Kleine Klassikwanderung 27: Joachim Raff — Das vergessene Bindeglied zwischen Klassizismus und Spätromantik.
Joachim (Joseph) Raff erblickte als Sohn eines aus dem Schwarzwald stammenden Deutschen und der Schweizerin Katharina Schmid am 27. Mai 1822 in Lachen am Obersee, in der Nähe von Zürich im Kanton Schwyz das Licht der Welt. Die „Lieder ohne Worte“ Mendelssohn Bartholdys beeindruckten den hochmusikalischen Jungen tief und er traute sich Kontakt zu dem aufzunehmen, bei dem er gern studieren wollte — was dessen früher Tod verhinderte. Mendelssohn Bartholdy empfahl bereits im Jahr 1843 die ihm vom blutjungen Raff zugesandten Klavierstücke nachhaltig dem Leipziger Verleger Breitkopf & Härtel: „Stünde auf dem Titel der Sachen ein recht berühmter Name, so bin ich überzeugt, sie würden ein gutes Geschäft damit machen, denn aus dem Inhalt würde gewiss keiner merken, dass manches dieser Stücke nicht von Liszt, Döhler oder einem ähnlichen Virtuosen wäre. Alles ist durchaus elegant, fehlerlos und in modernster Weise geschrieben.“
Im Jahr 1845 begegnete Raff bei einem Konzert in Basel dem berühmten Klaviervirtuosen und Komponisten Franz Liszt — angeblich soll der junge Mann dafür sogar zu Fuß von Zürich nach Basel gepilgert sein. Der Maestro war vom jungen Talent derart beeindruckt, dass er ihn nach Deutschland holte. Nach Aufenthalten in Köln, Stuttgart und Hamburg trat Raff 1850 in Weimar als Privatsekretär bei Liszt in den Dienst. Dieser bescheinigte bereits dem jungen Komponisten: „Als Musiker lehnt er sich oft an Mendelsohn, am entschiedensten an Wagner, manchmal an Berlioz, in einzelnen Momenten auch an italienische Komponisten an. Sein Stil ist gedrungen, voll reflektiert und reich an glücklichen harmonischen Feinheiten und Wendungen, deren Wagnisse sich jedoch fast immer auf die Basis der Regel zurückführen lassen; [ ] Raffs Originalität besteht namentlich in dem Wie, mit welchem er die angewandten Elemente vereinigt und assimiliert. Sein Stil sichert ihm unter den Komponisten der Jetztzeit einen gesonderten Platz und stellt seine Individualität schon jetzt in die Zahl derer, die sich bereits eines anerkannten Rufes erfreuen. Wenn es wahr ist, dass die Kunstwerke durch ihren Stil leben, so dürfen sich die Arbeiten Raffs einer ziemlichen Dauer sicher sein. Er hat sich einen Stil geschaffen, der vollständig mit den Eigenheiten seines Talents und seiner Individualität übereinstimmt.“ Er betraute den Jüngeren mit der Instrumentierung einiger seiner Tondichtungen (z. B. des „Prometheus“), die er erst im Nachhinein durch eigene Orchesterfassungen ersetzte.
