Zeit gescheitert.

Suitners (DDR-)Karriere war in vielem zweifellos ein Balanceakt zwischen Ost und West, Kunst und Politik, und wie Igor Heitzmanns aktueller Dokumentarfilm, „Nach der Musik“, nicht ausspart, auch zwischen Ehefrau und Geliebter. Dabei verstand er es, die ihm zur Verfügung stehenden Freiräume zu nutzen und den sozialistischen Kulturbetrieb zumindest in Teilen zu reformieren: Die ersten szenischen Aufführungen von Wagners „Parsifal“ und Pfitzners „Palestrina“ gehen auf sein Konto. Darüber hinaus setzte er sich massiv für die Neue Wiener Schule, besonders Anton Webern, und das ŒŒuvre zeitgenössischer Komponisten der DDR wie Hanns Eisler und Paul Dessau ein. Allerdings bedeutete dies, wie überhaupt sein Engagement in der DDR, dass sein Können hierzulande breiteren Schichten von Klassikfreunden lange Zeit weitgehend verborgen blieb, was ähnlich auch für Herbert Kegel gilt. 1994 dirigierte Otmar Suitner letztmalig in Göteborg. Anschließend zog er sich aus gesundheitlichen Gründen aus dem Opern- und Konzertbetrieb zurück.

Der 85. Geburtstag des Taktstock-Maestros ist ein guter Grund, sich mit Suitners seinerzeit durch „VEB Deutsche Schallplatten“ veröffentlichten Einspielungen zu befassen. Seit den 1990ern hat edel classics in Hamburg auf dem Unter-Label „Berlin Classics“ einen großen Teil dieser klingenden Schätze in tontechnisch sorgfältig aufbereiten CD-Ausgaben erneut zugänglich gemacht. Bereits im Jahr 2002, zum 80. Geburtstag Suitners, erschienen zwei auch preislich attraktive Sammelboxen, die in Form eines großen Querschnitts das Können dieses Dirigenten erfahrbar machen, wie auch ein enorm vielseitiges Repertoire dokumentieren: „Otmar Suitner: 80th Anniversary Special Edition“ (11 CDs) und „Otmar Suitner: Legendary Recordings“ (10 CDs). Die Ausstattung ist einfach, aber solide: Die CDs befinden sich in einer stabilen Pappbox in bedruckten Stecktaschen aus festem Karton.

Einen beeindruckenden Ausflug in die Interpretationsgeschichte klassischer Musik für die kleine Geldbörse bekommt man hier geboten. Damit sind diese beiden Zusammenstellungen aber auch für den Klassikeinsteiger nicht uninteressant, da man in viele wichtige Werke der Musikgeschichte hineinschnuppern kann. Von Anton Bruckner bis Hugo Wolf spannt sich der Bogen in der Jubiläumsbox zum 80. Geburtstag des Dirigenten, wobei sich verschiedene Orchester ein Stelldichein geben: neben der Staatskapelle Berlin die Staatskapelle Dresden, das Leipziger Gewandhausorchester sowie die Rundfunkorchester aus Leipzig und Berlin. Die Box „Legendary Recordings“ vereint ausschließlich Aufnahmen mit der Staatskapelle Dresden, dem renommiertesten Klangkörper der DDR. Das reichhaltige Musikangebot reicht von Georges Bizet bis Carl Maria von Weber.

In beiden Boxen finden sich auch einige eher selten zu hörende Werke. Zu Letztgenannten gehören in der „80th Anniversary Special Edition“ die Serenade Nr. 2 von Robert Volkmann sowie Musik von Max Reger (z. B. Ballettsuite Op. 130), Hans Pfitzner (z. B. „Das Käthchen von Heilbronn“) und Hugo Wolf („Penthesilea“). Ouvertüren von Weber stimmen auf diverse Highlights ein, wie Mozarts Konzertarien mit der Sopranistin Sylvia Geszty, zwei frühe Sinfonien Antonín Dvořáks (Nr. 4 und 5), einen Querschnitt durch die erstklassige 1971er Einspielung von Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel“ sowie eine auch den Einsteiger mitreißende vollständige „Salome“ von Richard Strauss mit Christel Golz in der Titelrolle — siehe auch „Kleine Klassikwanderung 26“. Ein kleines Begleitheft wartet mit einem kurzen Porträt des Dirigenten Otmar Suitner auf.

