Nach dem ersten Vaughan-Williams-Album der Reihe „Chandos-Movies“ mit der bemerkenswerten Einspielung der Filmmusik zu Scott of the Antarctic (1948) hat das britische Label nun die zweite dem großen britischen Komponisten gewidmete Filmmusik-CD vorgelegt. Im Zentrum des neuen Albums steht der erste Ausflug des damals bereits 68-Jährigen in die Welt der Filmvertonungen. Stephen Hogger hat aus der Musik zum 1940 entstandenen Propagandastreifen 49th Parallel eine rund 38-minütige Suite zusammengestellt, die das essentielle musikalische Material sehr wirkungsvoll zusammenfasst. Im Film geht es um die Besatzung eines an der kanadischen Küste havarierten (Nazi-)U-Bootes, die sich zur am 49. Breitengrad verlaufenden Grenze in die damals noch neutrale USA durchschlagen will. Dabei müssen verschiedene Einheimische, beispielsweise ein „rassisch minderwertiger“ Eskimo mit den Faschisten und ihrer Ideologie bittere Erfahrungen machen. Der Streifen dürfte heutzutage im Wesentlichen noch historisches Interesse für sich in Anspruch nehmen können. Er sollte besonders in den USA Wirkung zeigen und wurde produziert, um die am Krieg in Europa bis dahin kaum interessierten amerikanischen „Brüder“ rascher an die Seite des kämpfenden (Mutterlandes) Großbritannien zu bringen.
Von Vaughan Williams Filmmusik war bislang allein der melodisch breit ausschwingende hymnisch-majestätische „Main Title“ in einigen Einspielungen zugänglich – beispielsweise unter Bernard Herrmann mit dem National Philharmonic Orchestra auf dem Decca-Album „Great British Film Music“. Dieses besonders eingängige Stück arbeitete der Komponist später in das Chorstück „The New Commonwealth“ um. Besonders hervorstechend ist der unmittelbar anschließende, rund 11 Minuten lange Prolog. In diesem werden nicht nur die wichtigen Themen der Filmmusik vorgestellt, zugleich passiert ein musikalisches Fresko wechselnder Stimmungen Revue: Pastorales für die Schönheit der kanadischen Landschaft, dezent Tonmalerisches für die See, ein bedrohliches Stakkato-Thema für die Nazis und neben dem Thema aus dem den Film eröffnenden „Main Title“ ein sarkastisch erscheinendes Zitat des Luther-Chorals „Ein Feste Burg“ für das Auftauchen des (Nazi-)U-Bootes.
Stephen Hogger hat die im Film nur in Teilen verwendete Musik zum Prolog vollständig gelassen und dafür spätere Wiederholungen der hier präsentierten Themen ausgespart. Das, was auf den Prolog folgt, ist (vielleicht auch daher) etwas nummernhafter und damit weniger in sich geschlossen. In jedem Fall ist es hörenswert und dabei auch handwerklich vorzüglich ausgeführt. Ein frankokanadischer Trapper wird durch das Lied „Alouette“ charakterisiert. Reizend und originell ist das für eine Ansiedlung der deutschstämmigen „Hutter-Gemeinde“ stehende (von Emily Gray deutsch gesungene) Volksliedzitat, das alte Weihnachtslied „Lasst uns das Kindlein wiegen“. Vaughan Williams ist in seiner Musik dem englischen Volkslied in ganz besonderem Maße verbunden. Und im Propagandaepos (gegen die Nazis) handhabt er ein deutsches Volkslied vergleichbar liebevoll, indem er es anschließend noch orchestral im Stil seiner Choralvorspiele verarbeitet. Daneben gibt es einen recht dynamischen Walzer und geradezu drollig anmutende Tanzmusik für die Rothäute, der mit den entsprechenden, annähernd zeitgleichen musikalischen Lösungen seines Wiener Kollegen Max Steiner nur wenig gemein hat – siehe auch They Died with Their Boots On.