Raff konnte sich nach der Trennung von Liszt 1856 nach und nach etablieren. Damit ist aber eben nicht der kurzlebige, eventuell sogar nur regionale Tageserfolg gemeint, sondern ein während seines Wirkens permanentes Anwachsen der Aufführungszahlen, nicht zuletzt seiner sinfonischen Werke. Und nicht allein das Publikum mochte diese Musik, auch namhafte Zeitgenossen wie Peter Tschaikowsky haben den Komponisten außerordentlich geschätzt. Tschaikowsky zählte ihn im Jahr 1876 zu den Autoritäten ersten Ranges, neben z. B. Verdi und Brahms. Und im selben Jahr berichtete der Dirigent der Philharmonic Society Concerts, Leopold Damrosch, sogar aus New York: „Es wimmelt hier von Raff. Ihre sinfonischen und Kammermusikwerke sind hier so bekannt wie irgend Beethoven’sche.“
Natürlich ist Raffs Musik vom Geist ihrer Zeit mitgeprägt. Dafür stehen romantisierende Untertitel der Werke, wie „Im Walde“, „Aus Thüringen“ oder „In ungarischer Weise“. Nicht irritieren sollten aber Untertitel wie für den sinfonischen Erstling „An das Vaterland“ und heutzutage im Zusammenhang mit einem Musikstück merkwürdig anmutende Termini wie „deutscher Wald“, „Weidwerk“, „ von deutschen Männern“ oder gar „Gelebt: Gestrebt, Gelitten, Gestritten – Gestorben – Umworben“. In den hier verwendeten Vokabeln kommen Begriffe vor, deren Missbrauch während der NS-Ära manchen Intendanten immer noch abschrecken mag, diese Werke aufzuführen, sie also u. Umständen als „belastet“, als heiße Eisen anzusehen. Ruft man sich allerdings die ebenfalls vom Zeitgeist in der Mitte des 19. Jahrhunderts beeinflussten, unter dem Eindruck der Bildung der europäischen Nationalstaaten stehenden, patriotischen Programmnotizen — des ebenfalls von Liszt geförderten, zwei Jahre jüngeren — Smetanas zu „Mein Vaterland“ ins Gedächtnis, lassen sich derartige Bedenken leicht zerstreuen. Hauptgründe für die Zurückhaltung „beim Raffen“ im Konzertbetrieb dürfte aber wohl eher in mangelnder Experimentierfreude und vielleicht auch in dem mit dem Besorgen der nötigen Aufführungsmaterialien verbundenen erhöhten Aufwand begründet sein.
Dabei handelt es sich hier um Musik, die in ihrem romantischen Gestus dem Bedürfnis vieler Musikliebhaber klassischer Couleur nach Wohlklang nicht allein perfekt entgegenkommt. Ebenso ist diese handwerklich durchweg tadellos gearbeitet. Auch der mitunter zu lesende Vorwurf der Vielschreiberei greift daneben und ist im Übrigen nicht neu. Schon zu Lebzeiten wurde er erhoben und vom Komponisten abgeschmettert, der forderte, man möge ihm doch eines seiner Stücke zeigen, das liederlich gefertigt sei. Raffs Œuvre ist mit deutlich über 300 Werken, davon 216 mit und 74 ohne Opuszahl sowie rund 50 Bearbeitungen, schon allein vom Umfang her beachtlich. Es deckt fast sämtliche Werkgattungen ab, reicht von Kammermusik über Sinfonik bis hin zur Oper.
Was Mendelssohn bereits zu Klavierstücken des noch ganz jungen Raff schrieb — „Alles ist durchaus elegant, fehlerlos und in modernster Weise geschrieben“ — gilt auch für die Werke des Sinfonikers. Wer vom klanglichen Rausch der Spätromantik her kommt, muss hier allerdings einen Gang zurückschalten. Sicherlich wirkt Raff’sche Musik auf den heutigen Hörer nicht unmittelbar vergleichbar spektakulär und ungewöhnlich wie beispielsweise die monumentalen Werke von Mahler und Strauss. Auch spiegeln sich in seiner anfänglich partiell vielleicht sogar etwas bieder wirkenden Musik hörbar große Vorbilder wider, die von Beethoven über Mendelssohn und Schumann bis zu Berlioz und (natürlich) Liszt reichen. Daraus aber nur auf handwerklich solides Epigonentum zu schließen — vergleichbar dem Fall Felix Weingartner, siehe Kleine Klassikwanderung 24 — erweist sich letztlich als unglückliches Schubladendenken, als überkommenes Relikt der Musikbetrachtung, das endgültig der Vergangenheit angehören sollte. Neben den vergleichbar mit Weingartner unüberhörbaren „Reminiszenzen“ finden sich auf Tschaikowsky bis Mahler vorausweisende Neuerungen. Die Innovationen zeigen sich allerdings in kleineren Bereichen, und bedürfen vom Hörer unserer Tage schon ein wenig die Bereitschaft des besonders sorgfältigen Hinhörens und Vergleichens. Wer dieser keineswegs sperrigen Musik (ganz im Gegenteil) etwas Zeit gibt ihre Reize, ja „Raffinesse“ voll zu entfalten, wird belohnt. Dann nämlich zeigt sich nicht nur die ausstrahlende Wirkung auf Peter Tschaikowsky, der Raffs Sinfonien nachweislich besonders geschätzt hat.
