3. Warum es besser gewesen wäre, sich an die Vorlage zu halten
„Die Regeln der Erzählkunst können von Medium zu Medium nicht vollkommen verschieden sein; und der Fehler schlechter Filme liegt oft gerade in der Übertreibung und im Eindringen unerwünschten Stoffes, weil man nicht erkennt, wo der Kern des Originals liegt.“ — (Tolkien, Briefe, Nr. 210, S. 355).
Diese grundsätzliche Anmerkung von J. R. R. Tolkien trifft auf die Filmtrilogie von Peter Jackson leider an vielen Stellen zu. Dass in den Filmen oft Übertreibungen und auch ein „Eindringen unerwünschten Stoffes“ (unerwünscht aus der Sicht des Autors und auch aus meiner) stattfinden, habe ich in den ersten beiden Teile dieses vierteiligen Artikels dargelegt. Nun bin ich nicht der Meinung, dass wir es hier mit „schlechten Filmen“ zu tun haben, aber dass die Filme bei stärkerer Anlehnung an die Vorlage noch gewonnen hätten, gilt es im Folgenden darzulegen.
Wie schon mehrfach gesagt (und im Titel dieses Beitrags angedeutet), gibt es selbstverständlich auch bei Literaturverfilmungen so etwas wie künstlerische Freiheit. Und die meisten Änderungen und Verdrehungen könnte man ja akzeptieren, wenn sie doch nur zu einer Verbesserung der Filme führen würden. Das Gegenteil ist jedoch fast immer der Fall.
Im zweiten Kapitel dieses Artikels habe ich einige Argumente zusammengestellt zu der Frage, warum die Film-Trilogie kein Meisterwerk der Filmkunst ist. Diese Liste greife ich nun unter der Fragestellung dieses Kapitels wieder auf.
Da ist zunächst die Überstrapazierung von Stilmitteln. Wenn es auch die filmtypische Zeitlupe im Buch naturgemäß nicht gibt, so habe ich doch bei den Pseudo-Toden und beim Deus ex machina bereits in Kapitel 2 gezeigt, dass Tolkien diese Mittel wesentlich sparsamer verwendet. Die Rettung in letzter Sekunde — wie ich sie in Kapitel 2 dargestellt habe — gibt es im Buch nicht. Man sieht schon, dass Tolkien mit seinen Stilmitteln wesentlich sorgfältiger umgegangen ist als die Filmmacher.
Wir kommen zur langen Liste von Unlogik, Unglaubwürdigkeit und grobem Unfug in den Filmen. Im Einzelnen wird gezeigt, wie die Darstellung im Buch schlüssiger, glaubwürdiger und damit einfach besser ist. Viele Absurditäten entstehen aber auch schlicht durch das oben genannte „Eindringen unerwünschten Stoffes“. [Nicht jeder Punkt hier entspricht genau einem Punkt aus Kapitel 2.]
- Prolog (I.1/I.2): Auch das Buch hat einen Prolog (in der alten deutschen Übersetzung „Einführung“ genannt). Dort erfährt man etwas Allgemeines über Hobbits und ihre Geschichte, über Pfeifenkraut, über das Auenland und schließlich über den Ringfund; außerdem einige „Anmerkungen zu den Aufzeichnungen vom Auenland“. Davon sind lediglich die paar Seiten über den Ringfund für den weiteren Verlauf der Geschichte von Bedeutung. Sie entlasten gleichzeitig das Kapitel „Der Rat von Elrond“, in dem alle anderen Informationen des Film-Prologs gegeben werden.
Eine solche Änderung im dramaturgischen Ablauf muss natürlich nicht unbedingt schlechter sein, aber man sollte nicht noch zusätzlich Fehler einbauen, wie den Unsinn, den Galadriel erzählt, oder die fehlende Begegnung von Bilbo und Gollum. - Bilbos Abschiedsrede (I.5): Die im Buch so schöne, gut vorbereitete Rede wird im Film zur Peinlichkeit.
- Nazgûl im Auenland (I.10/I.11): Die Unlogik der Darstellung hätte man sich ersparen können, wenn man das Raum-Zeit-Gefüge nicht zerstört hätte, das im Buch (auch im Zeittafel-Anhang) minutiös dargestellt ist.
