Obsession (Music Box)

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
1. November 2015
Abgelegt unter:
CD

Bernard Herrmanns vorletzte Obsession: Obsession in zwei Editionen, als Original und Neueinspielung

Geraume Zeit war der seinerzeit zum Film erschienene LP-Albenschnitt vom Markt verschwunden und die Veröffentlichung der kompletten originalen Filmmusik in überzeugender Qualität schien bisher ebenfalls äußerst unwahrscheinlich. Mitte Februar 2015 kam dann dank Music-Box-Records sogar beides zusammen vereint in einem Doppel-CD-Album: sämtliche Tracks der Originaleinspielung sowie der daraus montierte LP-Albumschnitt. Da aller Guten Dinge ja bekanntlich drei sind, folgte fünf Monate später, im Juni, dann noch zusätzlich eine von James Fitzpatrick für Tadlow produzierte Neueinspielung der kompletten Herrmann-Musik.

Die Musik zu Brian de Palmas Obsession (1976) ist Bernard Herrmanns vorletzte Filmkomposition. Das letzte Opus des Komponisten, der nur wenige Stunden nach dem Abschluss der Einspielungen am Heiligabend 1975 verstarb, ist die Vertonung von Martin Scorseses urbanem Taxi Driver. Herrmann-Biograf Steven C. Smith hebt in „A Heart at Fire’s Center“ allerdings Obsession in der Bedeutung hervor und bezeichnet diese in Teilen Vertigo und Fahrenheit 451 nahestehende Musik als das Kino-Requiem des Komponisten. Da mag man ihm voll zustimmen. Alles in allem ist Obsession nicht allein ein besonders starker Part in dem eher verunglückten Film. Auch abseits der Filmbilder, also als autonome Musik betrachtet, ist es zweifellos die Filmkomposition Herrmanns, welche aus der Reihe seiner ab 1970 für das Kino entstandenen Spätwerke am meisten hervorsticht. De Palmas Film hingegen ist eine sehr freie, etwas unausgegoren und wirr erscheinende Variante des Vertigo-Stoffs. Da vermag ich mich zwar an einige stimmungsvoll eingefangene pittoreske Florenz- und New-Orleans-Szenen, jedoch in erster Linie an die ungemein feinsinnig ausgestaltete, hocheffektive und meisterliche Herrmann-Musik zu erinnern.

Unverwechselbar Herrmann-typisch und markant ist die Eröffnung, in der das bestimmende Zweinotenmotiv vom schweren Blech, der Orgel und den Pauken machtvoll in den Raum gestellt und anschließend ganz zart, nämlich vom kleinen, Debussy-ähnlich vokalisierenden Frauenchor, unterlegt mit Harfe ätherisch wiederholt wird. Ein Wechselspiel, das sich in der Titelmusik noch mehrfach in vergleichbarer Form wiederholt. Danach erweitert Herrmann besagtes Zweinotenmotiv zum charakteristischen, wiederum so unverwechselbar charmanten „Valse Lente“ und ebenfalls zum Liebesthema. Die Stimmungen wechseln über die gesamte Laufzeit mitunter fast von einem Takt zum nächsten: von über impressionistisch gefärbten, verträumt oder melancholisch entrückt wirkenden Passagen zu ausdruckstarken, mitunter fast schon nervenzerrenden Steigerungen, in denen das prägnante Zweinotenmotiv drohend wiederkehrt. Dabei gibt sich auch das mittelalterliche „Dies Irae“ verschiedentlich ein Stelldichein. Romantische Liebesmusik, Gefahr und Terror liegen hier dicht beieinander. Das chamäleonhafte und neben dem schwebend klingenden Frauenchor auch die machtvollen, sakral und überirdisch zugleich anmutenden Einsätze der Orgel sind es, was den besonderen Reiz dieser Musik ausmacht.

