In den Publikationen zur Filmmusik-Geschichte wird landläufig Max Steiners Musik zu King Kong • King Kong und die weiße Frau (1933) als die erste große Musik für einen Tonfilm überhaupt gehandelt. Die Masse der zitierten und eingehender beschriebenen Arbeiten Steiners stammt allerdings aus seinen Jahren bei den Warner Studios („Warner Years“) und betrifft damit die Zeit ab 1936. Die neueste Veröffentlichung des Marco-Polo-Filmmusik-Teams (John W. Morgan und William T. Stromberg), The Son of Kong/The Most Dangerous Game, eröffnet hier neue Perspektiven. Im Booklet-Text ist eingehend beschrieben, welche Bedeutung der (vielen Lesern wohl unbekannte) Film The Most Dangerous Game • Graf Zaroff – Genie des Bösen (1932) für den berühmten Film King Kong (1933) gehabt hat. Im Prinzip war dieser Film „nur“ ein wohlkalkulierter Zwischen-Schritt des Teams David O. Selznick und Merian C. Cooper, um das erforderliche Geld für die aufwändige King–Kong-Produktion bei den Studio-Bossen von RKO loszueisen. Zusammen mit King Kong, bilden Son of Kong und The Most Dangerous Game ein Trio, dessen Filmmusiken allein schon unter entstehungsgeschichtlichen Gesichtspunkten besonderes Gewicht haben.
In späteren Jahren wurde ausgiebiges lyrisches Untermalen breiter Dialog-Passagen (in Melodramen wie Vom Winde verweht) zu Steiners viel gerühmtem Markenzeichen. Insofern gehören die vorliegenden Musiken – insbesondere die zu The Most Dangerous Game und King Kong – zu den wenigen Beispielen im Œuvre des Komponisten für primär auf Atmosphäre und Action angelegte Kino-Komposition. Dort jedoch, wo es die Filmhandlung zulässt, macht sich auch das starke melodische Talent Max Steiners – zumindest kurzzeitig – bemerkbar.
The Most Dangerous Game spielt auf einer fantastisch exotischen Insel – Teile des Set waren bewusst so gestaltet, dass sie direkt in King Kong wieder verwendet werden konnten. Auf dieser Insel lebt in einem Schloss ein geheimnisvoller russischer Graf, der sich nicht nur als leidenschaftlicher Jäger, sondern auch als latent wahnsinnig erweist: Er spielt mit schiffbrüchig auf seinem Eiland Gestrandeten sein ganz besonderes, lebensgefährliches Spiel: die Menschenjagd…
Heutzutage wirkt der Film in Teilen zwar etwas antiquiert melodramatisch; trotz erkennbar beschränktem Budget ist er aber eine einfallsreich und spannend inszenierte, in stimmungsvollen Schwarzweiß-Bildern eingefangene Horror-Action-Geschichte geblieben. Dem Komponisten Max Steiner gelang in dieser düsteren Pre-King–Kong-Tonschöpfung ein eindrucksvoller musikalischer Spannungsbogen. Das einleitende, zuerst geheimnisvoll klingende Jagd-Motiv (zweinötig) prägt sich unmittelbar ein und spielt in der weiteren Komposition eine wichtige Rolle. Es erhält so die Funktion eines (anfänglich eher unbewusst wahrgenommenen und eingeprägten) Warn-Signals, das in den Action-Stücken die unaufhaltsam näher kommende tödliche Bedrohung eindrucksvoll signalisiert – hier nimmt Steiner partiell bereits die spätere Arbeitsweise Bernard Herrmanns vorweg (siehe auch The Ghost and Mrs. Muir/Vertigo). Sowohl das Jagd-Motiv als auch das im Verlauf vielfach variierte „Thema des Grafen“ entstammen beide dem Chopinesk gehaltenen Walzer „Russian Waltz“, den der Graf in einer frühen Film-Szene am Klavier spielt – ein raffinierter Schachzug des Komponisten.