- Aufbruch nach Bree (I.11/I.12): Im Buch wird von Anfang an deutlich, dass selbst Bruchtal nur ein vorläufiges Ziel sein kann. Bree wird dagegen als Treffpunkt vereinbart, falls Gandalf nicht rechtzeitig vor Frodos geplanter Abreise zurückkehrt; denn Gandalf will die Hobbits natürlich begleiten. Auch hier führt die Zusammenziehung von Raum und Zeit zu weiteren Absurditäten. Der überstürzte und deshalb völlig planlose Aufbruch aus Hobbingen führt z. B. zu der Notwendigkeit, Merry und Pippin „zufällig“ zu treffen (I.14), woraufhin diese sich spontan (und ohne Gepäck) zur Mitreise entschließen (man weiß auch nicht warum, da ihr Freundschaftsverhältnis zu Frodo vorher nicht thematisiert wurde).
- Die Nazgûl und der Ring (I.15/I.25/II.60): Im Buch kommen die Schwarzen Reiter dem Ring nie so nahe, dass sie ihn sich mit Gewalt nehmen könnten (außer am Fuße der Wetterspitze, wo sie jedoch von Aragorn vertrieben werden). Im Film könnten sie gleich dreimal einfach zum Schwert greifen und den Ringträger an der weiteren Flucht hindern.
- Patzer im „Tänzelnden Pony“ (I.17): Gehört meiner Ansicht nach zu den völlig misslungenen Szenen (s. u.).
- Vertrauen zu Streicher (I.18): Durch eine schöne Episode mit Streichers zerbrochenem Schwert auf Frodos Zimmer wird von Tolkien sowohl das Schwert bereits eingeführt als auch plausibel erklärt, warum die Hobbits diesem Fremden ihr Leben anvertrauen.
- Schwerter der Hobbits (I.22): Im Buch bekommen die Hobbits ihre Schwerter auf den Hügelgräberhöhen. Da diese im Film zusammen mit Tom Bombadil weggefallen sind (was ich zwar schade, aber durchaus okay finde), hätten die Schwerter auf plausiblem Wege eingeführt werden müssen (z. B. durch einen Einkauf in Bree).
- Wetterspitze (I.22): Tolkiens Streicher lässt die Hobbits natürlich nicht allein zurück. Und auch das Problem mit den verbrannten, bald (I.24-26) aber wieder auftauchenden Ringgeistern entsteht nur durch die Hinzufügung eines weiteren unnötigen Kampfes. Eine Verfilmung des Kapitels „Ein Messer im Dunkeln“ wäre an dieser Stelle sicher eindrucksvoller gewesen.
Auch die ganze Misere um das Schwert Narsil/Andúril ist wohl zumindest zum Teil auf diesen zusätzlichen Kampf zurückzuführen. Im Buch hat Streicher das geborstene Schwert als Zeichen seiner Herkunft immer dabei; es wird vor dem Aufbruch der Gemeinschaft aus Bruchtal neu geschmiedet. Im Film verliert das Schwert an Bedeutung (es wird weder bei Streichers Treffen mit Frodo [I.18] noch bei Elronds Rat [I.32] gezeigt und tritt erst in Die Rückkehr des Königs wieder in Erscheinung [III.10/30]), obwohl man sie eigentlich stärken will; schließlich wird es in Bruchtal als eine Art Heiligtum auf einem Altar aufbewahrt (I.30), und am Ende der Geschichte ist es offenbar das Schwert, was Aragorn zum König macht (III.30/35). - Elbenkriegerin Arwen (I.24-26): In Tolkiens Werken wird meines Wissens an keiner Stelle etwas über Arwens kriegerische oder politische Ambitionen berichtet. Das erspart dem Waldläufer Aragorn eine peinliche Überraschung (I.24) und macht das Fehlen Arwens in Elronds Rat (I.32) nicht erklärungsbedürftig. Außerdem wirkt die Persönlichkeit Arwens im Buch viel glaubwürdiger, auch wenn sie im Ringkrieg nur eine Randfigur ist. Etwas von der Liebesgeschichte zwischen Aragorn und Arwen in die Filme zu bringen ist ja gut und schön — aber dann doch bitte schlüssig und so, dass es auch eine Bedeutung hat. Das Material dazu steht in Anhang A.I.5 des „Herrn der Ringe“.
- [Anschwellen des Bruinen (I.26): Das ist mal ein Fehler, der nicht auf das Drehbuch, sondern auf die Auswahl des Drehortes zurückzuführen ist.]
