Die zwischen 1968 und 1975 von Maestro Bernard Herrmann (1911–1975) auf dem Decca-Label bzw. in den USA auf dem London-Label erschienenen insgesamt sieben Filmmusik-LP-Alben gibt’s anlässlich des 110ten Geburtstag des Tonsetzers als besonders preiswertes Box-Set. Herrmann war nicht nur einer der ganz großen Komponisten die das so genannte „Golden Age“ (ab 1933 bis Mitte der 1950er Jahre) in besonderem Maße musikalisch geprägt haben. Seine die wagnerische Tradition als entscheidenden Ausgangspunkt benutzenden Kompositionen wirken in ihrem Ausdruck dank spezieller, außergewöhnlicher Instrumentierung, ihren ungewohnten Klangfarben und der vielfach zu beobachtenden, auf die seinerzeit noch in der Entwicklung befindliche Minimal Music verweisenden Texturen auch heutzutage noch experimentell, frisch und modern zugleich. Die im vorliegenden Box-Set der Decca vereinten Aufnahmen mit dem London Philharmonic und dem National Philharmonic Orchestra wurden auch infolge des Eklats um Hitchcocks Torn Curtain * Der eiserne Vorhang (1965) möglich, welcher Herrmanns Hollywoodkarriere abrupt beendete, woraufhin der Komponist nach England übersiedelte.
Abgesehen von eher poppig gehaltenen LP-Veröffentlichungen zu aktuellen Filmen lag die klassische Kinosinfonik damals praktisch noch im Dornröschenschlaf, auch weil viele der LP-Veröffentlichungen der 1950er entweder längst vergriffen oder nur sehr aufwändig per Spezial-Import erhältlich waren. Dabei markierte Herrmanns LP-Reihe einen wichtigen Weckruf, in den wenig später, im Jahr 1972, Charles Gerhardts besonders umfangreiche und bis auf den heutigen Tag geradezu prägende RCA-Reihe „Classic Film Scores“, bis 1976 mit insgesamt 14 Alben aufwartend, machtvoll mit einstimmte. Es dürfen allerdings auch die Bemühungen des Dirigenten und Arrangeurs Stanley Black (1913–2002) nicht übersehen werden, dessen Filmmusik-LP-Reihe „Film Spectacular“ (ebenfalls für Decca) bereits 1962 ihren Anfang genommen hatte und es bis 1978 (mit „Satan Superstar“) auf immerhin 8 LPs brachte. Auch wenn diese Einspielungen meist betonter auf Easy Listening konzipiert sind. Eine Reihe seiner überaus pfiffig gemachten Kurzsuiten sind im Resultat sogar herausragend und brauchen sich keineswegs zu verstecken: z. B. Ben Hur, Stagecoach, For Whom the Bell Tolls, Blood and Sand, Casablanca, Victory at Sea, Mrs. Miniver, Western Approaches und nicht zuletzt The Omen.
Bis auf Obsession * Schwarzer Engel (1975) handelt es sich bei den im vorliegenden Box-Set vereinten ehemaligen LP-Ausgaben der Herrmann-Reihe allerdings nicht um das im jeweiligen Film verwendete Original, sondern um Nachspielungen. Zwei der Alben (CDs 4 & 6, „Great Shakespearean Films“ & „Great British Film Music“) enthalten zudem keine Herrmannkompositionen (s. u.). Bis auf die Walton-Ouvertüre zu Laurence Oliviers Verfilmung von Shakespeares Richard III (1955) handelte es sich um seinerzeit konkurrenzlose Ersteinspielungen, was im Übrigen fast durchweg auch für die eingespielten Suiten aus seinen eigenen Filmkompositionen galt.
