Der aktuelle deutsche Film wird verstärkt wahrgenommen, findet sein Publikum. Entsprechend sind auf dem natürlich von US-Filmen beherrschten inländischen Filmmusikmarkt in den letzten Jahren vermehrt auch Filmmusikveröffentlichungen aus Deutschland aufgetaucht. CD-Alben, die anstelle der Musik zu einem Film das Schaffen eines bestimmten deutschen Komponisten porträtieren, bilden derzeit jedoch noch rare Ausnahmen, wie das Martin-Todsharow-Album von Alhambra, „Todsharow“ — vorgestellt auf Filmmusik 2000. Dieses noch nahezu unbekannte Terrain nachhaltig zu erschließen, beabsichtigt die Zeitschrift FILM-DIENST. Mit der Reihe „Edition Filmmusik — Komponiert in Deutschland“ hat man ein verdienstvolles und ehrgeiziges Projekt in Angriff genommen, das mittelfristig einen umfassenden klingenden Überblick über die aktuelle deutsche Filmmusikszene geben soll. An den Start gegangen ist man mit vier Alben, gewidmet den Komponisten Annette Focks, Katia Tchemberdji, Martin Todsharow und Stefan Will. Jeder CD liegt ein sorgfältig mit Bildern und informativen Texten versehenes Begleitheft bei, das zusammen mit einem Pappschuber in gleicher Optik der Reihe zugleich ein einheitliches, charakteristisches Gesicht verleiht.
Annette Focks (Album 01)
Annette Focks stammt aus dem im Emsland gelegenen Lingen. Sie verfügt über eine abgeschlossene Ausbildung an der Musikhochschule Köln und studierte anschließend Filmkomposition an der Münchner Filmhochschule.
Annette Focks, geboren 1964, komponiert seit 1999 Musik für Kino und Fernsehen. So für den südafrikanischen Oscarkandidaten Malunde (2002, Regie: Stefanie Sycholt) und für Die wilden Hühner (2005, Regie: Vivian Naefe). Ebenso vertonte sie diverse Janosch-Zeichentrickfilme (2002/03). 2005 ist die Komponistin mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet worden: für die Filmmusiken zu Rainer Kaufmanns Marias letzte Reise und Isabel Kleefelds Das Gespenst von Canterville.
Das vorliegende Album präsentiert Auszüge aus drei Filmmusiken. Zu Vier Töchter (2006) hat die Komponistin eine dem sensiblen Thema angemessene sehr filigrane musikalische Lösung gefunden. Wohlklingende Klangkombinationen eines kleineren Streicherensembles nebst Harfe, Solo-Cello und Klavier sowie geschickt und unkonventionell eingesetztes Schlagwerk, mit Xylophon, Vibraphon, Marimba und Glockenspiel, bestimmen das Programm. Eine Reihe fernöstlicher Instrumente sorgt darüber hinaus für zusätzliche Abwechslung und verleiht dem Geschehen zugleich dezent fremdartig schillernden Reiz. Hier kann man eine gewisse Nähe zu den exotisch einschmeichelnden Klangexperimenten Thomas Newmans attestieren.
Zur Vertonung des groß angelegten TV-Dreiteilers Die Kirschenkönigin (2004) stand das Slovak Radio Symphony Orchestra zur Verfügung. Auch hier ist abseits klanglichen Bombasts eher dezent und stimmungsmäßig einfühlsam vertont worden. Der überwiegend durchsichtig gehaltene Klangteppich zeichnet sich durch mehrere sehr eingängige Themen aus. Die Musik reflektiert einmal auf die Unterhaltungsmusik der Ära der 20er und 30er Jahre, sie bindet aber auch überzeugend jüdische Einflüsse ein.
Besonders kammermusikalisch-intim ist die Musik zu Das Paradies auf Erden (2003) geraten. Neben Laute und Gitarren agiert die selten zu hörende Viola da Gamba. Dieses auch „Knie-Geige“ genannte Instrument war besonders in der Renaissance und dem Barock im Gebrauch. Der Klang ist eindrucksvoll, jedoch deutlich weniger kräftig als der eines Cellos. Infolge läuft die Viola da Gamba Gefahr, im größer besetzten Ensemble klanglich überdeckt zu werden. Im modernen Sinfonieorchester wird sie daher nur selten eingesetzt.
Zur etwas skurril anmutenden filmischen Parabel über zeitlose Sehnsüchte des Menschen ist Annette Focks eine im bescheidenen Einsatz der Mittel geradezu schlichte, im Resultat jedoch ungewöhnliche kammermusikalische Filmvertonung gelungen. Das Besondere ist der durch den Einsatz der Laute und der selten zu hörenden Viola da Gamba resultierende Touch von „Alter Musik“.
Bereits an dieser Stelle sei verraten, dass das Album 01 dieser CD-Reihe auch den obersten Rang im derzeit verfügbaren Alben-Quartett belegt. Abwechslungsreichtum und Stilvielfalt sind hier gepaart mit melodischem Talent. Das steht zugleich für die hörbar solide Ausbildung der Schöpferin der vertretenen Musiken. Hier wäre auch ein Doppel-CD-Album höchst willkommen gewesen.
Katia Tchemberdji (Album 02)
Geboren 1960 in Moskau, ausgebildet am Moskauer Konservatorium, lebt und arbeitet seit 1990 in Berlin. Sie arbeitet als Komponistin und Interpretin (Pianistin) in erster Linie für Festivals der Kammermusik. Darüber hinaus ist sie im Rahmen ihrer Lehrtätigkeit mit innovativen Methoden in der Musikausbildung von Kindern hervorgetreten. Das Interesse der Künstlerin an der Filmvertonung ist erst vor einigen Jahren erwacht. Musik aus allen drei bislang vertonten Projekten ist auf dem vorliegenden Sampler zu hören: Frau fährt, Mann schläft (2004), Rauchzeichen (2006) und Du hast gesagt, dass Du mich liebst (2005). Im Ende 2007 an den Start gehenden Das Sichtbare und das Unsichtbare (Musik: Wolfgang Böhmer) ist die Künstlerin in der Rolle der Katharina Simonesco zu sehen.
