Kleine Klassikwanderung 45: Luzerner Klangkulturen auf CD
Diese Klassikwanderung steht im Zeichen der durch die Lucerne Festivals in den Jahren 2007 und 2008 gewonnenen Impressionen. Ausgangspunkt war, dem interessierten Leser der betreffenden Artikel einen Eindruck von der außerordentlichen Akustik des großen Konzertsaals im KKL anhand erhältlicher Tonträger zu vermitteln.
Einem derartigen Ansinnen sind zwangsläufig klare Grenzen gesetzt. Ein aufnahmeseitig noch so gut akustisch ausgeleuchtetes Klangereignis kann an einem anderen Ort trotz eingesetzten Top-Equipments zwangsläufig keine völlig exakte Reproduktion des ursprünglichen Klangeindrucks ergeben — unter anderem, weil die Wiedergabe in einem akustisch erheblich anders gelagerten Raum stattfindet. Trotz dieser unumgänglichen Einschränkung lässt sich beim Abhören geeigneter (sorgfältig aufgezeichneter und im Abmischungsprozess nur behutsam bearbeiteter) Tonaufzeichnungen immerhin ein solider Eindruck vom Live-Konzerterlebnis der betreffenden Aufführungsstätte gewinnen. Die drei nachfolgend vorgestellten Tonträger des Labels Nimbus Records zählen zu dieser Kategorie, „funktionieren“ in dieser Hinsicht in sehr guter Näherung. Das, was es hier von CD zu hören gibt, passt also gut zu dem, was ich von der Akustik im großen Konzertsaal im KKL in Erinnerung habe. Entsprechend bleibt auch von den drei CDs gehört das Klangbild selbst bei Klangausbrüchen außerordentlich transparent, ausgewogen und natürlich. Dank einer exakt dosierten, nicht zu großen Portion natürlichen Raumhalls erscheint es weder trocken noch schwammig.
Dabei ist noch folgendes bemerkenswert: Bei den beiden Alben „Franz Schreker: Ausdruckstanz“ sowie „Kaddish“ handelt es sich um Live-Mitschnitte, entstanden bei den Lucerne Festivals 2005 und 2006; allein „Franz Schreker und seine Schüler“ entstand 2005 unter Studiobedingungen. Bei den auf den drei Tonträgern befindlichen Zusammenstellungen variieren im Instrumentalen wie Vokalen die Größen des jeweiligen Ensembles. Von kammermusikalischer Intimität bis hin zum ausladenden breitorchestralen Crescendo reicht das Gebotene.
Freilich geht es hier nun nicht allein um Klangdemonstration, sondern ebenso um hörenswerte und — da praktisch durchweg selten aufgeführt — zugleich um entdeckenswerte Musik. Das Gesamtprogramm von rund 210 Minuten reicht für mindestens zwei komplette heimische Konzertabende aus. Die zwischen 1900 bis 1963, also in einem Zeitraum von rund 60 Jahren entstandenen Werke sind das Spiegelbild großer stilistischer Veränderungen und entsprechender zeitgeschichtlicher Turbulenzen.
„Franz Schreker und seine Schüler“ beinhaltet Frühwerke dreier Komponisten: Neben zwei um 1900 komponierten Stücken für Streichorchester Schrekers (1878—1934) sind Kompositionen zweier seiner Schüler, von Julius Bürger (1897—1995) und Ernst Krenek (1900—1991), vertreten. Kreneks 1. Sinfonie aus dem Jahr 1921 wagt sich im klanglich eruptiven und dabei kühnen Gestus sicher am meisten vor auf das noch wenig erschlossene Terrain der Neuen Musik. Die beiden üppigen, dabei sehr einfühlsam eine Verbindung zwischen Wort und Musik anstrebenden Orchesterlieder Bürgers, „Legende“ und „Stille der Nacht“, markieren dahin quasi den Weg – sie verweisen ein wenig auf Alexander Zemlinskys „Lyrische Sinfonie“. In diesen Liedern wird nämlich sowohl die Bindung an die Tradition als auch das über die späte Romantik hinaus Tastende spürbar. Dagegen sind die zwei frühen Talentproben für Streichorchester des Lehrers Franz Schreker, Intermezzo und Scherzo, noch eindeutig konventioneller, aber deswegen gewiss nicht ohne Hörreize. Bereits hier ist der charakteristische, während der nachfolgenden Arbeit an der Oper „Der ferne Klang“ erst nachhaltig entwickelte Schreker-Touch in der Tendenz zu impressionistisch schillernd oszillierenden Klanggebilden bereits ansatzweise spürbar.