Die Musiken werden hier freilich schon auf recht spezielle Art interpretiert. Im insbesondere unter HiFi-Puristen schon damals keineswegs unumstrittenen Multimiking-Sound des mit bis zu 20 Kanälen arbeitenden Phase-4-Aufnahme- und Abmischungsprozesses klingen sie gut bis sehr gut. Dabei gilt aber eben auch, dass die gewählten Tempi häufig erheblich langsamer ausfallen als von den Originaleinspielungen gewohnt! Den wohl einschneidensten Fall bildet dazu „Duel with the Skeleton“ aus The 7th Voyage of Sinbad * Sindbads siebte Reise (1959) auf CD 3, „The Fantasy Film World of Bernard Herrmann“. Hier vermag mich das behäbige Tempo auch heutzutage immer noch nicht zu überzeugen. Die im Original fast physische Präsenz des Klappergestells tendiert hier nach wie vor zur ungewollten Karikatur. Von diesem Tiefpunkt abgesehen, kann man jedoch mit etwas Zeit zum Eingewöhnen, mit den übrigen, ebenfalls eigenwilligen Interpretationen des Maestros in aller Regel schließlich doch warm werden. Einzelne Stücke vermögen dabei auf ihre ganz spezielle Art sogar zu faszinieren. Der den Abschluss bildende, knapp 40-minütige LP-Schnitt aus der Originaleinspielung zur seinerzeit brandaktuellen Musik zu Brian de Palmas Obsession (1975) ist Herrmanns vorletzte Filmkomposition (vor Martin Scorseses Taxi Driver) und zählt zweifellos zu seinen besonders starken Filmvertonungen. Alles in allem erhält der Interessierte damit Wiederveröffentlichungen einer historisch bedeutsamen Kollektion mittlerweile durchweg klassischer Filmmusiken. Auch wenn sämtliche Einspielungen über die nunmehr zurückliegenden rund viereinhalb Jahrzehnte beachtliche Konkurrenz bekommen haben, ist das Set nicht nur wegen des recht günstigen Preises unbedingt eine Überlegung wert.
Die in der Klapp-Box untergebrachten Papptaschen kommen betont nostalgisch im klassischen Look der alten LP-Ausgaben daher, wobei auch die jeweilige Rückseite vom originalen LP-Cover übernommen worden ist. Die Back-Cover-Texte sind somit allerdings zwangsläufig derart klein geraten, dass sie ohne Hilfsmittel nur mit Adleraugen entziffert werden können. Hinzu kommt noch ein Begleitheft, das neben einem detaillierten Überblick über die sieben enthaltenen CDs inkl. Track-Timings, Aufnahmedaten und Aufnahmeorten mit einem kleineren Text von Tom Schneller aufwartet, der einige passable Einblicke in Herrmanns Komponistenkarriere im Zusammenhang mit den im Set vertretenen Filmkompositionen vermittelt.
Die Aufnahmen des Decca-Herrmann-Sets: „The Film Scores On Phase 4“
CD 1 „Great Movie Thrillers“
Psycho (A Narrative for Orchestra)
Marnie – Prelude & Hunting Scene
North By Northwest – Overture
Vertigo – Prelude – The Nightmare – Scène d’amour
A Portrait of ‘Hitch’ (from The Trouble with Harry)
CD 2 „Great Film Classics“
Jane Eyre (selections)
The Snows of Kilimanjaro – Interlude & The Memory Waltz
Citizen Kane – Overture, Variations, Ragtime & Finale
The Devil and Daniel Webster – Sleigh-Ride
Swing Your Partners
CD 3 „Fantasy Film World“
Music from Journey to the Centre of the Earth
The Seventh Voyage of Sinbad
The Day the Earth Stood Still
Fahrenheit 451
CD 4 „Great Shakespearean Films“
Shostakovich: Music from the film Hamlet
Walton: Richard III Prelude
Rósza: Julius Caesar – Suite from the Incidental Music
CD 5 „Mysterious Film World“
Mysterious Island – Suite
Jason and the Argonauts – Suite
The Three Worlds of Gulliver – Suite
CD 6 „Great British Film Music“
Constant Lambert: Anna Karenina – Suite
Arnold Bax: Oliver Twist – Two lyrical Pieces
Arthur Benjamin: Hyde Park Galop from An Ideal Husband
William Walton: Escape Me Never – Ballet
Vaughan Williams: The Invaders from 49th Parallel
Arthur Bliss: Things to Come – Suite
CD 7 Obsession OST
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