Als tonal und themenorientiert und damit bereits beim allerersten Hören zugänglich erweisen sich die auf dem Sampler vertretenen, im Ausdruck meist sehr ruhig und melancholisch geprägten Filmmusiken. Die Komponistin beschränkt sich auf kleine, kammermusikalisch ausgerichtete Klangformationen, die sich in der Besetzung etwa von Sextett bis Nonett bewegen. Den Klavierpart interpretierte Frau Tchemberdji jeweils selbst. Ebenso interessant wie ansprechend ist dabei auch ihre „direkt zum Film“, also rein improvisationsmäßig, erfolgte Vertonung zu Du hast gesagt, dass Du mich liebst.
Alles in allem ist auch dieses Album eine durchaus hörenswerte Angelegenheit. In Gänze gehört kann es zwischendrin allerdings schon mal etwas durchhängen, da die Stile der Musiken recht ähnlich sind.
Martin Todsharow (Album 03)
Martin Todsharow, geboren 1967 in Berlin, hat in seiner Geburtsstadt an der Musikhochschule Hanns Eisler eine Ausbildung genossen. Seit 1997 ist er für Kino und Fernsehen tätig und vertonte unter anderem Die Unberührbare (2000), Suck My Dick (2001), Tattoo (2001) sowie Tatort- und Bella-Block-Krimis. Unter den an dieser Stelle Genannten besitzt er wohl die umfangreichste Liste mit Credits.
Von den hier Vertretenen ist Todsharow zweifellos der eigenwilligste und zugleich der mit Abstand sperrigste Vertreter der deutschen Garde von Filmkomponisten. Ob man in ihm, wie der Filmdienst schrieb, „ das begabteste Enfant Terrible der deutschen Filmmusik“ sehen oder unterstellen mag, „Kaum ein anderer Musiker im aktuellen Filmgeschäft — Hollywood eingeschlossen — schafft es, Bilder nachhaltiger zum Klingen zu bringen“, sei dahingestellt. Ich möchte an dieser Stelle auf die oben verlinkten Kritiken verweisen. Das Anhören des vorliegenden Doppel-CD-Albums hat mich in meiner Überzeugung bestärkt, dass Todsharows betont atmosphärische, von minimalistischer Tristesse und Ambient-Sounds geprägte Klangräume in allererster Linie unmittelbar dem Film dienliche Funktionsmusiken sind. Inwieweit man jedoch abseits der zugehörigen Bilder viel damit anzufangen vermag, muss jeder für sich herausfinden.
Zwischen den beiden als „Rot, Weiss, Schwarz“ und „Kalt, Hart, Funkelnd“ betitelten CDs des Doppelalbums ergeben sich für meinen Geschmack recht viele konzeptionelle Ähnlichkeiten. Einzig die stärker thematisch orientierte, aber dafür deutlich Thomas-Newman-lastige Musik zu Elementarteilchen sticht vom Rest ein Stück ab. In jedem Fall ist hier ein Probehören dringend anzuraten.
Stefan Will (Album 04)
Geboren 1959 in Fulda, sieht Stefan Will seine musikalischen Wurzeln im Bebop und Modern Jazz. Auszüge aus immerhin 14 Filmvertonungen bilden das rund einstündige Programm, wobei schon die Lauflänge der einzelnen Cues der zwangsläufig knappen Suiten nur selten länger als anderthalb Minuten, häufig sogar deutlich unter einer Minute beträgt. Die Stücke sind in der Regel von E-Piano, Streichern und Synthiesounds bestimmt. Häufiger treten dem meist sehr ruhigen klanglichen Geschehen weitere Soli (z. B. von Cello, Gitarre oder Vibraphon) hinzu, wobei die Musik kräftige minimalistische Einflüsse aufweist. Die hier vereinten filmmusikalischen Auszüge bestehen wiederum zumeist aus betont atmosphärischen Passagen, die in ihrer Klangbezogenheit auf Thomas Newman verweisen. Prägnantere Motive und/oder Themen, welche dem Hörer Anhaltspunkte und Orientierung geben, sind eher selten. Einige ansprechende Teile lassen sich aufspüren, wie in Mord im Hause des Herren (2002) und in Die Verlorenen (2006). Der ausgeprägte Minimal-Touch fördert insgesamt jedoch etwas das Gefühl von Austauschbarkeit, was auf Dauer ebenfalls eher etwas ermüdet denn fesselt.
Fazit: Zweifellos hat hier eine sehr verdienstvolle Reihe ihren Anfang genommen. Als klingendes Porträt eines zeitgenössischen deutschen Filmkomponisten besitzt jedes Album einen klaren Repertoirewert. Letzterer hängt im vorliegenden Fall erst einmal wenig davon ab, ob die vertretenen Musikstücke für den Hörer ansprechend sind. Das gilt auch für primär auf eine sehr spezielle Klientel abzielende Veröffentlichungen wie das Martin-Todsharow-Album. Nach den Kriterien von Cinemusic.de vorgenommene (Album-)Wertungen wären hier problematisch, da man mit ihnen Gefahr liefe, beim Leser in Teilen ungewollt ein zu negatives Licht auf eine insgesamt lobenswerte Initiative zu werfen.
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