„Franz Schreker: Ausdruckstanz“ enthält die insgesamt fünf erhalten gebliebenen Tanzsuiten, komponiert zu den Aktivitäten der Schwestern Grete und Elsa Wiesenthal. Die beiden Tänzerinnen hatten sich 1907 vom klassischen Ballett abgewandt und einer damals markanten Gegenbewegung verpflichtet, dem so genannten „Ausdruckstanz“.
Die Neigung des reiferen Schrekers zur delikaten Klangschwelgerei ist bereits in den o. g. Talentproben spürbar. In der 1908 entstandenen Musik zum Tanzspiel nach Oscar Wildes Märchen „Der Geburtstag der Infantin“ tritt sie eindeutig hervor — siehe hierzu auch Alexander Zemlinskys nach derselben Vorlage komponierte Oper „Der Zwerg“. Das lange Zeit praktisch unzugängliche Stück erklingt hier übrigens nicht in der kürzeren Konzertversion von 1923, sondern in der musikalisch deutlich reichhaltigeren rekonstruierten Urfassung.
Hörenswert sind aber auch Schrekers eigensinnige Auseinandersetzungen mit dem Wiener Walzer in „Valse lente“ und „Festwalzer und Walzerintermezzo“ sowie seine reizenden Wiederbelebungen alter Stilformen im Sinne einer modernen Spiegelung in „Ein Tanzspiel“. Hierbei handelt es sich um durchaus charmante Miniaturen, die im üblichen Konzertbetrieb nur selten eine Chance erhalten.
Intimeren Kontrast dazu setzt die ebenfalls recht schwelgerische, aber nur für Violine, Klarinette, Horn, Violoncello und Klavier gesetzte Pantomime für kleines Orchester „Der Wind“.
Das dritte Album „Bernstein, Weill, Schönberg: Kaddish“ bildet zu den beiden vorstehenden einen besonders markanten Kontrast. Vereint sind hier drei dem Andenken an die Toten gewidmete Schöpfungen dreier jüdischer Tonsetzer. Das bereits vor dem 2. Weltkrieg, im Jahr 1928 entstandene „Berliner Requiem“ Kurt Weills steht neben Arnold Schönbergs (1874—1951) „Ein Überlebender aus Warschau“ (komponiert 1947) sowie Leonard Bernsteins (1918—1990) Totenklage aus dem Jahr 1963, der dem Andenken des ermordeten Präsidenten John F. Kennedy gewidmeten 3. (Chor-)Sinfonie „Kaddish“. Hier wird sie präsentiert in einer auf Wunsch Bernsteins von Samuel Pisar, einem Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz, aktualisierten und die Aussage noch stärker verallgemeinernden neuen Textfassung. Diese Neufassung, uraufgeführt 2003 beim Ravinia-Festival in Chicago erlebte übrigens mit Pisar als Erzähler im Rahmen des vorliegenden Mitschnitts vom Lucerne Festival 2006 ihre europäische Erstaufführung.
Kurt Weills „Berliner Requiem“ entstand auf Texte Bert Brechts als Auftragskomposition des Reichsrundfunks 1929. Es ist dem Andenken der Toten des 1. Weltkriegs, aber auch der Ermordung Rosa Luxemburgs im Jahr 1919 gewidmet. Die wechselvolle, recht paradoxe Geschichte dieser nicht wirklich in einer definitiven Fassung, eher torsohaft existierenden, teilweise sarkastisch-bissigen (atheistischen) Trauerkantate wird übrigens im Begleitheft gut umrissen. Die hier zu hörende „Luzerner Fassung“ des englischen Musikwissenschaftlers und Weill-Forschers David Drew entstand zum 100. Geburtstag Kurt Weills 2000 und ist wiederum 2006 beim Lucerne Festival uraufgeführt worden. (Drew hatte das Stück erstmalig bereits 1967 neu ediert.) Im Tonfall erinnert die Musik an Weills Lieder oder auch „Die Dreigroschenoper“. Neben Formen der damaligen Unterhaltungsmusik, wie Foxtrott, Tango und (Arbeiter-)Marsch ist eine neoklassizistisch kühle Tonsprache charakteristisch. Die Besetzung ist eher sparsam und bereits durch Reduktion auf ein Bläserensemble deutlich vom Sentiment der Spätromantik abgesetzt.