Lässt man diese Musik unvoreingenommen auf sich wirken, dann gibt es in ausnahmslos jedem der hier versammelten Werke (CD-Alben) viele Schönheiten und Elegantes zu entdecken. Auffällig ist besonders ein meisterlicher Umgang mit den klassischen Formen und ebenso ein ausgeklügeltes, häufiger an Hector Berlioz erinnerndes raffiniertes Spiel mit den Klangfarben des Orchesters, was für einen weitgehenden Autodidakten, wie Raff es war, schon auf eine außergewöhnliche Begabung schließen lässt.
Sein kritischer Standpunkt sowohl zum Lager der Konservativen als auch zu dem der Neudeutschen machte den menschlich sicherlich nicht einfachen, mitunter pedantisch, besserwisserisch und eigenbrötlerischen Raff gewissermaßen zum Mann zwischen den Stühlen, der nur wenige Freunde und Fürsprecher besaß. Auf der anderen Seite war er ein Intellektueller, der fließend Latein sprach und sich für Mathematik und Architektur interessierte. Sein „Bruch“ mit den „Neudeutschen“ (um 1856) wurde 1854 mit dem von ihm verfassten oberlehrerhaft-kritischen Buch „Die Wagnerfrage“ eingeleitet. Letztlich fühlte sich der aufstrebende Künstler von der Persönlichkeit seines Förderers unterdrückt und auch ausgenutzt — während der Weimarer Jahre hatte er kaum Zeit eigene Kompositionen zu schaffen. Entsprechend nabelte er sich 1859 ab, übersiedelte nach Wiesbaden und arbeitete fortan als freier Komponist, Lehrer und Dozent. Die darauf folgenden Jahre markieren die schaffensfreudigste Periode des Künstlers. Die privaten Differenzen zum ehemaligen Mentor Liszt sollten aber auch nicht übertrieben bewertet werden. Denn immerhin war (der damals bereits legendäre) Liszt auf Einladung seines ehemaligen Schülers in Raffs Glanzzeit, als Direktor des Hoch’schen Konservatoriums in Frankfurt am Main, in den Jahren 1879 und 1880 mehrfach zu Konzerten zu Gast.
Dass Raff ebenso umstritten war wie andere heutzutage berühmte Vertreter seiner Zeit, soll natürlich nicht verschwiegen werden. Der Halbbruder Clara Schumanns, der Dirigent und Komponist Woldemar Bargiel schrieb beispielsweise 1879: „Er hat viel gelernt, schreibt glänzend für Orchester, hat große contrapunctische Gewandtheit, aber kalt und hohl bleibt dennoch alles Rätselhaft ist mir der Mensch musikalisch.“
Der meist mit Richard Wagners Dunstkreis assoziierte Hans von Bülow wiederum, einer der besten Dirigenten der Ära und zugleich Vorläufer der modernen Maestros des Taktstockes, war ein Anhänger und Verfechter Raff’scher Musik und hat sich zeitlebens für diese eingesetzt. Nach von Bülows Ableben im Jahr 1894 beschleunigte sich der bereits in den 80er Jahren begonnene Niedergang der Beliebtheit Raff’scher Musik drastisch — Raff starb im Juni 1882. Im 20. Jahrhundert und besonders nach dem 2. Weltkrieg gerieten seine Kompositionen für Jahrzehnte praktisch völlig in Vergessenheit und das, obwohl sich andere gefunden hatten, wie Arturo Toscanini und der bei Filmmusikfreunden besonders renommierte Bernard Herrmann, die sich für seine Musik einsetzten.
