Kommentar zum Film: September 5 — The Day Terror went Live
Die Sommerolympiade 1972 im Münchner Olympia Stadion sollte zur ungetrübten Darstellung eines seit dem Ende des 2. Weltkrieges geläuterten, unmilitaristisch auftretenden, friedlichen und weltoffenen, neuen Deutschlands werden. Entsprechend groß und wohltuend war über die ersten knapp anderthalb Wochen auch der Kontrast zu den überlieferten Bildern von der 1936er Berliner Olympiade. Am 10ten Wettkampftag jedoch hielt frühmorgens im olympischen Dorf der Schrecken Einzug in Form eines arabischen Terrorkommandos, dass das israelische Team in Geiselhaft nahm. Aufgrund des totalen Versagens der mit dieser Situation völlig überforderten deutschen Behörden und dem entsprechend komplett unzulänglich unternommenen Versuch, die israelischen Geiseln zu befreien, resultierte ein totales Desaster mit weitreichenden politischen Folgen. Diese bilden das zentrale Thema in Steven Spielbergs München (2005), wohingegen der vom Schweizer Regisseur Tim Fehlbaum inszenierte September 5 exakt auf die dramatischen Ereignisse der 21 Stunden dieses schicksalhaften Tages fokussiert. Diese werden allerdings aus einem unerwartet anderen, völlig neuen und dazu hochaktuellen Blickwinkel beleuchtet. Nur rund 100 m vom Geschehen entfernt befand sich das Studio von ABC Sport und dessen Team wagte etwas, das es so zuvor noch nicht gab, nämlich die Live-Berichterstattung zu einer aktuellen Krisensituation, ausgelöst durch ein spektakuläres Verbrechen. Insgesamt 900 Millionen Zuschauer sahen dabei live zu, mehr als bei der Mondlandung.
Dass man vom eigentlichen Vorfall nur das geläufige dokumentarische Bildmaterial und nichts speziell Nachinszeniertes zu sehen bekommt, ist dabei nur konsequent. September 5 will Steven Spielbergs München eben nicht Konkurrenz machen. Dabei sollte man allerdings nicht übersehen, dass letzterer kein Dokudrama, sondern vielmehr ein gut gemachter, spannender Polit-Thriller (versehen mit Botschaft) ist, der sich weitreichende fiktionale wie gestalterische Freiheiten gestattet.
September 5 thematisiert ein immerwährend aktuelles und zugleich brisantes Thema: die Verantwortung der Medien für die Art und Weise ihrer Berichterstattung. Was ist in der Darstellung und auch der Sprache noch seriös und was geht nicht? Und welche der zur Verfügung stehenden Bilder dürfen dazu noch gezeigt werden, z.B. wenn jemand umgebracht wird? Sämtliche Informationen müssen zuerst verifiziert, d.h. aus möglichst zuverlässigen Quellen doppelt bestätigt sein, bevor man sie in die Welt hinaus gibt. Ein weiterer wichtiger Aspekt, den Tätern nicht in die Hände zu spielen, kommt noch hinzu. Seinerzeit waren sich die ABC-Leute anfänglich nicht darüber im Klaren, dass ihre via Satellit direkt in die USA übertragene Berichterstattung auch über die TV-Geräte im olympischen Dorf und damit eben auch im israelischen Quartier von den Attentätern verfolgt werden konnte.
Einer, der im Zentrum der Filmhandlung steht, ist Geoffrey Mason (John Magaro), damals 28-jähriger Coordinating Producer im Münchner Studio des US-TV-Senders ABC Sports, der auch als Zeitzeuge beratend mitgewirkt hat. Die von den völlig unerwarteten Ereignissen ebenso überraschten Sportjournalisten waren gezwungen, ihre Entscheidungen extrem schnell, gegen die Uhr zu fällen. Entsprechend blieb ihnen kaum Zeit, über die Konsequenzen ihres Tuns im Detail nachzudenken. Dass die Beteiligten es sich nicht leicht gemacht haben, keinesfalls einen rücksichtslos die Situation ausschlachtenden Sensationsjournalismus betrieben haben, wird ebenso deutlich, wie auch die zwangsläufig resultierende Überforderung und damit verbundene Fehler. Das dringende Bedürfnis, sich zumindest etwas mehr Zeit zum Abwägen zu verschaffen, verdeutlicht der Moment, in dem die Verantwortlichen sich entschließen, einen Werbeblock einzuschieben.
Der Film demonstriert eindringlich, wie die Beteiligten zwischen dem Rausch der unerwarteten, direkt vom Ort des Geschehens erfolgten Live-Berichterstattung und Selbstzweifeln hin- und hergerissen waren. Fehlentscheidungen passierten nicht absichtlich, sondern resultierten aus den nicht immer fehlerfreien Abläufen der komplexen Nachrichtenmaschinerie. Um den tatsächlichen Ereignissen möglichst nahe zu kommen, wurden u.a. erst jüngst zugänglich gewordene Polizeiakten und auch das gesamte Material der O-Töne der ABC dieses Tages herangezogen. Dieses bildete die Basis für die vorliegende eindringliche Rekonstruktion der schicksalhaften 21 Stunden des 5. September 1972. Für das Gefühl von Authentizität hat die englische Fassung allen übrigen etwas voraus: die eingebundenen O-Töne des Moderators Jim McKay. Diese werden zusammen mit dem originalen Bildmaterial positioniert, was eindrucksvoll belegt, wie absolut vorbildlich dieser bereits seinerzeit agierte: im Tonfall unpathetisch, zwar betont sachlich aber eben nicht unempathisch, sondern vielmehr persönlich betroffen und damit menschlich und angenehm herüberkommend. Auch wenn dieser besonders eindringliche Effekt selbst durch den besten Synchronsprecher zwangsläufig nur bedingt nachgestellt zu werden vermag, der tadellose Gesamteindruck der deutschen Fassung ist davon nur marginal betroffen. Das ist in meinen Augen eher ein zusätzlicher Anreiz, sich diese Stellen oder auch gleich den gesamten Film, der eh zum mehrfachen Anschauen und eingehenderen Studieren einlädt, kurzfristig nochmals, nun in der englischen Fassung vorzunehmen. Dazu ist ja die vorliegende Konserve geradezu prädestiniert, auch weil sie dazu wählbare deutsche Untertitel bereit hält.