- Arwens Gnade (I.26): Wieder so eine lausige Idee, um Arwens Bedeutung zu stärken. Etwas Ähnliches (weniger schmalzig) gibt es in der Vorlage am Ende der Geschichte, nachdem Frodo sich als Retter Mittelerdes bewiesen hat. Da macht so etwas Sinn.
- Elronds Rat (I.32): Siehe unten bei den völlig misslungenen Szenen.
- Gimli und Moria (I.39): Da Balins Geschichte bei Elronds Rat (I.32) nicht erzählt wird, muss die Verbindung Gimlis zu Moria „neu erfunden“ werden; es wird der Anschein erweckt, als hätte das Zwergenreich dort bis vor kurzem noch geblüht (I.35/37/39). Doch ist auch bei dieser Veränderung wieder ein logischer Fehler unterlaufen, so dass Gimli heulend losstürmt, ohne vorher zu gucken.
- Umzingelung durch Moria-Orks (I.40): Im Buch fliehen unsere Freunde durch eine Hintertür aus der Kammer von Mazarbûl und gewinnen dadurch einen deutlichen Vorsprung vor ihren Verfolgern.
- Felsentreppe (I.41): Im Buch gibt es solch unglaubwürdige Darstellungen nicht.
- Gandalfs Sturz (I.42): Im Buch stürzt Gandalf glaubwürdig schnell ab, anstatt die Szene unnötig in die Länge zu ziehen.
- Gefangennahme in Lórien (I.44): So unglaubwürdig kann man das wohl nicht in einem Buch beschreiben. Das schafft man nur mit Kameraeinstellungen, die davon ausgehen, dass die Protagonisten im Film nichts außerhalb des Bildausschnitts sehen können.
- Galadriel und Boromir (I.47): Im Buch wird erzählt, dass Galadriel alle Mitglieder der Gemeinschaft mit ihrem Blick festhält und diese das Gefühl haben, vor eine Wahl gestellt zu werden. Im Film wird es so dargestellt, als ob Galadriel bereits von Boromirs Verrat wüsste. Dadurch wird es natürlich absurd, diesen weiter mitreisen zu lassen.
- Sarumans Wissen (I.48): In der Vorlage ist die Orktruppe, die die Hobbits am Ostufer des Anduin fängt, nur eine von vielen, die überall ausgeschwärmt sind mit mehr oder weniger unbestimmten Aufträgen. Die Darstellung im Film ist dagegen erklärungsbedürftig.
- Boromir und Frodo (I.52): Boromir bekommt Frodo im Buch nicht zu fassen, so dass eine so absurde Situation nicht entsteht.
- Zerfall des Bundes (I.54/56/62): Im Buch geschieht alles ganz logisch und alle Handlungen werden vernünftig motiviert. Doch das geht im Film alles im Kampfgetümmel unter.
- Ober-Ork (I.58-59): Diesen gibt es in der Vorlage nicht. Die Orks sind eine mehr oder weniger gleichförmige Masse von Gegnern, sodass sich nicht so völlig überzogene Unterschiede ergeben.
- Aragorn und die Orks (I.59/I.60): Da Aragorn im Buch keinen lebenden Ork zu Gesicht bekommt, hätte man sich auch diese unglaubwürdigen Szenen ersparen können, die wiederum (vgl. I.44) davon ausgehen, dass die Protagonisten im Film nichts außerhalb des Bildausschnitts sehen können.
- Boromirs Bestattung (I.62): Warum müssen auch Legolas und Gimli noch Frodo und Sam sehen? Das Buch erspart uns solchen Unsinn.
- Gandalfs Fall (II.1): Im Buch gibt es ja solche Details nicht, aber Tolkien hätte vielleicht so einen physikalischen Fehler nicht gemacht.
- Treffen mit Baumbart (II.13): Im Buch ist sehr schön beschrieben, dass Baumbart die Hobbits nicht getötet hat, weil er sie zuerst sprechen hörte, bevor er sie sah. Eine stimmungsvolle Waldszene wäre sicher interessanter und besser gewesen als noch eine weitere Gewaltszene.
- Sams und Frodos Rutschpartie (II.18): Da eine solche Szene im Buch nicht existiert, hätte man sich das sparen können.
- Alter Weidenmann (II.19): Der Alte Weidenmann gehört natürlich in den Alten Wald in der Nähe des Auenlandes. Eine Deplatzierung direkt vor Baumbarts Enthaus ist unpassend.
