Mit High Definition ins Digitale Kino

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
6. Dezember 2005
Abgelegt unter:
Lesen

Stichwort „Digitalisierung“ im Kino- und Heimkinobereich

Seit der IFA ist das Zauberwort „High Definition“, auch wenn keineswegs neu, wieder in aller Munde. Bereits Ende der 1980er Jahre war es als europäischer Fernsehstandard „HDTV“ im Gespräch, der das Pantoffelkino revolutionieren sollte — allerdings scheiterte der damalige Versuch mehr als kläglich. Inzwischen sind fast zwei Dekaden ins Land gegangen und High Definition Video erlebt eine Renaissance in gleich drei Bereichen: erneut als High-Tech-Fernsehsystem der nahen Zukunft, als professionelles Produktionsformat für Kinofilme sowie (damit eng verbunden) die verbesserten, allerdings wieder einmal (!) nicht kompatiblen, konkurrierenden DVD-Standards — WMV (Windows Media Video) HD DVD und Blu-ray DVD.

Philipp Hahnes Buch „Mit High Definition ins Digitale Kino“ gelingt eine leicht fassliche Bestandsaufnahme und dabei ebenso ein Ausblick auf die zu erwartenden digitalen Veränderungen in der Film- und Kinotechnik. Zur Einführung gibt es einen kurzen Überblick über den derzeitigen Stand der Dinge. Nicht nur an dieser Stelle ist das sorgfältige Bemühen erkennbar, den Leser anhand diverser erklärender Fußnoten sowie eines Glossars an den (notwendigen) Fachtermini nicht verzweifeln zulassen. Damit ist die Publikation keinesfalls allein für Regisseure oder Kinobesitzer geeignet, sie wendet sich vielmehr an eine breite Leserschaft. Flüssig lesbar und gut verständlich gehalten, ist diese sowohl für den interessierten Laien als auch für den am Heimkino Interessierten eine aufschlussreiche Lektüre, um sich über die mittelfristig anstehenden, tief greifenden strukturellen Veränderungen zu informieren. Der handliche Band funktioniert dabei auch im Sinne eines Taschenbuches, lädt ein zum Lesen zwischendurch.

Besonders interessant ist der Vergleich der bildästhetischen Eigenschaften von HD-Video und 35-mm-Film, zweier technologisch grundverschiedener Systeme. Dabei wird auch erklärt, dass die Auflösung und damit die Anzahl der Pixel allein kein hinreichendes Kriterium zur Beurteilung visueller Qualität ist. Darüber hinaus wird man auf überraschende, in Gänze nicht schlichtweg einfach erklärbare systemimmanente Phänomene hingewiesen. Daran zeigt sich, wie komplex das Zusammenspiel verschiedenster Faktoren ist. Im übertragenen Sinne gilt dies ebenso für die mit dem Umstieg auf digitale Bildtechnik anstehende Einrichtung digitaler Abspielstätten zur Verwertung von Kinofilmen. Dabei werden Vorteile und Potenziale der Digitalisierung erläutert. Immensen Investitionskosten bei der Umrüstung steht die zu erwartende enorme Flexibilisierung und auch Verbilligung in der Distribution gegenüber. Letztere rückt vielleicht sogar etwas für den breiteren Kinomarkt wieder in den Bereich des Möglichen, das als ein unwiederbringliches nostalgisches Relikt längst vergangener Kinotage schien: nämlich Filmklassikern nicht ausschließlich im TV oder von DVD, sondern auch wieder auf der großen Kinoleinwand zu begegnen.