Herrmanns Obsession auf Music Box und Tadlow

Die Bezeichnung „Special Archival Edition“ der Music-Box-Ausgabe kann fehlinterpretiert werden. Sie steht hier nicht etwa für eher unzulänglichen Klang wie etwa in einzelnen Spezial-Ausgaben von FSM, z. B. On Dangerous Ground, wo nur noch auf Quellmaterial in bescheidener Qualität (etwa Acetat-Discs) zugegriffen werden kann. Zu Obsession stand erfreulicherweise eine Kopie des originalen Magnettonmasters in einwandfreier Qualität zur Verfügung. Die Aufnahmesitzungen entstanden seinerzeit unter der Ägide der renommierten Decca-Tontechniker und mit dem inzwischen legendären Phase-4-Stereo-Aufnahmeprozess.

CD 1 vereint sämtliche Stücke der im Film verwendeten Originaleinspielung. Der Klang ist tadellos. Hinzu kommen noch drei Bonus-Tracks, die im Film nicht verwendet worden sind. Die beiden sehr kurzen (weniger als 30 s) Cues „Ransom“ und „Past and Present“, die nur in recht verhangen klingendem Mono vorliegen, stammen aus anderer Quelle; die außerdem enthaltene Alternativ-Version von „Airport“ klingt wiederum frisch und ist auch in Stereo. Letzteres gilt für CD 1 nahezu durchgehend. Einzig „LaSalle and Sandra at Airport“ ist in Mono.

Auf CD 2 kommt dann noch der aus der Originaleinspielung sehr geschickt komprimierte, altbekannte, 39-minütige LP-Schnitt hinzu. Dieser erscheint gegenüber meiner Unicorn-CD-Ausgabe klanglich eine Nuance rauschärmer und klarer. Besagter sehr gelungen konzipierter LP-Albenschnitt vereinigt das Essentielle dieser Filmmusik. Er war und ist daher für sich genommen schon eine gute Sache. Das soll aber nicht heißen, dass die restlichen rund 26 Minuten entbehrlich wären. Im Gegenteil: Der komplette Score funktioniert als Höralbum ebenfalls sehr gut, wobei es allerdings bei CD 1 zwischen einzelnen Tracks zu etwas holprig klingenden Übergängen kommt. Dies will ich nun gewiss nicht dramatisieren, aber das ist schon ein Punkt, in dem die entsprechend eingerichtete Tadlow-Neueinspielung ein Stückchen überlegen ist.

Auch im Weiteren gibt’s zur Tadlow-Version aus meiner Sicht nur Positives zu berichten. Das Ergebnis ist klanglich wie spieltechnisch auf derart exzellentem Niveau angesiedelt, dass ich nach einigen Vergleichen mit dem Obsession-Original beide Editionen als annähernd gleich hochwertig einstufe.

Sicher klingt die mit moderner Digitaltechnik produzierte Tadlow etwas anders, insbesondere ein Stück dynamischer und präsenter, wobei Letzteres natürlich auch eine Frage der Abmischung ist. Das Gesamtergebnis ist trotz partiell gewisser Verschiebungen im Klangbild (s. u.), da insgesamt der Herrmann-typische Tonfall sehr gut getroffen ist, alles in allem doch so dicht am Geist des Originals befindlich, dass m. E. die Gesamtwirkung hinter dem selbigen keineswegs zurücksteht. Da vermögen mehrere der zweifellos achtbaren Herrmann-Einspielungen des Varése-Labels aus den 90ern nicht voll mitzuhalten. Angesichts des jetzt Erreichten müssen sie sich eindeutig dahinter einreihen.

An dieser Feststellung ändert auch die Tatsache nichts, dass James Fitpatrick in den Producer Notes einräumt, sich in der Ausführung ein paar Freiheiten genommen zu haben. Um die infolge der vorgeschriebenen schnellen Wechsel zwischen den anspruchsvollen Spielanweisungen mitunter hörbar an ihre Grenzen gebrachten vier Hornisten des Originals zu entlasten, hat er die Hörnersektion auf acht verdoppelt. Diese wurden außerdem noch geschickt in Zweiergruppen im Aufnahme- bzw. Hörraum platziert. Im Interesse eines besonders weiträumigen, effektvollen, stereofonen Klangbilds wurden auch weitere Instrumente anders als gemeinhin üblich platziert. So wurden z. B. die ersten und zweiten Violinen und auch die zwei Harfen einander gegenüber aufgestellt. Zusätzlich erhielten die separierten Instrumentengruppen zum Teil unterschiedliche Spielanweisungen.