- Diplomatische Übergriffe (II.20/III.36/47/64): Sämtliche diplomatischen Gewaltexzesse sind (natürlich) für die Filme hinzugedichtet worden. Da wäre es wohl besser gewesen, man hätte sich das verkniffen.
- Eldar und Elrond (II.48/53/III.30): Weder ein Heer der Eldar noch Herr Elrond kommen im Ringkrieg nach Rohan. Das ist auch nicht nötig, da Tolkien in der Lage ist, sowohl den Sieg über Saruman als auch die Wahl des Pfades der Toten besser und durchaus logisch zu erklären.
- Unglaubwürdige Kampftricks (II.49/51/53/58, aber auch ständig bei der Schlacht auf dem Pelennor in Die Rückkehr des Königs): In Büchern braucht man solche Tricks nicht (würde in der Detailbeschreibung sicher auch bald ebenso langweilig wie langwierig). Wenn die Filmschaffenden meinen, so etwas zu brauchen, fehlt es vielleicht an anderer Stelle?
- Verhandlungen mit Saruman (II.4): Im Buch gibt es über der Eingangstür einen Balkon, von dem aus eine Kommunikation noch tadellos möglich ist. Wirkt vielleicht etwas weniger eindrucksvoll, dafür aber glaubhafter.
- Fliegender Heerführer (III.15/24/40): Im Buch steigt der Hexenkönig erst auf sein Flugtier um, wenn die Tore der Stadt gesprengt sind und er aktiv am Kampf teilnehmen will.
- Einnahme von Osgiliath (III.18): Selbst wenn dieses Geschehen im Buch beschrieben würde, wären Tolkiens Figuren taktisch sicher nicht so unfähig.
- Opferung Faramirs (III.26/28): Wieder so ein „unerwünschter Stoff“, der in diesen Film eingedrungen ist.
- Schlafen am Abgrund (III.27): Auch das gibt es in der Vorlage nicht.
- Pfade der Toten und Kankras Lauer (III.35/38): Natürlich kann man es im Film nicht völlig dunkel werden lassen (jedenfalls nicht über längere Zeit), wie es im Buche steht. Aber etwas weniger Licht würde diese Szenen schon geheimnisvoller und spannender machen, und man würde auch diese billigen Horrorklischees wie Skelette und Spinnweben nicht so sehen.
- Mürbe Verteidigungsanlagen (III.36, auch II.51/57): Aus der Vorlage geht klar hervor, dass wir es in etwa mit dem technischen Stand des Mittelalters zu tun haben, das heißt die Mauern dienen tatsächlich der Verteidigung der Stadt bzw. Burg und sind nicht nur zur Zierde da, und die Tore sind die schwächste Stelle der Stadt- bzw. Burgmauern.
- Frodo/Sam gegen Kankra (III.38/43): In der ursprünglichen Geschichte können Frodo und Sam die Riesenspinne nur gemeinsam (und mit Hilfe von Galadriels Phiole) in mehreren Schritten bezwingen bzw. sie mehrmals in die Flucht schlagen.
- Rettung Faramirs (III.41/44/47): Tja, im Buch gibt es den Wächter Beregond, der Denethors Bedienstete mit Waffengewalt davon abhält, Feuer in die Grabstätte zu bringen. Dadurch verschafft er Pippin und Gandalf die nötige Zeit, um rechtzeitig zur Rettung die Stadt zu durchqueren.
- Trolle (III.42, aber auch I.39/III.70): Trolle sind zwar auch ursprünglich durchaus sehr gefährliche Gegner, aber wie so oft wird hier mal wieder enorm übertrieben, was eben der Logik nicht immer gut tut.
- Gandalf und der Hexenkönig (III.45): Wieder ein hinzugedichteter Kampf (III.45), der ad absurdum führt. Wie spannend ist das eigentlich, noch einen und noch einen und noch einen Kampf zu sehen anstatt zwei mächtige Anführer, die sich auf Streitrössern gegenüberstehen und einen Kampf des Geistes führen, bis dieser durch äußere Einflüsse jäh unterbrochen wird? So steht es nämlich im Buche.
- Große Heerführer (III.46/65/67): In beiden Fällen stehen die einleuchtenden taktischen Konzepte in Tolkiens Buch, wurden jedoch nicht beachtet.
