„The complete Metropolis“ — Das Ende eines Mythos?
Bereits im Jahr 2001 war die Berlinale Plattform für eine weitere Rekonstruktion des so berühmten wie heftig umstrittenen Fritz-Lang-Films. Damals schien das Machbare erreicht zu sein, der Urgestalt des Films so nahe wie möglich zu kommen. Doch seit der 2001er-Metropolis-Rekonstruktion hat sich Überraschendes ereignet. Ein 2008 im kleinen Museo del Cine Pablo Ducrós in Buenos Aires gehobener, sensationeller Fund brachte erneut Bewegung in die Sache. Es handelt sich um ein in den 70er Jahren angefertigtes 16-mm-Duplikatnegativ, entstanden als Sicherungskopie einer annähernd vollständigen 35-mm-Nitrokopie. Der Haken dabei: Das Material ist durch die nicht besonders sachkundige Umkopierung nicht nur im Format beschnitten. Da gegen die gravierenden Schäden der altersschwachen Vorlage nichts unternommen wurde, ja diese einfach mit kopiert wurden, sind sie in das Duplikatnegativ wie eingebrannt und damit Teil des duplizierten Bildes geworden. Das Ergebnis ist entsprechend von nur äußerst bescheidener Qualität. Mit Hilfe modernster Bildrestaurationsverfahren hat man das Bestmögliche herausgeholt. Das Resultat war am 12. Februar anlässlich der 60. Internationalen Filmfestspiele und der Ausstellung, „The Complete Metropolis“, live in Berlin und außerdem als Fernsehübertragung in HD-Qualität zu erleben. Im Laufe des Jahres soll diese Neu-Rekonstruktion von „Metropolis 2010“ übrigens als erster Stummfilm auch auf Blu-ray erscheinen.
Pünktlich zur Aufführung der neu rekonstruierten, jetzt erstmalig annähernd vollständigen Version des Fritz-Lang-Films entstand in Zusammenarbeit von Deutsche Kinemathek und Murnau Stiftung mit dem belleville Verlag das vorliegende Buch. Zwar ist der Band natürlich auch als eine Ergänzung zur noch bis zum 25. April währenden Berliner Ausstellung gedacht. Aber nicht ausschließlich. Er bildet zugleich das derzeit aktuellste Kompendium zum Thema und wirft in Teilen neues Licht auf bislang wenig wahrgenommene Facetten des fortwährenden Mythos um Metropolis. Dabei leuchtet das Buch das gesamte Spektrum dieser UFA-Produktion der Superlative anhand der Beiträge eines Kollektivs von 13 Autoren aus.
Bernd Eisenschitz liefert den Einstieg und spürt in „Wege und Umwege zu Metropolis“ dem verwickelten Entstehungsprozess des Films nach, von den ersten Entwürfen bis zum fertigen Endprodukt. Dabei wird u. a. deutlich, dass die von der Ufa verbreiteten Informationen unzuverlässig sind und kritisch geprüft werden müssen. Aber auch, dass Fritz Lang in Teilen offenbar kräftig mit dazu beigetragen hat, Legenden zu nähren und mitzuprägen wird deutlich — siehe dazu auch Das Testament des Dr. Mabuse (1933).
Die Entdeckung des bislang verschollenen Materials ist natürlich ein Teilaspekt der Untersuchung: in den Beiträgen „Metropolis entdeckt“ von Rainer Rothers sowie „Wir haben Metropolis!“ von Karen Naundorf und Paula Félix-Didier.
Martin Koerber war bereits an der 2001er Rekonstruktion beteiligt. Sein Essay „Erneute Notizen zur Überlieferung von Metropolis“ gibt detaillierte Einblicke in die Unterschiede der Ausgangsmaterialien, von denen die verwirrende Vielzahl der heutzutage existierenden Fassungen abstammt. Dabei geht er auch genauer auf die vorhandenen Archiv-Versionen und die bisherigen Restaurierungen von Metropolis inklusive deren Problemen ein.