Das Jagd-Motiv nimmt übrigens ein wenig vorweg: den Hornruf in The Vikings (1960) – Komponist Mario Nascimbene – und auch die Eröffnung zu The Island of Dr. Moreau (1978) – Komponist Laurence Rosenthal.
Auch hier begegnet dem Hörer das – in Steiners Filmmusiken häufiger anzutreffende – unüberhörbar Bildhafte, z. B. in „The Wreck“, und die unheimliche, sich in der finalen Verfolgungsjagd fast bis zur Hysterie steigernde Musik geht unter die Haut. Den Spannungs-Stücken (z. B. „Mysterioso Dramatico“ und „The Chase“) kann man typische, relativ einfache Baukasten-Schemata zuordnen, wie sie auch in den bekannteren Musiken des Maestros – aber auch in der anderer Komponisten – zu finden sind. Die Resultate klingen hier allerdings keineswegs nur simpel gestrickt, sie sind vielmehr außerordentlich wirkungsvoll und reißen geradezu mit: speziell in „The Chase“ geben die wuchtigen, rhythmisch akzentuierten Klänge dem Ganzen einen Kick, der die Handlung gnadenlos vorantreibt! überhaupt ist die motivische Feinarbeit in The Most Dangerous Game und damit der kompositorische Aufwand – insbesondere für die Entstehungszeit des Films – mehr als nur bemerkenswert.
Son of Kong ist die nach dem Sensationserfolg von King Kong (1933) eilig inszenierte Fortsetzung aus dem gleichen Jahr, in der es erheblich weniger heftig zugeht. Bei „Kongs Sohn“ handelt es sich um einen weißen, eher knuffigen, menschenfreundlichen Gorilla, der mit dem martialisch-wilden Vater wenig gemein hat. Am Schluss, wenn Kongs Insel während eines Erdbebens in den Fluten versinkt, rettet der behaarte Sohnemann gar unter Selbstopferung den Protagonisten das Leben. (Im deutschen Fernsehen ist der Film meines Wissens bislang nicht gezeigt worden.)
Steiners Musik zu Son of Kong ist nicht nur hörenswert, sondern hat im Gegensatz zur weniger eingängigen King–Kong-Musik durchaus einige Hör-Qualitäten. Kernstück ist der „Runaway Blues“, der in sorgfältig erarbeiteten Variationen den Score durchzieht. Dieser Blues ist ein von Max Steiner selbst komponiertes Stück Source-Musik. Da der Film im „modernen“ swinging New York der Dreißiger beginnt, ist das Stück zudem „zeitgemäßer“ Bestandteil der Filmmusik. Dazu bietet die Musik auch einige sehr bildhafte Passagen (z. B. in „Fire“) und auch ein originelles Beispiel für das Steiner-typische „Micky-Mousing“, das in „Chinese Chatter“, kombiniert mit hübsch eingearbeiteten Exotismen, auftaucht. Die weitgehend lyrisch angelegte Komposition zu Son of Kong reflektiert intelligent Teile des musikalischen Materials des Vorläufer-Films, jedoch ohne zu plagiieren. Von plattem Abklatsch kann keinesfalls die Rede sein; die sorgfältig eingearbeiteten, bekannten Motive dürften vielmehr schon für das damalige Kino-Publikum einen sinnvollen „Wiedererkennungswert“ gehabt haben.
Steiner arbeitete in jenen Tagen unter besonders schwierigen, restriktiven Budget-Bedingungen. Bei der Musik zu King Kong reichte es immerhin noch für ein Orchester mit 46 Spielern; für Son of Kong dagegen standen nur wenig mehr als die Hälfte (28 Musiker) zur Verfügung! Trotz der unzureichenden Mittel (orchestral und technisch), erreicht schon die Original-Film-Einspielung eine beachtliche Wirkung. John Morgan hat nun die ursprüngliche ärmlich-dünne Instrumentation mit sachkundiger Hand verstärkt – wie es auch schon Charles Gerhardt für verschiedene Einspielungen seiner RCA-Classic-Film-Score-Serie in den 70er Jahren tat. Der Dirigent William Stromberg hat anschließend, im Zusammenwirken von hervorragender Tontechnik und sehr engagiert und nuanciert spielenden Moskauer Sinfonikern, erstmals jede Klangnuance hörbar werden lassen – wobei auch der typische Steiner-Sound sehr sauber eingefangen ist. Beide Musiken sind – da die betreffenden Filme recht kurz sind – vollständig eingespielt worden und weisen keine gravierenden Durchhänger auf. Dies bedeutet nicht allein einen Pluspunkt für die Qualität, sondern beweist außerdem, wie außerordentlich ernst Max Steiner seine Arbeit, trotz der äußerst bescheiden zu nennenden Arbeitsbedingungen, genommen hat.