- Kämpfende Hobbits (III.48/58 im Vergleich mit III.36): Warum muss immer alles übertrieben werden? Aus dem Buch geht ganz klar hervor, dass die Hobbits in einem Zweikampf mit einem Ork oder Menschen aufgrund ihrer unterlegenen Größe und fehlenden Kampfausbildung kaum Chancen hätten.
- Merry und Éowyn (III.53/54/56/57): Im Buch ist Éowyn, die den Hauptteil des Angriffs des Hexenkönigs abgekriegt hat, bewusstlos. Merry redet mit dem sterbenden König und verirrt sich auf dem Weg vom Schlachtfeld in die Stadt. So ist die Geschichte logisch und in sich schlüssig.
Des Weiteren hatte ich im zweiten Kapitel dieses Artikels bereits das fehlende Verständnis für politische Situationen, Zusammenhänge und Entwicklungen beklagt, ein Verständnis, das man gerade bei Tolkien sehr schön hätte nachlesen können, wie ich ja am Beispiel der Grundlagen von Aragorns Königtum als Vorbereitung der Rückkehr des Königs gezeigt habe. Auch alle weiteren Punkte dieser Mängelliste (Einfälle der Schwarzen Reiter ohne Widerstand; desolater Zustand von Rohan und Gondor; Gewaltexzesse auf diplomatischem Parkett; regierungsunfähige Herrscher, die nicht abgesetzt werden; sinnlose Streitgespräche statt Beratung und Diskussion) sind nur durch Abweichungen von der Vorlage entstanden und hätten somit leicht vermieden werden können.
Ich hatte bemängelt, dass der Regisseur oftmals auf Tricktechnik statt Schauspielkunst vertraut hat. Das resultiert zum Teil aus Fehlinterpretationen der Buchvorlage. So heißt es beim Wiedersehen mit Bilbo im Kapitel „Viele Begegnungen“ (Zitat nach der alten Übersetzung): „Beim Anziehen hatte Frodo festgestellt, daß ihm der Ring, während er schlief, an einer neuen Kette, die leicht, aber kräftig war, um den Hals gehängt worden war. Langsam zog er ihn jetzt heraus. Bilbo streckte die Hand aus. Aber Frodo zog den Ring rasch zurück. Bekümmert und verblüfft stellte er fest, daß er Bilbo gar nicht mehr sah; ein Schatten schien zwischen sie gefallen zu sein, und durch diesen Schatten sah er ein kleines, runzliges Geschöpf mit einem gierigen Gesicht und knochigen, grapschenden Händen. Er verspürte den Wunsch, ihn zu schlagen.“ Daraus wird im Film (I.33) eine Szene, in der Bilbo wirklich für eine Sekunde zum Monster wird — ein reiner Schockeffekt. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit der Versuchung Galadriels (I.47) und der Besessenheit Théodens (II.20), während in den anderen genannten Fällen die Effekte einfach nur frei erfunden sind: Pippin und der Palantír (III.8), Pfade der Toten (III.35), Saurons Mund (III.64).
Zum Übergewicht von Kampf- und Gewaltdarstellungen habe ich, glaube ich, im zweiten Kapitel schon genug gesagt. Aus der dortigen Liste geht bereits hervor, dass das bei näherer Orientierung am Original nicht passiert wäre.
Damit wären die Kritikpunkte aus Kapitel 2 im Sinne der Fragestellung dieses Kapitels abgearbeitet. Doch bin ich damit noch nicht am Ende meiner Argumentation, warum es besser gewesen wäre, sich an Tolkiens Vorlage zu halten. Einige weitere Punkte sollen hier kurz angeschnitten werden.
Die Qualität der Dialoge schwankt auffällig. (Ich beziehe mich hier durchweg auf die deutsche Synchronfassung. Einen Abgleich mit der englischen Originalfassung habe ich nicht durchgeführt. Für Hinweise wäre ich dankbar.)
Gute Dialoge finden sich besonders in enger Anlehnung an das Buch (wenn auch manchmal an anderen Stellen der Geschichte): I.4 (Gandalf und Bilbo), I.38 (Gandalf und Frodo über Gollum), II.26 (Aragorn und Éowyn), III.50, III.52 (Hexenkönig mit Théoden, Éowyn und Merry).