Anke Wilkenings stellt in ihrem Beitrag eine besonders wichtige Frage: „Das Ende eines Mythos?“ Die Autorin beschäftigt sich unter anderem mit den grundsätzlichen ethischen Problemen bei Filmrestaurationen und damit der Suche nach dem Restaurationsziel. Es geht dabei um das Verständnis von Filmrestaurierung als Instrument der historischen Aneignung anstelle der Zurückgewinnung eines verlorenen Originals. „Metropolis scheint der Archivfilm par excellence zu sein, an dem die Probleme der Ethik der Restaurierung immer wieder neu durchexerziert werden.“ Den entscheidenden Stellenwert erhält die besonders strittige, aber zugleich ebenso unbestreitbar folgenreiche Version Giorgio Moroders aus dem Jahr 1984, welche keine Restaurierung, sondern vielmehr eine bewusste Neu-Montage ist. Moroders provokativer wie auch respektvoller Umgang mit dem vorhandenen Filmmaterial habe es ermöglicht, die zu verschiedenen Zeiten entstandenen Varianten des Films — von den verschiedenen Verleihversionen der UFA bis zu den verschiedenen Restaurierungen — als übereinanderliegende „Schichten“ zu begreifen. „Schichten“ die, vergleichbar mit einem mehrfach übermalten alten Gemälde, dokumentieren, wie eine Epoche den Film in ihren jeweils spezifischen Kontext eingeordnet und damit wie sie Objekte der Vergangenheit zeitgenössisch konsumiert hat. Der beachtlichen 2001er Restaurierung von Metropolis (auch auf DVD erschienen) folgte 2005 die (allein für Forschungseinrichtungen erhältliche) DVD-Studienfassung, welche erstmalig das erhaltene Bildmaterial zur vollständigen Originalmusik von Gottfried Huppertz (Fassung für zwei Klaviere) anordnete.
Die aktuelle 2010er Restaurierung konnte allein schon in technischer Hinsicht nicht die Uraufführungsfassung wiederherstellen (s. o.), sie kann allerdings als eine verbesserte Annäherung an die Uraufführungsfassung gelten. Sie setzt zwei historische Schichten von Metropolis miteinander in Beziehung: die aus den Lücken der Restaurationen von 2001 und 2005 einerseits und der erheblich vollständigeren argentinischen Fundsache andererseits, welche jedoch nicht zwangsläufig identisch mit der Uraufführungs-Montage ist. Während die Version von 2001 und vor allem die DVD-Studienfassung einen Diskurs über die Anordnung von Überlieferungselementen anregten, eröffnet die aktuelle Restaurierung nun eine Diskussion über den Erzähl- und Montagestil von Fritz Lang.
Im Essay „Rekonstruktion und Originalmusik von Metropolis“ des Dirigenten Frank Strobel, Leiter der Europäischen Filmphilharmonie, wird die Filmmusik von Gottfried Huppertz eingehend gewürdigt. Strobel, der auch die auf der Berlinale erfolgte Premiere der neuen Filmversion dirigierte, verdeutlicht die immanente Bedeutung der Originalpartitur bei der Erstellung der 2010er Metropolis-Fassung. Anhand von punktgenauen Vermerken (Synchronangaben) im Manuskript konnten nicht nur das bislang unbekannte, neue Material korrekt eingefügt, sondern auch Fehler in der Montage der 2001er Version korrigiert werden.
Besonders breiten Raum nimmt der unmittelbar bestechende Bildteil ein. Er folgt nicht chronologisch der filmischen Erzählung, sondern orientiert sich an den Orten, welche für den Film erfunden wurden, wie „Die große Metropolis“, „Die Vision Babel“, „Das Kontrollzentrum“ oder „Der Dom“. Neben erläuternden Beiträgen von Kristina Jaspers, Franziska Latell, Peter Mänz und Werner Sedendorf ergänzen Dokumente, Skizzen und weitere Abbildungen das präsentierte Bildmaterial.
Dass Metropolis viel mehr ist als die Summe seiner Bilder, wird von dem prächtigen Buch eindrucksvoll demonstriert. Dass allerdings mit dieser Publikation auch nur annähernd das Letzte zum Themenkomplex gesagt sei, davon distanzieren sich Franziska Latell und Werner Sudendorf bereits im Vorwort: „[…]Metropolis ist tatsächlich ein Monstrum — kein siebenköpfiger, sondern ein tausendköpfiger Körper. […] Metropolis ist wie ein Kaleidoskop, aus dem der Betrachter je nach Perspektive neue und andere Erscheinungen entdeckt.“
Fazit: Etwas größer als DIN A4 macht der mit 400 Seiten umfangreiche Band schon optisch etwas her und liegt zweifellos gewichtig in der Hand. Er hat es darüber hinaus aber auch in sich, liefert aufschlussreiche Ansichten und Einsichten in das verwirrend vielschichtige Phänomen Metropolis. Der Prachtband funktioniert dabei zugleich als willkommene Ergänzung früherer Publikationen. Die üppige Ausstattung mit sorgfältig ausgewähltem Bildmaterial, ausgewählt aus rund 1000 Fotos — z. B. aus der persönlichen Sammlung Langs, die dieser in den 1960ern der Cinémathèque Française überlies — lädt dabei unmittelbar zum Blättern und Stöbern ein.
Dieser Artikel ist Teil unseres Spezialprogramms zu Ostern 2010.
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