Bei allen Möglichkeiten wird aber auch deutlich, dass derzeit noch vieles in Fluss ist, die digitale High Definition Technik noch in den Kinderschuhen steckt. Fehlende verbindliche Standards zählen derzeit zu den Hürden, die rasch überwunden werden müssen. In diesem Zusammenhang wird auch die Raubkopierproblematik behandelt. Ebenso ist die digitale Archivierung von Film ein Bereich, in dem derzeit noch wenig Klarheit herrscht. Dabei spielt nicht allein die Haltbarkeit der Speichermedien eine Rolle. Auch die extreme Schnelllebigkeit in der digitalen Entwicklung neuer Systeme bereitet Probleme, die den leidvollen Erfahrungen vieler PC-Besitzer mit älteren Dateiformaten sehr ähnlich sind.

Stärker an den Praktiker wendet sich Marille Hahnes „Das Digitale Kino“. Die Herausgeberin des Bandes ist Professorin an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich, im Fachgebiet Filmgestaltung, Stoff- und Projektentwicklung sowie experimentelle Gestaltung in den audiovisuellen Medien. Im Rahmen des Forschungsprojektes „Digitales Kino“ entstand in der Schweiz in Zusammenarbeit mit Industrie- und Hochschulpartnern erstmalig ein Langspielfilm, aufgenommen und postproduziert im HD-Format: Little Girl Blue. Das Buch berichtet über die im Projekt im Zeitraum 2000-2003 gewonnenen gestalterischen und technischen Erkenntnisse und stellt dabei auch das Arbeiten in einem professionellen digitalen Filmlabor eingehender vor. Filmemacher beider Geschlechter können sich darüber hinaus anhand recherchierter HD-Links (Stand Ende 2004) via Internet weitere aktuelle Informationen für die praktische Arbeit besorgen. Die beiliegende DVD dokumentiert die Präsentationen und Diskussionen der Branchentagung „Digitales Kino“ und präsentiert außerdem für die Ausführungen im Buch relevante Ausschnitte aus Little Girl Blue.

Interessanterweise unterstreicht der Band eine Feststellung aus dem obigen Buch Philipp Hahnes, nämlich, dass eine Revolution in der Bildästhetik durch High Definition Video kaum zu erwarten ist. Man ist vielmehr darum bemüht, an die in rund 100 Jahren konventioneller Filmtechnik gewonnenen Sehgewohnheiten möglichst nahtlos anzuknüpfen. Und ein Segment auf der DVD beleuchtet sehr interessant die Möglichkeiten der Farb-Restauration alter Filme.

Derzeit gehen die (optimierte) Technologie des klassischen Filmmaterials und die Digitaltechnik in der Postproduktion nahtlos Hand in Hand. Dafür ist Söhnke Wortmanns Film Das Wunder von Bern ein gutes Beispiel. Wie, und auch wie schnell es mit der Digitalisierung im Bereich Kino vorangeht, wird die Zukunft zeigen. Dies ist nicht allein von den technischen Möglichkeiten abhängig. Wie die bereits Anfang der 1930er gescheiterte Einführung von Breitwandformaten im Kino gezeigt hat spielen vielmehr wirtschaftliche Faktoren und (damit eng verbunden) politische Strömungen eine entscheidende Rolle.

Zwangsläufig sind sich beide hier vorgestellten Publikationen in größeren Teilen sehr ähnlich, wobei „Das Digitale Kino“ natürlich in einer sehr auf den Anwender zugeschnittenen Form stärker ins Detail geht. Trotzdem bleibt auch der größte Teil dieses Buchs ebenso für den interessierten Laien und Videofilmer verständlich, der sich eingehender mit der Materie beschäftigen möchte. Letzteres, da hier praktische Erfahrungen „zum Anfassen“ im Vordergrund vor abstrakten komplexen Modellen und Theorien stehen.

Dieser Artikel ist Teil unseres umfangreichen Programms zum Jahresausklang 2005.


Mehrteilige Rezension:

Folgende Beiträge gehören ebenfalls dazu:


Erschienen
2005
Seiten:
112
Verlag:
Schüren Verlag, Marburg
Kennung:
3-89472-401-3
Zusatzinfomationen:
(D) € 12,90

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