Rein musikalisch betrachtet, bietet die vorliegende CD nicht „das Allerbeste“ aus der Morgan-Stromberg-Kollektion, der editorische Wert hingegen verdient ohne Zweifel die Bezeichnung Top-Klasse. Hört man diese Musiken, ohne sich mit den film(musik-)historischen Hintergründen eingehender zu beschäftigen, könnte man die Tonschöpfungen als handwerklich sehr geschickt und dazu einfallsreich ausgearbeitet bezeichnen. Als Produkte der 40er Jahre wären sie auf bestem, raffiniertem Standard ihrer Zeit und daher mit bis zu 4,5 Sternen sicher stimmig zu bewerten. Im Hinblick auf den Zeitraum ihrer Entstehung (1932-33) liegt ihre Bedeutung aber deutlich höher. The Most Dangerous Game entstand bereits 1932 und damit noch vor (!) der als „Durchbruch“ der Tonfilmmusik gleichgesetzten Vertonung zu King Kong (1933). The Son of Kong entstand kurz nach dem Tod von „Papa Kong“ und damit immer noch zu einer Zeit, als ausgefeilte filmmusikalische Untermalung keineswegs Standard war. Zwar muss an dieser Stelle die Filmmusik-Geschichte nicht völlig umgeschrieben, aber doch ergänzt werden: Die erste raffiniert auskomponierte Tonfilmmusik ist die zu The Most Dangerous Game, auch wenn die King–Kong-Musik (infolge des Blockbuster-Erfolgs des Films) zweifellos die ihr attestierte (größere und damit bedeutendere) Wirkung gehabt hat.
Besonders interessant ist hierbei auch die Vorgeschichte der Vertonung von The Most Dangerous Game, die der zu King Kong überraschend ähnelt. Für den Film war bereits von einem Kollegen Steiners eine Musik komponiert worden. Dem Produzenten erschien diese aber als erheblich zu musicalhaft und damit undramatisch. Er überredete daher den schon damals mit Arbeit mehr als ausgelasteten Max Steiner diese Musik vollständig neu zu komponieren. Der Komponist entwarf seine raffiniert und inspiriert gestaltete Tonschöpfung in der nur noch zur Verfügung stehenden Zeit von knapp zwei Wochen! (Aus diesen Gründen erscheint mir hier auch ein kräftiger Zuschlag von einem ganzen Stern als vertretbar, um — im Sinne einer „Albumwertung“ — auch dem außerordentlich hohen Repertoirewert dieser Produktion gerecht zu werden.)
Steiner hat seine Klang-Palette in den Folgejahren sicher noch ein Stück weiter verfeinert, perfektioniert und spätere Film-Vertonungs-Aufträge mit zum Teil noch vielfältigeren Klangschöpfungen ausgestattet (siehe auch The Treasure of the Sierra Madre, They Died with Their Boots On). Eines zeigen die vorliegenden beiden Film-Musiken aber ganz eindeutig: Hier war absolut kein blutiger Anfänger am Werke, sondern jemand, dem die Erfahrungen der Jahre am Broadway zu hohem handwerklichen Geschick verholfen hatte, das er nun – mit der ihm angeborenen Begabung für das Dramatische – von Anfang an erstaunlich wirkungssicher für das neue Medium Ton-Film einzusetzen verstand!