An dieser Stelle bekommt nun die im 2-Disc-Set neben der CD enthaltene Musik-Blu-ray Gelegenheit, ihre Trümpfe voll auszuspielen. Ähnlich dem SACD-Format gestattet auch die Blu-ray neben Zweikanal-Stereo-Wiedergabe eine auf allen Kanälen gleich hochwertige Surroundwiedergabe. Der klassische zweikanalige Stereo-Mix von der CD klingt bereits prima, der 5.1-Mix von Blu-ray ist jedoch schlichtweg grandios. Er platziert den Hörer im Zentrum eines faszinierenden Klangraumes, der Musik auf eine ganz besondere Art erfahrbar machen kann.

Ich kann mir gut vorstellen, dass Herrmann vom Resultat ähnlich angetan wäre, wie in den 1970ern von den vergleichbar vorzüglich geratenen Einspielungen Charles Gerhardts zum legendären RCA-Album „Citizen Kane – The Classic Film Scores of Bernard Herrmann“. Herrmann traf in Gerhardt auf einen ähnlich experimentell agierenden Klangmagier, etwa in der so faszinierenden wie extravaganten „Death Hunt“ aus On Dangerous Ground, mit ihren insgesamt acht, in zwei Vierergruppen aufspielenden, Hörnern. Er war begeisterter Gast bei den Recording Sessions, wohl nicht zuletzt weil diese schon damals auch auf Surround-Sound setzten, im seinerzeit erprobten Quadrophonie- oder Vierkanalstereofonie-Verfahren.

Ein weiterer kleiner Positivpunkt der aus insgesamt 20 Tracks bestehenden Tadlow-Neueinspielung ist, dass sie wirklich komplett ist: Selbst die beiden nicht verwendeten Mini-Tracks „Ransom“ und „Past and Present“ (s. o.) sind eingespielt und chronologisch eingefügt worden: in Track 5 „The Ferry/Ransom“ und in Track 10 „The Confession/The Hospital/The Cemetery/Past And Present“.

Als solide präsentieren sich die beiden, insbesondere zur Entstehung des Films sehr informativen Begleithefte von Daniel Schweiger (Music Box) bzw. Christopher Husted (Tadlow). Zur Musik hätten die Infos jedoch insbesondere im Tadlow-Begleitheft schon noch etwas breiter angelegt sein dürfen. Ob man die mit ihren 38 Tracks feiner untergliederte Aufteilung der Musik bei Music Box gegenüber den „nur“ 20 Tracks bei Tadlow bevorzugt oder nicht, bleibt hingegen reine Geschmacksache.

Was Tadlow anbelangt, so hoffe ich auf weitere exquisite Herrmann-Einspielungen: Wunschkandidaten hierfür wären La Mariée était en noir * Die Braut trug schwarz (1968), On Dangerous Ground (1951) und Beneath the 12-Miles Reef * Das Höllenriff (1953).

Fazit: Der Hauptgrund, sich Brian De Palmas eher schwachen Film nochmals anzuschauen, ist Bernard Herrmanns exquisite Filmkomposition, die jetzt in zwei annähernd gleichwertigen, in beiden Fällen liebevoll produzierten Editionen erhältlich ist. Letztlich gilt auch hier: Beide Editionen zu besitzen, das ist in diesem Falle zweifellos eine ganz besonders schöne Sache. Das Rot des Cover-Art-Work der Tadlow-Neueinspielung bildet zur „Archival Edition“ von Music Box bereits im CD-Regal einen reizvollen Kontrast. Wer sich aber für nur eine von beiden entscheiden möchte, der kann m.E. sowohl mit dem Original als auch mit der Neueinspielung sehr gut leben. Eine griffige Entscheidungshilfe vermag ich hierzu allerdings nicht anzubieten: Somit bleibt an dieser Stelle einmal mehr die Qual der Wahl.

Hier finden Sie einen Überblick über alle bei Cinemusic.de besprochenen CDs des Labels Tadlow Music.

© aller Logos und Abbildungen bei Music Box und Tadlow Music. (All pictures, trademarks and logos are protected by Music Box Tadlow Music.)

Komponist:
Herrmann, Bernard

Erschienen:
2015
Gesamtspielzeit:
113:07 Minuten
Sampler:
Music Box Records

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