Dagegen gibt es oft sinnfreie, unsinnige, ja idiotische Dialoge trotz besserer Vorlage, oder wenn die Vorlage entstellt wird: I.6 (Satz Gandalfs), I.11 (Begründung für Gandalfs Ring-Angst), I.11 (Ziel Bree), I.11 (Sam plappert vom „Untergang der Welt“ statt von seinem Herzenswunsch, Elben zu sehen), I.29 (Gandalf und Elrond), I.46 (Aragorn und Boromir in Lórien), I.51 (Unterhaltung am Ufer des Anduin), I.57 („Horn Gondors“), I.60 (Boromirs Tod), I.62 (Aragorn, Legolas und Gimli tauschen heroische Platitüden aus). Ich habe hier nur Beispiele aus „Die Gefährten“ aufgelistet, da ich dessen Szenen auch in den Dialogen ausführlicher besprochen habe. Ähnliches gibt es aber auch im zweiten und dritten Film, z.B. in II.20 (Gespräch zwischen Éowyn und Schlangenzunge) und in III.11 (Gandalf streitet mit Denethor).
Auf der einen Seite wurde wie beschrieben dem Material für die Filme eine ganze Menge hinzugefügt, auf der anderen Seite jedoch fehlen wichtige oder filmisch effektvoll einzusetzende Buchsequenzen.
- I.5: Hier wäre doch Gandalfs Blitz bei Bilbos Verschwinden ein Knalleffekt gewesen.
- I.15/16: Der Alte Wald, Tom Bombadil und die Hügelgräberhöhen sind komplett aus der Geschichte verschwunden — fast komplett, muss man wohl sagen, denn die Episode mit dem Alten Weidenmann taucht unpassenderweise an anderer Stelle, nämlich bei Baumbarts Enthaus, wieder auf (II.19).
- I.16: Die im Buch beschriebene Vergesslichkeit von Gerstenmann Butterblume (der Wirt im Tänzelnden Pony) hätte als komische Einlage für eine Aufhellung der Stimmung sorgen können.
- I.18/19: In Bree hätte man auch zeigen können, wie Merry unter den Schwarzen Atem fällt. Das hätte die Macht der Ringgeister schön verdeutlicht.
- I.39: Gandalfs Zauber zum Verschließen der Rückzugstür an der Kammer von Mazarbûl ist einer der wenigen Zauber, die im Buch explizit genannt werden. Er fiel leider dem veränderten (und völlig unglaubwürdigen) Fluchtplan zum Opfer.
- I.49/II.11: Gimlis Verehrung für Galadriel (in SEE angedeutet, aber nicht weiter verfolgt) hätte Gimlis Figur mehr Tiefe verliehen (im Film ist er eigentlich nur der wüst-tollpatschige Haudegen). Ihr Wegfall führt außerdem zu der sehr dürftigen neuen Grundlage für den Zwist mit Éomer.
- I.53: Statt vom Sitz des Sehens einen schönen Rundumblick über die Geographie und damit eine Vorschau auf die bevorstehenden Reisen zu geben, wird Frodos Aussicht auf Barad-dûr beschränkt.
- II.32/III.30: Die Dúnedain des Nordens fehlen völlig. Offenbar hat das Autorenteam nicht verstanden, welche wichtige Rolle sie für Aragorns Königtum spielen (s. a. meine Anmerkungen dazu in Teil 2 des Artikels).
- II.39: Hier wäre die Gelegenheit gewesen, den Blick der Zuschauer zu erweitern und die anderen Kriegsschauplätze des Ringkrieges zu zeigen.
- II.51: Man hätte ein bisschen weniger Gemetzel und dafür Aragorn auf der Mauer der Hornburg zeigen können, wie er mit den Orks verhandelt und den Umschwung der Schlacht bei Sonnenaufgang ankündigt. Das hätte dem Prestige des zukünftigen Königs sicher mehr genützt als ein paar tote Feinde mehr oder weniger.
- III.14: Beregond und sein Sohn wurden leider ebenso aus dem Drehbuch gestrichen wie Fürst Imrahil von Dol Amroth und die anderen gondorianischen Großen. Dadurch wird Minas Tirith (und ganz Gondor) völlig unpersönlich und gesichtslos.
- III.40/42: Der Zauber des Hexenkönigs bei der Zertrümmerung der Tore von Minas Tirith wurde ebenfalls leider weggelassen.
