Autismus bemerkenswert als Tragikomödie thematisiert: Wochenendrebellen.
Regisseur Marc Rothemund hat dieses Mal eine wahre Geschichte für die Kinoleinwand in Szene gesetzt: Die von Mirco von Juterczenka und seinem Sohn Jason, die wie ihre Film-Pendants Florian David Fitz und Cecilio Andresen seit mittlerweile 12 Jahren an den Wochenenden regelmäßig diverse Fussballstadien besuchen. Daraus entwickelte sich ab 2012 zuerst ein Blog in dem beide über ihre Erlebnisse und Erfahrungen auf der Suche nach Jasons Lieblingsfußballverein berichteten. Diese wiederum bildeten die Basis für das autobiografische Buch „Wir Wochenendrebellen“, welches als Vorlage für das Drehbuch gedient hat. Was dabei nun unterm Strich herausgekommen ist, ist freilich nur bedingt ein Fußballfilm, sondern in erster Linie eine sehr ungewöhnliche Vater-Sohn-Beziehung, in der der Vater für seinen Sohn auch zum Therapeuten geworden ist, denn Jason ist Autist. In einer der Stadionszenen erhalten originellerweise auch die echten „Wochenendrebellen“, hinter den Filmprotagonisten sitzend, einen Cameo-Auftritt.
Durch Rain Man (1988) wurde Autismus vom Kino als Thema entdeckt und der von Dustin Hoffmann verkörperte erwachsene Autist Raymond, ein Mann von eher kindlichem Gemüt, aber ausgestattet mit phänomenalem Zahlengedächtnis, stand Pate für viele der immer noch weit verbreiteten, allerdings eher klischeehaften Assoziationen zu einem Begriff, der sich seit damals zudem entscheidend gewandelt hat. Insofern kann Wochenendrebellen über den Kinobesuch hinaus eben auch als Anregung dafür dienen ein Stück tiefer in diese Materie einzutauchen und anhand lesenswerter Artikel, Reportagen oder auch Porträtstudien zum Thema den eigenen Horizont zu erweitern. Wobei man aber schon sorgfältig auf die Quellen schauen muss, um dabei ein möglichst stimmiges, d.h. nur wenig von Klischees, Vorurteilen oder Falschinformation beeinträchtigtes Bild zu erhalten.
Wenn in der Eröffnung der kleine Jason für seine Verhaltensanomalien im Alter von 4 Jahren die Diagnose „Asperger-Syndrom“ bekommt, ist das heutzutage nicht mehr üblich. Längst hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich Autismus nicht nur auf einzelne, klar umrissene Verhaltensstörungen beziehen lässt, sondern die Erscheinungsformen erheblich vielschichtiger sind. Entsprechend werden mittlerweile sämtliche Erscheinungsformen zur Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst. Und da liegt zwangsläufig schon auch ein geringfügiger Schwachpunkt dieses Films. Die mit Autismus zu verbindenden Symptome sind ein sehr weites Feld und der eindrucksvoll in Szene gesetzte „Fall“ des Jason Juterczenka bildet dabei eben auch nur eine Facette.
Jason etwa ist normal intelligent. Er verfügt zugleich aber als Inselbegabung über außergewöhnliche Fähigkeiten wenn es um Astronomie geht. Er führt seinem Vater seine Begeisterung für die Astrophysik in einem der besonders berührenden und warmherzigen Momente des Films eindrucksvoll vor. Jason erzählt ihm, dass Riga als Stadt die geringste Lichtverschmutzung auf der ganzen Welt hat. Und so lassen sich beide im nächtlichen, vollständig abgedunkelten Rigaer Stadion einschließen um auf dem Spielfeld nebeneinander auf dem Rasen liegend die Nordlichter zu beobachten, wobei sich Vater und Sohn besonders nahe kommen. Dagegen verdeutlicht die Szene im Speisewagen während einer der unzähligen Bahnfahrten erheblich weniger beschaulich, was passiert, wenn Konflikte unlösbar sind und alles aus dem Ruder läuft. Jason, der sein Leben und auch das der Familie durch ein strenges Regelwerk strukturiert und reglementiert, kommt nämlich beispielsweise nicht damit zurecht, wenn auf dem Teller Essensbestandteile miteinander in Kontakt kommen, etwa Nudeln mit der Soße. Da er sein Essen nicht teilt, kann Papa Mirco es nicht übernehmen und da Lebensmittel zugleich keinesfalls vernichtet werden dürfen, kommt auch eine Rückgabe, die zwangsläufig mit vernichten einhergeht ebenso wenig in Frage. Das unauflösbare Resultat bezeichnet Jason als „Krieg im Kopf“. Die für ihn zwanghaft aussichtslose Situation eskaliert, Jason schreit – Schnitt (!) – und beide sind offenbar an irgendeinem Zwischenstopp aus dem Zug gesetzt worden. Dieses, den Ablauf kürzende und vereinfachende Stilmittel reduziert das eklatant unangenehme derartiger Grenzsituationen. Es macht diese für den Zuschauer zwar erträglicher, aber hinterlässt zugleich eben auch ein leichtes Schaudern.
