Erik Chisholm: Der widerentdeckte Moderne der schottischen Musik des 20. Jahrhunderts
Die Musik des in Glasgow geborenen Erik Chisholm (1904–1965), welchen Arnold Bax als den progressivsten Komponisten bezeichnete, den Schottland jemals hervorgebracht hat, war bis vor rund einer Dekade nahezu komplett vergessen. Chisholm, der mit Alfredo Casella vierhändig Klavier gespielt hat, der Hindemith und Bartók nach Glagow eingeladen hatte, blieb auch in seinem eigenen Schaffen im Ausdruck den Komponisten der Moderne zeitlebens eng verbunden. So verhalf er nicht nur bedeutenden Werken des klassischen Repertoires zur britischen Erstaufführung, wie Mozarts „Idomeneo“, sondern war in besonderem Maße um zeitgenössische Komponisten bemüht. Neben Béla Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ machte er sich u.a. auch um das Schaffen seines Landsmanns William Beaton Moonie (1883–1961) verdient, dessen Wiederentdeckung ebenfalls bevorstehen dürfte. Zu seinem Spitznamen „MacBartók“ kam er, da er, vergleichbar mit Bartók, von der ihn faszinierenden schottischen Volksmusik ausgehend seinen ganz eigenen Personalstil entwickelte ohne dabei traditionelle Vorbilder zu kopieren. Während des 2. Weltkrieges bekam er zudem Gelegenheit, die klassische nordindische (hindustanische) Musik zu studieren, wonach auch deren Einflüsse in seinem außergewöhnlichen Werk spürbar geworden sind. Dass es zudem zwischen den Musikkulturen Schottlands und Indiens gewisse Verwandtschaften gibt, ist ein sicher zunächst überraschender Aspekt, welcher noch zusätzlich neugierig darauf macht, Musik des Schotten zu hören.
Beim Programm des aktuellen Hyperion-CD-Albums ist das breit angelegte rund halbstündige Violinkonzert in vier Sätzen aus dem Jahr 1950 nicht nur das umfassendste Werk dieser Zusammenstellung. Es ist zugleich das für viele Hörer wohl unmittelbar schwieriger fassliche, sperrigere Musikstück. Ein in ganz besonderem Maße außergewöhnliches Violinkonzert, das sich neben westlich klassizistischen Formen gerade durch seine einzigartige Aura geheimnisvoll-meditativer, orientalisch gefärbter Klänge auszeichnet und insgesamt eine sinnlich-fesselnde Ausstrahlung besitzt. Derartiges bekommt man nicht alle Tage zu hören. Die an dieser Stelle erforderliche Einhörarbeit lohnt sich unbedingt.
Zum Einstieg eignen sich vorzüglich die aus orchestrierten Klavier-Preludes entstandenen drei Piecen „From the True Edge of the Great World“ (1943), bei denen interessanterweise wiederum das Klavier im Orchestersatz einen Platz erhalten hat. Der Titel zielt auf die Hebriden und das raue schottische Hochland ab, eine Region, welche bereits dem Römer Tacitus als der „wahre Rand der großen Welt“ galt, und steht für stimmungsmäßig abwechslungsreiche, farbige, besonders eingängige und tänzerisch gehaltene Stücke, die jeweils eine Melodie des Hochlands fantasie- und kunstvoll verarbeiten. Es bleibt zu wünschen, dass eine spätere Chisholm-Hyperion-Produktion uns auch noch die übrigen dieser herrlichen Stücke präsentieren wird. Beim Anhören kommt man so richtig in Stimmung für die im Jahr 1932 komponierte, mitreißende „Tanzsuite für Klavier und Orchester“, welche gewissermaßen ein vergleichbar faszinierendes Pendant zur gleichnamigen Komposition Béla Bartócks bildet. Hier kommt insbesondere die mitunter scharfkantige, wilde Rhythmik Chisholms zum Tragen, welche kaum einen Hörer loslassen dürfte.
Die Musiker des edlen BBC Scottish Symphony Orchestra unter der inspirierten Leitung von Martyn Brabbins sowie die Solisten Matthew Driver, Violine,und Danny Driver, Klavier, legen sich sämtlich prächtig ins Zeug, um mit angemessener Leidenschaft dieser seit so langer Zeit (bis zu rund 85 Jahren) nicht mehr gehörten Musik neues Leben einzuhauchen, was m. E. exzellent gelungen ist.
Neben dem vorzüglich durchhörbar eingefangenen Klang ist auch der sehr informative Begleithefttext von John Purser erwähnenswert, der neben Englisch und Französisch auch in Deutsch enthalten ist.
Fazit: Bei der Musik Erik Chisholms handelt es sich in jedem Fall um eine der besonders wertigen Ausgrabungen der letzten Jahre. Wie in der Überschrift erwähnt, war Chisholm zwar ein Moderner. Aber wer sich bei Musik bis etwa Béla Bartók vorwagen mag, der sollte auch bei Erik Chisholm keinesfalls zaudern, sondern vielmehr beherzt zugreifen und testen. Einmal mehr erweist sich das hervorragende britische Independent-Label Hyperion als ein Garant vorzüglicher Entdeckungen.
weiterführender LINK:
Eine Fundgrube an auf besonders einfache Weise zugänglichen Hintergrundinformationen zu Leben und Werk des bemerkenswerten Tonsetzers bieten die Erik Chisholm Webseiten: „Erik Chisholm – The Forgotten Man of 20th Century Scottish Music“.
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