„Invitation to Music“ startete am 6. April 1943 und begründete eine legendäre (späterhin in gewissem Sinne von Leonard Bernstein wieder aufgegriffene) Form erstklassiger Radiosendungen, in denen mit hochwertigen Künstlern sowohl populäre als auch wenig bekannte klassische Musik einem breiten Hörerpublikum nahe gebracht werden sollte. Etwa 1949 präsentierte Herrmann in diesem Rahmen auch die Sinfonien Nr. 3, „Im Walde“, und Nr. 5 „Leonore“. Und Anfang der 70er, während seiner letzten Jahre in London, engagierte Herrmann sich nochmals für den damals praktisch völlig Untergegangenen, indem er eine Einspielung der 5. Sinfonie auf dem Unicorn-Label produzierte.
Herrmann wurde so gewissermaßen der Pionier für die zumindest im Bereich Tonträger seit Beginn der 80er langsam in Fahrt gekommene Renaissance Raff’scher Musik, schwerpunktmäßig der sinfonischen Werke. Bis dahin musste allerdings noch einige Zeit vergehen, in der das immer wieder abgeschriebene (Vor-)Urteil über den angeblichen Epigonen in so manchem Konzertführer bis auf den heutigen Tag weiterlebt. Damit zusammen geht auch die von Carl Dalhaus in die Welt gesetzte Legende von der „toten Zeit der Symphonie“, einer angeblichen Lücke zwischen Schumann und Brahms — also zwischen 1850 und dem 1876 uraufgeführten sinfonischen Erstling von Brahms.
Raff, der besagte „Lücke“ füllt, sah sich als Teil der Tradition, an die er mit behutsam erarbeiteten Neuerungen anknüpfte. Er war gewissermaßen ein Grenzgänger zwischen Tradition und den ihr verbundenen Konservativen und der Moderne, vertreten durch die Neudeutschen (Liszt, Wagner und Berlioz). Seine Musik steht dabei immer fest auf dem von Beethoven bereiteten Fundament, ist häufig bemüht, die Formen der klassischen Musik mit der programmatischen Idee Liszts zu kombinieren. Und so stehen in seinem Œuvre Werke absoluter Musik und solche, die zur Programmmusik tendieren, nebeneinander.
Seine insgesamt 11 Sinfonien entstanden zwischen 1859 und 1879. Tragische Weltanschauungsreflexion oder sonst wie Pathetisches findet sich darunter nicht, eher eine leichtgebaute (nicht zu verwechseln mit leichtgewichtig) farbig instrumentierte und meist filigran gehaltene Musik, die weniger die dramatische, denn eine ausgeprägt lyrische Begabung betont.
Eher bescheiden und klassizistisch mutet dabei die von der ersten bis zur letzten Sinfonie annähernd konstante, eher mittlere Besetzung des Klangkörpers an; eine, die sich der zum Ende des 19. Jahrhunderts immer deutlicher ausprägenden Gigantomanie des Orchesterapparates klar verweigert. Üblich sind zwei (mitunter drei) Flöten, gelegentlich zusätzlich eine Piccoloflöte, zwei Oboen, zwei Klarinetten und zwei Fagotte. Ähnlich maßvoll gehalten sind das Blech und das Schlagwerk: Ersteres mit nur vier Hörnern, zwei Trompeten und drei Posaunen (ohne Tuba), Letzteres mit Pauken, eventuell Triangel und/oder kleiner Trommel. Die in der Ära der „Klassik“ noch als unkonventionell geltenden Saiteninstrumente Harfe und Klavier werden den meist geteilten Streichern überhaupt nicht an die Seite gestellt.