Max Steiner war 1932 zwar ein gestandener Mann von 44 Jahren, aber das Komponieren für Tonfilme war auch für ihn ein in vielem grundsätzlich neues Geschäft, für das die Erfahrungen und Modelle des Stummfilms nur sehr bedingt tauglich waren. Mit dieser ernsthaften Art der Film-Komposition und seinem unverwechselbaren Gespür für das Benötigte, dürfte Max Steiner gerade in jenen frühen Tonfilm-Tagen wohl auf einsamer Spitze gestanden haben. (Wobei hier noch eingehendere Informationen zu den zeitgleichen Arbeiten Roy Webbs – mit dem Steiner in den RKO-Jahren zusammenarbeitete – wünschenswert wären (siehe hierzu auch The Cat People).
John W. Morgan und William T. Stromberg mausern sich vermehrt zu Schatzgräbern in Sachen Filmmusik. Sie fördern erfreulicherweise – nicht allein unter kommerziellem Gesichtspunkt – kaum Beachtetes und nahezu Vergessenes des Golden Age zu Tage. Einige der zwischenzeitlich vorliegenden Editionen dürften daher auch zur Ausbildung junger Film-Komponisten hochwillkommen sein. Fast schon nicht mehr notwendig zu erwähnen ist (da mittlerweile gewohnter Standard der Marco-Polo-Reihe) das liebevoll gestaltete, informative Booklet. Es enthält nicht nur eine Fülle von schwierig zu beschaffenden Informationen, sondern auch manche herzerfrischend zu lesende, humorvolle Randbemerkung.
Zwar handelt es sich hier nicht um eine CD, die jeder Filmmusik-Freund zwangsläufig haben „muss“. Auch wird diese CD kaum einen Spitzenplatz auf der Beliebtheitsskala der Freunde von Steiners Musik erhalten. Wer sich allerdings eingehender mit der Kunstform Filmmusik befassen will, der kommt an dieser Veröffentlichung ebenso wenig vorbei, wie an der zu King Kong. Denn, wer die modernen Film-Komponisten richtig verstehen und einschätzen lernen will, der sollte auch – aber nicht nur – diese interessanten Frühwerke des wohl grundlegenden Vertreters der Kunstform Tonfilm-Musik, Max Steiner, eingehender studiert haben.
Fazit: Die in der Filmmusik-Geschichte landläufig als „erste“ große Tonfilm-Komposition bezeichnete Partitur zu King Kong (1933) erweist sich bei eingehenderer Betrachtung „nur“ auf Platz zwei eines filmmusikhistorisch wichtigen Film-Triumvirats (The Most Dangerous Game, King Kong und Son of Kong). Speziell die schon 1932 entstandene dramatische Vertonung zu The Most Dangerous Game macht diese Marco-Polo-CD zu einer Repertoire-Bereicherung der besonderen Art. Hierbei handelt es sich um eine atmosphärisch dichte, sorgfältig und sehr geschickt ausgearbeitete Film-Vertonung, die (in den 40er Jahren komponiert) als gelungenes Beispiel einer Horror-Action-Filmmusik auf bestem handwerklichen Niveau einzuordnen wäre. In Anbetracht ihrer Entstehungszeit und der schwierigen, ja primitiven Arbeitsbedingungen in den frühen Tonfilm-Tagen darf die Komposition sogar als außergewöhnlich und filmmusik-geschichtlich von herausragendem Wert bezeichnet werden.
Die CD ist aber keineswegs ein reines Kultobjekt für eingefleischte Steinerianer und/oder einschlägige Archive; denn die Kompositionen sind auch musikalisch reizvoll und fallen nicht negativ durch größere Durchhänger auf. Die über größere Strecken lyrische Filmmusik zu Son of Kong zeichnet sich unter anderem durch ein Blues-Thema aus, das originellen Bezug zur Unterhaltungs-Musik der Swinging Thirties der Filmhandlung hat. Die Musik zu Son of Kong ist die am stärksten eingängige der drei Tonschöpfungen und könnte so manchem vielleicht auch helfen, das große Tor zur sperrigeren King–Kong-Musik leichter zu öffnen.