Der Dokumentarkurzfilm The Dim Little Island entstand 1949 und sollte das Image Großbritanniens als „eine trübe kleine Insel“ aufpolieren. Vaughan Williams Komposition für diesen Film zählt sicher zu den kleiner formatigen Werken seines Œuvres, ist aber ebenfalls sorgfältig ausgearbeitet. Auch hier sind (dieses Mal natürlich britische) Volkslieder Trumpf. Wobei der Hauptteil der charmanten, insgesamt nur knapp 8-minütigen Musik aus Teilen eines Konzertwerkes, seinen (Volkslied-)Variationen über das Lied „Dives and Lazarus“, entstammt – jenes Lied hatte bereits den jungen Komponisten 1893 tief beeindruckt. Entsprechend wird etwa in der Mitte auch eine Strophe des Liedes vom Tenor Martin Hindmarsh vorgetragen.
Das England der Tudor Zeit sollte der Dokumentarfilm The England of Elizabeth (1957) der staatlichen Verkehrskommission BTC beschwören. Der damals 83-jährige Tonsetzer hat dafür eine sehr farbige Abfolge stimmungsmäßig stark kontrastierender Teile geschaffen. Stephen Hogger hat hier die vom Dirigenten Muir Mathieson zusammengestellte dreisätzige Konzertsuite „Three Portraits from The England of Elizabeth“ beträchtlich und wirkungsvoll zugleich erweitert. Wiederum stehen Volksliedzitate auf dem Programm und neben anderem passiert Revue: Ländler und Seemannstanz, Seestimmung und Schlachtmusik – zum Sieg über die spanische Armada , glitzernde Goldschätze (werden Klang) sowie ein reizvoller choraler Einschub „Kings College Cambridge“. The England of Elizabeth ist eine abwechslungsreiche, in Teilen kraftvolle, sowohl tonmalerische als auch dezent historisierende Filmmusik, die in der üppigen Besetzung des Schlagwerks der (zeitgleich entstandenen) achten Sinfonie nahe steht.
Wie Michael Kennedy im recht informativen Begleithefttext (auch in Deutsch) angibt, erscheint in dieser Filmmusik auch mehrfach ein Thema, das unter anderem auch in der neunten Sinfonie des Komponisten erscheint. Und überhaupt sind auch die anderen beiden Filmmusiken dieses Albums zum Teil eindeutig hörbar mit „seriösen“ Werken von Vaughan Williams verbunden oder stehen diesen doch sehr nahe – so der fünften und sechsten Sinfonie und auch dem zweiten Streichquartett. Hier zeigt sich nicht nur (wieder einmal) die Vielfalt der Gattung Filmmusik, sondern zugleich, dass die Übergänge zur „seriösen“ Konzertmusik letztlich fließend sind. Letzteres entlarvt die gegenüber Filmmusik im Allgemeinen von manchen Zeitgenossen (immer noch) zäh vorgetragenen Vorbehalte eindeutig als Vorurteil. Ebenso erweisen sich die damit meist zusammengehenden, wertmäßig überzogen differenzierenden Betrachtungen der beiden Gattungen als eher dogmatisch denn sachbezogen motiviert.
Sicher kann man gegenüber den auf dem vorliegenden neuen Album enthaltenen Filmmusiken, die zu Scott of the Antartic und ganz besonders die daraus entstandene siebte Sinfonie, „Sinfonia Antartica“, in höherem Maße als musikalisch geschlossene Werke ansehen. Für fette (!) fünf Sterne reicht es musikalisch aber auch bei „Vaughan Williams Vol. 2“ allemal und der hohe Repertoirewert lässt auch fünfeinhalb Sterne (im Zweifelsfalle im Sinne einer „Albumwertung“) als nicht überzogen erscheinen. Das BBC Philharmonic unter Rumon Gamba zeigt sich wieder einmal in sehr guter Form und ist in seinen Bemühungen auch von der Tontechnik sehr überzeugend unterstützt worden.
Hier gibt es eine Übersicht der bisher besprochenen Chandos-Movies-CDs.
Dieser Artikel ist Teil unseres umfangreichen Programms zu Ostern 2005.
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