Schönbergs mit knapp acht Minuten kurze Trauerode zum Gedenken an den Holocaust, „Ein Überlebender aus Warschau“, ist ein Werk von beeindruckender Expressivität. Die in der Regel selbst auf breite Hörerschichten unmittelbare starke Wirkung des Stückes resultiert aus dem wohl kalkulierten effektvollen Nebeneinander des durch atonale Klangballungen musikalisch illustrierten Schreckens und dem am Schluss damit kontrastierenden, im inbrünstig angestimmten Lied „Höre Israel“ erhaben Klang werdenden jüdischen Glauben. Bernsteins chorale 3. Sinfonie „Kaddish“ bindet die tiefe jüdische Religiosität in Form des Kaddish (Totengebets) ein. Der Komponist lässt dieses in der Sinfonie sogar dreimal, in untereinander deutlich kontrastierenden Stilen und Stimmungen erklingen. Neben atonaler Dissonanz gibt es im Stück weit gespannte an Mahler gemahnende Teile, Jazzanklänge und die für Leonard Bernstein typische, hier mitunter besonders wuchtig gestaltete Rhythmik. Das Neben- und auch Gegeneinander von Tradition und Modernität sorgt dabei für besonders starke Spannungen. Das schafft Raum für aufwühlende Dramatik aber auch für Versöhnliches. Das in eine große finale Fuge mündende aufrüttelnde Werk ist neben Totenklage zugleich Anklage an einen tatenlos gebliebenen Gott: „Sprich mir nach, Vater: Niemals vergessen!“
Bei sämtlichen vorstehend vorgestellten Werken kommt das Luzerner Sinfonieorchester zum Zuge, nicht zu verwechseln mit den unter demselben Kürzel, „LSO“, firmierenden Londoner Kollegen und ebenso wenig mit dem Lucerne Festival Orchestra. Gegenüber dem zuletzt genannten, erst 2003 begründeten Klangkörper blickt das LSO auf eine rund 200-jährige Tradition zurück. Hervorgegangen aus der 1806 erfolgten Gründung der örtlichen Theater- und Musikliebhabergesellschaft, hat sich dieses Luzerner Ensemble aus ganz bescheidenen Anfängen (noch um 1914 umfasste es gerade mal 16 Spieler) nach und nach, ganz besonders in den letzten rund 30 Jahren, ganz beachtlich entwickelt. Von 1997 bis 2002 führte der mittlerweile zum Chef der Bamberger Symphoniker avancierte Jonathan Nott den Taktstock und seit 2004 hat der Texaner John Axelrod diesen Posten inne. Die drei vorliegenden ersten CD-Veröffentlichungen sind hörenswerter Beleg für die beachtliche Qualität wie auch die Vielseitigkeit des LSO, das, verstärkt durch Gastorchester, auch vor schwierig aufzuführenden Werken des 20. Jahrhunderts wie „Amériques“ von Edgard Varèse nicht zurückscheut.
Natürlich dürfen beim sehr überzeugenden Bild, das die vorliegenden CD-Alben liefern, die Verdienste der Vokalsolisten ebenfalls nicht vergessen werden: Als Gesangssolisten sind hier zu nennen der Bariton Dietrich Henschel (Julius-Bürger-Lieder); der Bariton Christian Immler sowie der Tenor Jan Remmers („Berliner Requiem“); der Rundfunkchor Berlin und die Knaben des Staats- und Domchores Berlin („Berliner Requiem“ und „Kaddish“).
Der starke amerikanische Akzent von Noam Sheriff als ansonsten gutem Sprecher bei „Ein Überlebender aus Warschau“ macht sich in den deutschen Textteilen schon unangenehm bemerkbar. Das ist m. E., zumindest für mit dem Deutschen vertraute Ohren, ein die Wirkung nicht unerheblich beeinträchtigender Schwachpunkt — allerdings einer, der sich leider in den allermeisten Aufnahmen dieses Werks findet.
Fazit: Die drei vorgestellten CDs legen ein beachtliches Zeugnis für das vom aus New York stammenden Akustiker Russell Johnson im Luzerner KKL Erreichte ab. Sie präsentieren aber ebenso das Luzerner Sinfonieorchester, LSO, unter John Axelrod als formidables Hausorchester am KKL. Das belegt ein mehr als 60 Jahre Zeit- wie Musikgeschichte interessant widerspiegelndes, recht vielseitiges sowie mit selten gegebenen Werken bestücktes Gesamtprogramm in durchweg sehr überzeugenden Darbietungen. Von romantisch wie impressionistisch gefärbten, zum Teil irisierenden Klangfarben bis zu schroffer modernistischer Expressivität reicht das klangliche Spektrum. Es umfasst Werke von der Wiener Moderne des frühen 20. Jahrhunderts bis hin zur musikalischen Totenklage zum Gedenken der Opfer von Verfolgung und Unterdrückung. Vielleicht ist das selbst im üppigen Crescendo so überzeugend durchsichtige und generell sehr ausgewogene natürliche Klangbild der vorliegenden Alben dazu in der Lage, bei manch Interessiertem die Lust auf ein Live-Erlebnis zu beflügeln.
Allen drei Alben zeichnen sich außerdem durch sorgfältig abgefasste, sehr informative Begleithefttexte aus.
Weiterführender Link:
Grosch, Nils: Notiz zum „Berliner Requiem“ von Kurt Weill — Aspekte seiner Entstehung und Aufführung
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