Trotz dieser gewissermaßen beschränkten Möglichkeiten gelingt es dem Komponisten regelmäßig, den Hörer mit vielfältigen, oftmals pastellfarbenen klanglichen Färbungen und Mischungen zu überraschen. Mit seinem sinfonischen Erstling, „An das Vaterland“, gewann er 1861 den Preis der „Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates“. Das darin musikalisch versinnbildlichte differenzierte „Bild des deutschen Charakters“ darf man heutzutage nicht mehr allzu ernst nehmen. Diese mit knapp 70 Minuten längste aller Raff-Sinfonien, zeigt wohl gerade im zentralen Larghetto, mit seinen innigen Cello-Soli, besonders eindeutig die auch für die späteren sinfonischen Werke des Komponisten charakteristischen Ingredienzien. Und neben der eindeutig klassizistisch geprägten, partiell festlichen 2. Sinfonie ist die 4. Sinfonie ein überaus beeindruckendes Beispiel für gekonnt ausgereizte Ökonomie. Ausgeprägte kammermusikalische Transparenz und maßvolle Klangentfaltung stehen Seite an Seite in einer Sinfonie, die keineswegs dürr anmutet. Das Werk, das in der Besetzung bescheidener ausgestattet als jede Brahms-Sinfonie daherkommt, überrascht mit raffinierten klanglichen Schichtungen. Der dritte Satz, eine Folge von elf Variationen über ein Thema in c-moll, erinnert deutlich an Beethoven. Und im Finale, vor dem heiteren Kehraus, gibt’s nochmals eine augenzwinkernde Prise des großen Vorbildes, in Form einer von den Celli intonierten, eindeutig an das Finale „Der Neunten“ gemahnenden Phrase. Merkwürdigerweise attestierte die zeitgenössische Kritik dieser so eindeutig klassizistisch gehaltenen Sinfonie „Wagnerische Effektheischerei“.
Die mit programmatischen Untertiteln versehenen Sinfonien Nr. 3, „Im Walde“, und Nr. 5, „Leonore“, zählen zu den besonders inspirierten Schöpfungen des Komponisten. Erstere ist ein partiell an Mendelssohn, Dvořák und auch ein wenig an Bruckner und Wagner („Waldweben“) erinnernde, zum Teil serenadenhaft stimmungsvolle Wanderung durch die Natur. „Leonore“ (nach einem Gedicht von Gottfried August Bürger) steht im Tonfall Liszt und ebenso Berlioz sehr nahe. Wobei der recht bildhafte dritte Satz, mit seinem vorüberziehenden Marsch, durchaus einen Hauch von Filmmusik mit Ritterromantik (voraus-)ahnen lässt.
Die 6. Sinfonie entstand im Herbst 1873 und verfügt über ein literarisches Programm der besonderen, heutzutage merkwürdig anmutenden Art: „Gelebt: Gestrebt, gelitten, gestritten; – Gestorben; – Umworben.“ Hier sollte sich der Hörer ähnlich den Beschreibungen zur Sinfonie Nr. 1 „An das Vaterland“ nicht beirren lassen. Anstelle der Reflexionen über ein Künstlerdasein sollte er vielmehr primär die Musik auf sich wirken lassen. Und da hat auch die Sechste, bereits zu Lebzeiten Raffs die Sinfonie mit der geringsten Publikumsresonanz, noch so einiges an Hörenswertem zu bieten.
Wem bei der Sinfonie Nr. 7 mit dem Beinamen „In den Alpen“ (komponiert 1875) nun prompt die „Alpensinfonie“ aus dem Jahr 1910 von Richard Strauss in den Sinn kommt, assoziiert unglücklich. Mit der Monumentalität des Gipfelrundblickes des Strauss’schen Opus Magnum kann das eher unterhalb der Baumgrenze verbleibende Opus von Raff nicht unmittelbar mithalten. Handfeste extravagante musikalische Illustrationen bleiben außen vor, dezente bildhafte Spiegelungen jedoch finden sich durchaus: wie die majestätischen Momente im ersten Satz, ebenso im farbenreich schillernden dritten Satz, „Am See“, und auch im Finale, „Beim Schwingfest; Abschied“.