Als jemand, dem die Wochenendrebellen bisher komplett entgangen sind, habe ich mich dazu ein wenig auf Spurensuche begeben und bin insbesondere auf youtube im Fußballpodcast „Rasenfunk“, beim Beitrag in Spielfilmlänge hängen geblieben: „Das eigene Leben verfilmt! Jason und Mirco erzählen vom Film Wochenendrebellen“. Bei den auch etwas längeren Interviewauszügen mit den beiden in der Bonisektion der BD wird das Spezielle an Jasons Verhalten eher nicht auffällig, im erheblich längeren Podcast hingegen merkt man es schon deutlicher. Wobei der inzwischen volljährige Jason sich inzwischen zu einem selbstbewussten, gewiss nicht unkompliziert zu handhabenden, aber eben auch durchaus sympathisch herüber kommenden jungen Mann entwickelt hat – einer, der für ihn besonders herausfordernde Situationen, zum Beispiel bei den mit Massen an lautstarken, dicht gedrängten Fans verbundenen Stadionbesuchen, mittlerweile sehr gut in den Griff bekommen hat. Er besitzt damit gute Chancen, auch sein weiteres Leben recht eigenständig zu meistern.
In dieselbe Richtung weist eine weitere wichtige Szene des Films, wenn Opa Gerd (Joachim Król) einmal bemerkt, der Junge sei schon richtig so, wie er nun einmal sei. Das spiegelt die sich seit mehr als anderthalb Dekaden durchsetzende Sichtweise, Autisten nicht bloß als bedauernswerte Kranke und Behinderte anzusehen, sondern auch das Wertvolle in vielen autistisch geprägten Persönlichkeiten zu erkennen. Wenn das soziale Umfeld funktioniert, können Betroffene trotz oder gerade wegen ihrer Besonderheiten wertvolle Teile der Gesellschaft sein. Dabei geht es darum, der Ausgrenzung des Andersartigen zu begegnen und im Rahmen des Machbaren Raum für ein hohes Maß an Inklusion zu schaffen. In der alltäglichen Praxis ist das aber eben auch alles andere als leicht umsetzbar. Das deutet der Film zumindest an, wenn Mutter Fatime (Aylin Tezel) das alltägliche Chaos, das aus Jasons Wahrnehmungsbesonderheiten häufig resultiert, vollends über den Kopf zu wachsen droht. Einem Nervenzusammenbruch nahe, macht sie ihrem Mann Mirco, der beruflich als Außendienstmitarbeiter (zu-)viel unterwegs ist, unmissverständlich klar, dass sich etwas Grundsätzliches ändern muss.
Das wird dann zum Ausgangspunkt der „Wochenendrebellion“, wenn Jason mit seinem Papsi Mirco seinen folgenschweren Pakt schließt: Der Junge soll sich in der Schule weniger provozieren lassen, dafür verspricht ihm der Papa, um seinen Lieblingsfußballverein zu finden, an den Wochenenden mit ihm auf Tour zu gehen, um Fußballspiele live im Stadion zu erleben. Als der im Kopf beim Rechnen flinke Junge ihm daraufhin klar macht, dass der Papa mit ihm nun alle 56 Vereine der ersten drei Ligen in ihren Heimatstadien besuchen muss, ist das auf den Weg gebracht, was Vater und Sohn auch heute noch umtreibt.
Cecilio Andresen spielt sehr intensiv wenn er die immensen Schwierigkeiten des kleinen Jason deutlich macht, die alltäglichen Konfliktsituationen zu beherrschen, möglichst ohne dabei zwanghaft schreiend auszurasten. Das Ergebnis ist eindrucksvoll und berührend zugleich, weil es dem Jungschauspieler dabei gelingt, neben den Wutausbrüchen auch der anderen Seite, nämlich der Empfindsamkeit und Verletzlichkeit Jasons, überzeugend Ausdruck zu verleihen. Er dürfte sich damit eine Auszeichnung verdient haben. Aber auch die ihm zur Seite stehenden großen Kollegen, nicht zuletzt Florian David Fitz, sind ihm dabei eine wertvolle Unterstützung. Alles in allem gelingt dem Film so ein relativ entspannter, punktuell auch ironisch-humoriger Blick auf ein schwieriges, komplexes Thema. Dass der Film darüber hinaus den Zuschauer auch dazu anregt, seine möglicherweise eher klischeehaften Vorstellungen zum Thema zu verbessern, ist ebenfalls eine gute Sache.
weiterführende LINKs:
Autismus: Die Realität nach „Rain Man“, Christina Hucklenbroich, FAZ vom 21.03.2011.
„Rain Man“ ist nicht allein, Marc Tribelhorn, NZZ vom 18.06.2013.
Hier geht’s zur Vorstellung des BD-Sets.
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