- III.47: Wie eindrucksvoll wäre eine Darstellung von Denethors Palantír gewesen, wie sie im Buche steht — nachdem sich Denethor damit auf seinen Scheiterhaufen gelegt hat, zeigt der Stein nur noch zwei verbrennende Hände. Statt dessen bekommen wir nach dem völlig verzeichneten Truchsess und der unmöglichen Rettungsaktion lediglich einen billigen Showeffekt in Form eines in die Tiefe stürzenden brennenden Menschen — was noch dazu angesichts der städtischen Topographie unglaubwürdig erscheint.
- III.56: Ich kann es nicht oft genug sagen: In den Häusern der Heilung hätten die „Heilenden Hände“ des Königs eindrucksvoll dargestellt werden können und müssen.
- III.75: Die Befreiung des Auenlandes durch die aus dem Ringkrieg zurückkehrenden Hobbits fehlt im Film. Schade, denn hier hätte man nicht nur noch ein bisschen Action gehabt, sondern man hätte auch zeigen können, wieviel „größer“ die Hobbits durch ihre Abenteuer geworden sind, nämlich zu Anführern ihres Volkes. Außerdem hätte man nach all den Gewalttaten gesehen, dass man bei der Konfliktlösung Blutvergießen auch vermeiden oder zumindest begrenzen kann.
Es wird immer wieder gesagt, dass eine Literaturverfilmung sich schon allein deshalb von ihrer Vorlage lösen müsse, weil man im Film gar nicht die Zeit hat, alle Details darzustellen. Das ist sicherlich richtig. Gleichzeitig wird in dieser Filmtrilogie aber sehr viel wertvolle Zeit verschwendet, von der man sich wünscht, dass sie vielleicht für die oben genannten, schmerzlich vermissten Buchsequenzen verwendet worden wäre.
- Das ausführliche Vorführen der bösen Seite kostet Zeit, bringt aber nur (Horror-)Effekte: I.8 (Gollum in Barad-dûr), I.21 (Saruman zerstört die Gärten von Isengard), I.23 (Saruman züchtet Uruk-hai), I.35 (Crebain erstatten Bericht), I.48 (Entsendung der Uruk-hai), I.50 (Marsch der Uruk-hai), II.6 (Saruman hetzt die Dunländer auf), II.25, II.27 (Schlangenzunge bei Saruman), II.36 (Isengards Heer zieht in die Schlacht). Erst im dritten Film, „Die Rückkehr des Königs“, stehen die beiden Seiten in fortwährendem Kontakt, sodass ein ständiges Hin- und Herblenden angebracht erscheint.
- Durch überflüssigerweise hinzuerfundene Szenen wird des Weiteren enorm viel Zeit verschwendet: I.1 (Worte Galadriels), I.30 (Bei Narsil), I.31 (Aragorn und Arwen), I.35 (Boromir hebt den Ring auf), I.41 (zusammenbrechende Felsentreppe), I.46 (Aragorn und Boromir in Lórien), II.21-22 (Théodreds Begräbnis und Théodens Trauer und Verzweiflung), II.24 (Brego), II.33 (Reminiszenzen an Arwen), II.34 (Angriff der Wargreiter), II.34, II.37, II.43 (Aragorns Pseudo-Tod-„Ausflug“), II.38 (Diskussion zwischen Arwen und Elrond), II.41 (Erinnerungen Faramirs an Boromir), II.55, II.57, II.60 (der Ring in Osgiliath), III.7 (Éowyns Traum), III.12 (falsche Informationen über Gondor), III.18, III.21, III.28 (Kampf um Osgiliath), III.25 (Vereidigung von Pippin [zumindest hier überflüssig]), III.30 (Elrond bringt Andúril), III.35 (Verhandlungen mit dem Geisterkönig), III.49 (Gandalfs esoterische „Weisheiten“). Dies sind wohlgemerkt nur die Szenen, die den Film meiner Ansicht nach nicht weiterbringen, die keine weitergehenden Informationen oder näheren Erläuterungen bieten und die größtenteils sogar eher schädlich für die Filmhandlung sind.
An einigen Stellen ist es passiert, dass Szenen völlig misslungen sind, weil offensichtlich nicht die Vorlage verfilmt wurde.
- I.17 (Patzer im „Tänzelnden Pony“): Anstatt mit dem Ring in der Tasche zu spielen, der ihm dann beim Sturz auf den Finger gleitet, schleudert Frodo den Ring im Fallen hoch in die Luft — und der landet genau auf seinem ausgestreckten Finger. Völlig absurd!