Spätestens dabei sticht dann ins Auge, wie ungemein sorgfältig und aufwändig die US-TV-Studiotechnik der frühen 1970er hier – fast zum Anfassen – zu neuem Leben erweckt worden ist: z.B. MAZ, Vidicon-Kamera, zeittypische Kopfhörer und natürlich auch das Telefon versehen mit der Wählscheibe. Eine wichtige Rolle für die TV-Berichterstattung spielten auch die mit Hilfe der im Gegensatz zu den noch so monströsen und schweren elektronischen Kameras besonders handlichen 16-mm-Kamera gemachten Aufnahmen. Deren kleine Filmrollen hat der seinerzeit als Runner für die ABC tätige Jimmy Schaeffler, als Athlet im Sportdress verkleidet, damals an den polizeilichen Absperrungen vorbei ins Studio geschmuggelt.
Der Look der Filmbilder ist abseits des technisch zwangsläufig unzulänglicheren Dokumentarmaterials tadellos, allerdings klar abseits aller perfekt jedes Detail scharf zeichnenden, perfekt ausgeleuchteten Hochglanzoptik angesiedelt. Dabei sorgt das durch die vielen zum Einsatz kommenden Monitore vielfältig diffuse Licht im Zusammenwirken mit einem zwischendurch erkennbaren leichten Studionebel eben verschiedentlich für einen dezenten Weichzeichner-Effekt. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die eher ungeschönt wirkende Optik ist keineswegs mau, sondern vielmehr bewusst quasi dokumentarisch nüchtern gehalten. Dies verstärkt beim Betrachter den Eindruck von Authentizität, lässt ihn näher dran sein und damit tiefer ins Leinwandgeschehen eintauchen. Wie zuvor erwähnt, hat man beträchtlichen Aufwand betrieben das nachgebaute ABC-Sport-Studio so authentisch wie möglich nachzugestalten.
Die 1991 in Hamburg geborene Leonie Benesch ist nicht nur dank der Streaming-/TV-Serie Babylon Berlin ein sehr vertrautes Gesicht. Sie vermochte zuvor besonders in İlker Çataks Das Lehrerzimmer und Petra Volpes Heldin zu überzeugen. Als dolmetschende Assistentin des Teams von ABC Sport, Marianne Gebhardt, verkörpert sie die zentrale deutsche Figur in diesem zuerst als deutsche Produktion gestarteten Filmprojekt. Aber das Drehbuch entwickelte sich weiter. Aufgrund der Fokussierung der Story auf ABC Sports sowie dem daraufhin mit ins Boot geholten Sean Penn (Projected Picture Works) wurde die Produktion internationalisiert und bereits weitestgehend englischsprachig. Beneschs nicht theatralisch aufgesetztes, sondern zurückhaltendes natürliches Spiel ist ein Attribut, das man auf das gesamte Ensemble übertragen kann.
September 5 liefert einigen Stoff zum Debattieren und das nicht bloß wegen der Verantwortung der Medien. Mittlerweile ist in diesem Punkt ja auch jedermann angesprochen, der sich bemüßigt fühlt, irgendwelche Informationen in Blogs mit anderen „zu teilen und zu kommentieren“, wie es in den (a)sozialen Medien so schön und scheinbar harmlos genannt wird. Die wichtige und zugleich wahre Feststellung im Bonusmaterial der BD, dass es uns besser ging als der Zeitungsdruck noch 24 Stunden Vorlauf benötigte, was dann ja auch für die darauf erfolgten Reaktionen galt, spricht für sich. Radio und Fernsehen haben hier bereits eine erste Beschleunigung in Gang gesetzt, die durch das Internet inzwischen längst mehr als tausendfach verstärkt und potenziert worden ist. Inwieweit dadurch die inzwischen von vielen als bedrückend empfundene Atmosphäre permanenter Bedrohung in Kombination mit zunehmender Lebensangst nicht maßgeblich befördert wird ist keineswegs abwegig.
Dass der absolut hochkarätige Film an den Kinokassen gnadenlos gefloppt ist, zeigt wie wenig zuverlässig das Gespür des Publikums des Öfteren ist. Es offenbart aber ebenso, das geradezu absurde Ansinnen der Vermarkter, einen Film allein nach den Einspielergebnissen des ersten Wochenendes zu beurteilen, anstatt Filmen etwas Zeit zu geben, die Nachfrage durch Mund- zu-Mund-Propaganda wachsen zu lassen.
Fazit: September 5 zählt keinesfalls zu den effektgeladenen Actionblockbustern, sondern ist vielmehr ein betont subtil daherkommendes, atmosphärisches Drama, das auf engstem Raum stattfindet, eines, das sich als ungemein spannendes, mitreißendes Kammerspiel entpuppt.
Hier geht’s zum BD-Rezensionsartikel.
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