Die vier letzten Sinfonien sind mit Untertiteln versehen, die sich auf die vier Jahreszeiten beziehen: Nr. 8, „Frühlingsklänge“, Nr. 9, „Im Sommer“, Nr. 10, „Zur Herbstzeit“, und Nr. 11, „Im Winter“. Entstehungsgeschichtlich kann man nur bedingt von einer Jahreszeiten-Tetralogie sprechen, unter anderem, weil Raff nicht chronologisch vorging und die in Wirklichkeit 8. Sinfonie zurückhielt. Diese wurde dann posthum als Nr. 11, „Im Winter“, von einem Freund veröffentlicht. Und zur 10. Sinfonie, „Zur Herbstzeit“, gibt es eine ursprüngliche, später ersetzte Fassung des dritten Satzes, die der Interessierte als „Elegie für Orchester“ auf dem Album mit den Shakespeare-Ouvertüren (s. u.) hören kann. Alles in allem enthalten diese vier Sinfonien frisch und zugleich erlesen wirkende Musik, bei der so manches in die Zukunft verweist. So wirft im finalen herbstlichen Hallali der 10. im komplexen Ostinato bereits der Ravel’sche Bolero von 1928 seine Schatten voraus. Und in der letzten Sinfonie des Jahreszeiten-Zyklus „Im Winter“ schimmern neben einem Hauch von Impressionismus deutlich auf Tschaikowski verweisende Anklänge hindurch, z. B. in der Behandlung der Holzbläser, bei der man bereits das „Nussknacker-Ballett“ erahnen kann.
Neben den Sinfonien hält der Tudor-Zyklus auch noch diverse hochkarätige „Zugaben“ bereit. Da sind zum einen die hörenswerten, einfühlsam interpretierten zwei Solokonzerte für Cello und Orchester (Solist Daniel Müller Schott) sowie die beiden Violinkonzerte (Michaela Paetsch Neftel, Violine). In diesen Fällen handelt es sich um ausgeprägt melodische, effektvolle und dankbare Virtuosenstücke. Dies sind für ihre Zeit charakteristische Auftragsarbeiten, die, wie man heute sagen würde, den jeweiligen Künstler promoten sollten. Ebenso wertvoll sind die vier Orchestersuiten, deren Nr. 1 partiell an die Bach’sche Tradition anknüpft und in Teilen zwar nicht plakativ-deftige, aber stimmungsreiche musikalische Porträts enthalten. Darauf verweisen bereits ein wenig die programmatischen Bezeichnungen „Aus Thüringen“, „Italienische Suite“ und „In ungarischer Weise“.
Raff war übrigens auch ein Pionier als Bearbeiter Bach’scher Orgelmusik für Orchester. Seine Transkription der „Chaconne“ aus der zweiten Partita für Solo-Violine BWV 1004 entstand bereits 1873: rund 50 Jahre vor Max Regers Arrangement eines Choralvorspiels für Streicher — siehe auch Leopold Stokowskis Version der „Chaconne“ in „Kleine Klassikwanderung 24“.
Zu den wenigen Stücken, die dem völligen Vergessen nur knapp entgingen, zählt übrigens die ansprechende, aber kompositorisch sicherlich eher belanglose, zur Gattung der Salonmusik zählende sangliche „Cavatina“ op. 86 für Violine und Klavier aus dem Jahr 1859 — im Stadlmair-Zyklus auf dem Album mit den Violinkonzerten vertreten.