- I.22 (Wetterspitze): Anstatt die Geschichte des Buches zu verfilmen, wird ein Kampf inszeniert, was zu törichten Handlungen der Personen und Ungereimtheiten in der Filmhandlung führt. Wichtige Aspekte der Geschichte werden missachtet.
- I.32 (Elronds Rat): Statt einer informativen und diskussionsfreudigen Ratsversammlung gibt es nur sinnloses Gezänk. Eine zentrale Stelle der Geschichte wird zur Farce!
- I.40 (Flucht durch die große Halle von Moria): Statt eines abkürzenden Seitenweges wählen unsere Freunde die bis zum Bersten mit Orks gefüllte Haupthalle als Fluchtweg. Sie werden von wimmelnden Orks umzingelt — und entkommen trotzdem. Wer’s glaubt wird selig!
- I.54-61 (Zerfall der Gemeinschaft): Anstatt sich insgeheim mit Hilfe des Ringes davonzuschleichen, wird Frodo von der Gemeinschaft geradezu verabschiedet (jedenfalls von Aragorn, Merry und Pippin). Alle Logik der Vorlage geht im Schlachtgetümmel unter!
- II.20 usw. (Zustand Rohans und Heilung Théodens): Statt eines durch mangelnde Führung gelähmten Landes finden wir in Rohan ein Königreich vor, das bereits militärisch am Boden liegt und seine letzten Verteidigungskräfte mobilisieren muss. Trotzdem erringt man den Sieg und hat nach den verlustreichen Kämpfen sogar mehr Soldaten als zuvor, damit man den guten Nachbarn Gondor noch unterstützen kann. Genauso übertrieben ist der Zustand Théodens dargestellt. Das ist nicht nur schlimm, weil es das Buch entstellt, sondern vor allem filmimmanent, weil man nicht versteht, warum der offensichtlich nicht regierungsfähige König nicht durch einen fähigen Regenten abgelöst wird. Das ist doch beides Unfug!
- III.45 (Gandalf und der Hexenkönig): Statt der bedeutungsvollen, vorzeitig abgebrochenen Konfrontation der mächtigsten Kriegsgegner am Tor von Minas Tirith wird uns nur eine weitere Kampfszene geboten, die umso unglaubwürdiger ist, da der böse Hexenkönig seinen bereits errungenen Sieg nicht ausnutzt. Torheit!
- III.53 (Sieg allein durch die Geisterarmee): Die Geisterarmee ersetzt einen Sieg, der durch die Vereinigung der Kräfte der freien Völker errungen werden musste. Das hätte Bedeutung gehabt; so jedoch: Öde!
Alles Erhabene und Geheimnisvolle der Geschichte geht verloren im Taumel schöner Bilder, eindrucksvoller Effekte und nicht enden wollender Kampf- und Gewaltszenen. Auch hier nur ein paar Beispiele.
- Ist es tatsächlich spannender, wenn der Zuschauer sofort weiß, dass Frodos Ring der Eine ist? Kann sich ein Film wirklich keinen langsam gesteigerten Spannungsaufbau leisten? Ist es unbedingt nötig, dass wir die Macht des Ringes hören (I.11/32)?
- Die Erhabenheit von Meister Elrond wird durch seinen nachtragenden Rassismus gegen die Menschen und Aragorn aufgefressen.
- Warum erfahren wir sofort, dass Éowyn mit den Rohirrim nach Minas Tirith reitet (III.34)? Die Maskenbildner des Filmteams sind doch sonst hervorragend. Da hätten Sie die Frau doch wohl als Krieger maskieren können — zumal unter dem Helm.
- Dass eine totale Dunkelheit im Film nicht zweckmäßig ist, leuchtet sogar mir ein. Aber an drei Orten sollte eine zumindest geheimnisvolle Dunkelheit herrschen: in Moria, in Kankras Lauer und auf den Pfaden der Toten. Alle drei Schauplätze sind jedoch recht gut beleuchtet, damit man auch alle „gruseligen“ Details wie Totenschädel, Spinnennetze und noch mehr Totenschädel sehen kann.
Wären die Filme also nicht besser geworden, wenn man sich mehr an die Vorlage gehalten hätte?
Dieser Artikel ist Teil zweier größerer Spezialprogramme: Er gehört sowohl zu unserem Programm zum Jahresausklang 2007 als auch zum Herr-der-Ringe-Special.
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