Die Box „Legendary Recordings“ enthält in der Rubrik „selten gespielte Werke“ die Sinfonien von Bizet und Weber sowie die raffiniert-witzigen „Symphonische(n) Metamorphosen über Themen von Carl Maria von Weber“. Insgesamt vier CDs sind Suitners viel gerühmten Mozartinterpretationen gewidmet, wobei die Sinfonien 29-36 & 38-41 sowie einige der Serenaden zu hören sind. Gekonnt Leichtes in Form schmissig ausmusizierter Suppé-Ouvertüren sowie Tänzen von Strauß und Lanner steht neben Mahlers 1. Sinfonie, Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ und Debussys „Nachmittag eines Fauns“.

Wer sich eventuell für beide Boxen interessiert, der sei zumindest darauf hingewiesen, dass es ein paar Überschneidungen gibt. So sind Tschaikowskys berühmte Streicherserenade, Volkmanns dafür umso seltener zu hörende Serenade Nr. 2, die „Metamorphosen für 23 Solostreicher“ von Richard Strauss sowie Hindemiths „Symphonische Metamorphosen über Themen von Carl Maria von Weber“ in beiden Sets vertreten. Das entspricht im Gesamtumfang rund 90 Minuten Laufzeit. Etwas, das m. E. in Anbetracht des günstigen Preis-Leistungsverhältnisses nicht wirklich dramatisch ist. Klanglich gibt es übrigens in beiden Fällen keine Beanstandungen, werden mindestens gute bis sehr gute Noten fällig.

Darüber hinaus hat edel classics anlässlich des 100. Todestags des tschechischen Komponisten Antonín Dvořák noch einen ganz besonderen Otmar-Suitner-Leckerbissen wiederveröffentlicht: eine Gesamtausgabe sämtlicher neun Sinfonien, zusammengefasst auf fünf CDs, eingespielt mit der Staatskapelle Berlin. Einen auf mehr neugierig machenden Eindruck dieses insgesamt mehr als nur vorzeigbaren Zyklus erhält man bereits durch die CD mit den Sinfonien 4 & 5 in der „80th Anniversary Special Edition“. Suitner präsentiert seinen Dvořák durchgehend eher nüchtern, aber keineswegs trocken und leidenschaftslos. Er liefert Interpretationen abseits überzogen sentimentaler Romantisierung, frei von allzu schwelgerischem Pathos und belastender Schwere. Vielmehr geht es straff und zupackend, in zügigen Zeitmaßen zur Sache. Woraus ein frisches, geschärftes und klanglich betont transparentes Bild des gesamten Sinfonienzyklus resultiert.

Die „Sinfonie aus der neuen Welt“ (Nr. 9) ist zweifellos das Paradestück des gesamten Sinfonienzyklus und überhaupt im Werkkatalog des Tschechen. Abseits von diesem ganz großen Hit Dvořáks und dem ebenfalls sehr beliebten Cellokonzert erhalten neben einigen der Slawischen Tänze praktisch nur die Sinfonien Nr. 7 und 8 vereinzelt die Chance einer Aufführung — siehe auch Klassikwanderung 7. Dvořák hat aber eindeutig mehr an Hörenswertem zu bieten als die vorstehend genannten Werke. Hier lohnt es sich unbedingt, eingehender auf Entdeckungsreise zu gehen.

Zwar sind die ganz frühen Sinfonien des böhmischen Meisters noch keine großen Vertreter ihrer Gattung. Es handelt sich um zwar an Vorbildern orientierte, jedoch zweifellos sorgfältig gestaltete klassizistische wie romantische Fingerübungen. Diese Frühwerke offenbaren dem Hörer so manchen überaus schönen und auch formtechnisch gut umgesetzten Einfall. Gerade in den langsamen lyrischen Sätzen findet sich dabei so manche feine volkstümlich anmutende Melodie. Wobei sich nach und nach, besonders spürbar in den Sinfonien 4 und 5, der Übergang zum eigenen rhapsodischen Personalstil vollzieht.

Der Dvořák-Interessierte erhält diesen im Katalog erheblich seltener anzutreffenden Sinfonienzyklus komplett aus einer Hand, dazu in ausgewogener, dabei vorzüglich lebendiger und wo geboten auch feuriger Darstellung. Hinzu kommt die praktisch als perfekt zu bezeichnende Tonqualität der zwischen 1979 und 1983 entstandenen Aufnahmen. Dass darüber hinaus nicht nur der Preis sehr günstig ist, die Box sogar ein kleines Begleitheft enthält, welches immerhin mit soliden Einsteiger-Infos (in Deutsch und Englisch) zum Werk und Dirigenten aufwartet, das macht diese überaus feine Edition ganz besonders empfehlenswert.

Dieser Artikel ist Teil unseres Spezialprogramms zu Pfingsten 2007.

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