Das Album mit den exakt als „Vier Orchestervorspiele zu Dramen von Shakespeare“ bezeichneten Shakespeare-Ouvertüren ist vielleicht gerade für den Freund der Filmmusik ein besonders attraktiver Ausgangs- und Einstiegspunkt in das sinfonische Œuvre Joachim Raffs. Als geistreiche und frei gestaltete, den Liszt’schen Tondichtungen besonders dicht verwandte Musik offenbaren sich diese Ende der 1870er komponierten Stücke. Sie markieren geradezu einen stilistischen Sprung, weg von den klassischen Formen, wie Sonatenhauptsatz etc., hin zu einem aus Blöcken bestehenden Montageprinzip, das die Vertonung von Spielfilmen geradezu vorwegnimmt. Dem hier im Detail Interessierten sei Avrohom Leichtlings Analyse (www.raff.org/download/mac_de.htm) empfohlen, die zu „Macbeth“ einen faszinierenden Entwurf eines Vertonungsdrehbuches enthält und dabei die (fast schon dem Mickey-Mousing ähnliche) Bildbezogenheit, der motivischen Arbeit verdeutlicht. Stadlmaier und seine Bamberger lassen (keineswegs nur) diese Musik mit sattem, rundem und intonationssicherem Orchesterspiel geradezu aufblühen. Elegisch satt klingende Streicher, elfenhaft luftige, an Mendelssohns Sommernachtstraum erinnernde Holzbläser und majestätisch-festliches Blech werden gefühlvoll unterstützt von den Pauken. Dies alles zusammen bildet miteinander ein erstklassiges Gesamtklangbild, das von einer wohldisponierten Klangtechnik überzeugend eingefangen worden ist. Die den Alben zugehörigen Begleithefte liefern zu den vertretenen Werken jeweils solide bis sehr gute Informationen.
Und last but not least gehört an diese Stelle noch ein Hinweis auf die der 4. Sinfonie zur Seite gestellten drei Opern-Ouvertüren („Dame Kobold“, „Benedetto Marcello“ und „Die Parole“). Stücke, die jedem entdeckungsfreudigen Musikfreund dank mediterranem Brio mit Mozart-Touch ein leichtgewichtiger, aber keineswegs im Sinne von „leichter Muse“ zu verstehender Hörspaß werden dürften.
Das Schweizer Klassikspezialitäten-Label TUDOR (www.Tudor.ch) hat sich der Musik dieses Tonsetzers bislang am nachhaltigsten angenommen: Gewissermaßen als Fingerübung für den „definitiven“, seit 1999 erschienenen Raff-Zyklus mit den Bamberger Sinfonikern unter Stadlmair produzierte das Label bereits um 1980 eine Aufnahme der nach den Jahreszeiten benannten Sinfonien Nr. 8 bis 11 in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Radio DRS in Basel. Und 1989 trat das Marco-Polo-Label auf den Plan, präsentierte zuerst eine CD mit zwei Orchestersuiten: „Aus Thüringen“ sowie die „Italienische Suite“. Dies bildete die Vorausabteilung des ersten kompletten Zyklus der Raff-Sinfonien auf Marco-Polo. Einspielungen einzelner Orchesterwerke anderer Labels folgten.
Einige Jahre später begannen in Zusammenarbeit mit dem bayerischen Rundfunk die Tudor-Einspielungen mit den Bamberger Symphonikern unter der Leitung des österreichischen Dirigenten Hans Stadlmair. Diesem Artikel liegen die daraus resultierenden derzeit verfügbaren 12 Alben zugrunde. Auf diesen sind sämtliche 11 Sinfonien, die Solokonzerte, die vier Orchestersuiten sowie eine Reihe von Opern- und Konzertouvertüren untergebracht. Die dreizehnte CD mit dem Klavierkonzert Opus 185 stammt noch aus der Tudor-Raff-Frühphase und erschien 1995 auf dem Markt und präsentiert Aufnahmen des DRS mit dem Radio-Sinfonieorchester Basel und dem Pianisten Peter Aronsky. Neben der 1994 aufgenommenen „Ode an den Frühling“ für Klavier und Orchester ist eine bereits 13 Jahre zuvor, 1982, realisierte Einspielung des Klavierkonzert(s) op. 185 vertreten. Die ebenfalls mit dem (inzwischen nicht mehr existenten) Radio-Sinfonieorchester Basel eingespielten CDs mit den vier Jahreszeiten-Sinfonien (aus den frühen 1980ern stammend) sind mittlerweile vergriffen.
Unterm Strich markieren die TUDOR-Raff-Einspielungen mit den renommierten Bambergern unter Stadlmair zweifellos die Spitze des derzeitigen, mittlerweile recht umfangreichen Katalogangebots Raff’scher Sinfonien und sonstiger Orchesterwerke. Bei den mir zum Vergleich zur Verfügung stehenden cpo-Einspielungen, der Sinfonien 7 – 11, mit der Philharmonia Hungarica unter Werner Andreas Albert (siehe dazu „Kleine Klassikwanderung 14“) geht es bei den Tempi teilweise etwas bedächtiger zur Sache. Bei der Sinfonie Nr. 7, „In den Alpen“, würde ich Stadlmair klar den Vorzug geben, bei den übrigen fällt das Urteil nicht derart eindeutig aus.
Wie schon angemerkt, gibt es letztlich auf jedem der hier versammelten CD-Alben wertvolle und unmittelbar zugängliche Musik, die das Entdecken lohnt. Um sich aufs „Raffen“ Lust zu schaffen, seien dem Raff-Novizen zur groben Orientierung folgende Alben besonders an das Herz gelegt: Die Sinfonien Nr. 3, „Im Walde“, und Nr. 5, „Leonore“, und auch die Shakespeare-Ouvertüren.
Wie TUDOR auf Anfrage mitteilte, ist man bestrebt, mittelfristig im Katalog einen Raff-Zyklus aus möglichst einem Guss zu präsentieren. Entsprechend hat man während der fruchtbaren Kooperation mit dem Bayerischen Rundfunk und den Bamberger Sinfonikern unter der Leitung von Hans Stadlmair konsequenterweise auch die Jahreszeiten-Sinfonien erneut aufgenommen. Und auf dieser Schiene dürfte wohl auch nochmals das Klavierkonzert nachgereicht werden und ebenso eine weitere CD mit Werken für Violine und Orchester. Möge damit das letzte Wort zum Sinfoniker Joachim Raff aber noch nicht gesprochen sein: Eine Reihe kleinerer Werke und womöglich einige Fundstücke der Raff-Forschung wären sicherlich eine den vorzüglichen Zyklus ergänzende und abrundende Sache.
Sicher zählt längst nicht alles, was aus den Archiven an vergessener Musik erneut zutage gefördert wird zwangsläufig zur Gattung Meisterwerk; ein Begriff, mit dem man wohl auch im großen Werkkatalog des Joachim Raff sicher eher äußerst sparsam sein muss. Joachim Raff (1822-1882) hat jedoch nicht nur in der Geschichte der Orchestermusik des 19. Jahrhunderts — besonders in den Jahren zwischen etwa 1860 und 1880 — Beachtliches geleistet und bietet der Musikwissenschaft in seinen Werken so manchen Ansatzpunkt für überraschende Analysen; sein Œuvre bietet überhaupt viel schöne, inspirierte Musik, die es auch dem Hörer nicht zu schwer macht. Der Kreis schließt sich wiederum bei Mendelssohns Äußerung aus dem Jahr 1843 an den Verleger Breitkopf & Härtel, die ich an dieser Stelle, auf die Jetztzeit übertragen, frei zitiere: „Stünde auf dem Titel der Sachen ein recht berühmter Name, so bin ich überzeugt, sie würden aus dem heutigen Musikleben nicht wegzudenken sein. Dafür bieten die mittlerweile auf Tonträger in recht großer Zahl zugänglichen Einspielungen Belege in Fülle.“
Die Realität ist bislang jedoch anders: Im Konzertleben spielt Raffs Musik immer noch eine eher untergeordnete, kaum beachtete Rolle. Im vergangenen Jahr 2005 scheint zumindest in deutschen Landen über die „Sinfonietta für 10 Bläser“ hinaus kaum etwas dieses verkannten Meisters live erklungen zu sein.
So bleibt abschließend nur zu hoffen, dass sich die Gralshüter des Repertoirebetriebs besinnen mögen, auf das zukünftig so manches Raffinement die Chance bekommen möge, auch in Live-Darbietung sein Publikum zu überzeugen.
Weiterführende Links:
Joachim-Raff-Society unter www.raff.org
Werkverzeichnis unter www.klassika.info/Komponisten/Raff/wv_opus.html
Dieser Artikel ist Teil unseres umfangreichen Programms zu Ostern 2006.
Mehrteilige Rezension:
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