Kleine Klassikwanderung 21

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
15. Mai 2005
Abgelegt unter:
Special

The Strauss Family

Für die etwas reiferen Leser dürfte der Name Willi Boskovsky (1909-1991) unauslöschlich mit der Tradition der Silvester- und Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker verknüpft sein, die der gebürtige Wiener 25 Mal von 1955 bis 1979 leitete. Die Musik der Straußfamilie und damit natürlich besonders die von Johann Strauß Sohn steht für brillante sinfonische Unterhaltungsmusik ihrer Zeit — siehe dazu auch „Kleine Klassikwanderung Nr. 2“ — und dürfte auch für die kommenden Generationen an Beliebtheit und Charme kaum etwas einbüßen.

Die EMI hat in der Platz sparenden, preiswerten Box (6 CDs in Papphüllen mit solidem Begleitheft in stabiler Pappbox) fast durchweg Digitalaufnahmen aus den 80er-Jahren zu einem recht repräsentativen und wohlklingenden Querschnitt durch die Highlights des umfangreichen Œuvres besagter Strauß-Familie vereint. Wobei Johann Strauß Sohn natürlich den Hauptteil der Kollektion bestreitet. Rund anderthalb der im Mittel mit jeweils rund 70 Minuten Musik gut bestückten CDs ist der Musik der Brüder Josef und Eduard gewidmet.

Kompilationen mit der unverwechselbaren Musik der Wiener Walzerdynastie gibt es unzählige. Die vorliegende zählt besonders durch den Taktstockmaestro zu denen, die der Käufer ganz unbesorgt erwerben kann. Typischer Wiener Charme im Zusammenspiel mit musikantischer Spielfreude und Humor: Das sind die Ingredienzen, mit denen der berühmte W. Boskovsky seine Musiker zum Musizieren als „ein Gespräch unter Gleichgesinnten“ anleitete. Dies hat nicht zuletzt den Neujahrskonzerten zu weltweiter Popularität verholfen und verleiht m. E. auch dieser schönen Kompilation zusätzlichen Reiz.

Vaughan Williams: Sinfonien 1-9

Mittlerweile besteht auf dem Markt an Gesamtausgaben der Sinfonien des großen Briten kein Mangel mehr — siehe auch die Klassikwanderungen Nr. 9 und Nr. 14 sowie „Ralph Vaughan Williams: Ein englisch-europäischer Komponist“. EMI und Warner haben jetzt die Palette nochmals mit zwei Zyklen erweitert, die beide die über Jahre entstandenen Einzeleinspielungen preiswert unter einem Dach vereinen. Bernard Haitinks Aufnahmen mit dem London Philharmonic Orchestra (7-CD-Box) reichen bis 1984 zurück; der WEA-Zyklus (6 CDs) mit dem BBC Symphony Orchestra unter Sir Andrew Davis entstand in den 90er Jahren.

Bernard Haitink geht häufiger mit den für ihn typischen etwas gedehnten Tempi (allerdings ohne zu übertreiben) an die Sache heran und betont manche Nuance in den Partituren anders als sein Kollege Andrew Davis. „Besser“ oder „schlechter“, das sind Attribute mit denen man hier aber kaum zutreffend verallgemeinernd urteilen kann. Beide renommierten Dirigenten sorgen mit ihren ebenso vorzüglichen Klangkörpern jeweils für ein Resultat, das sich zweifellos hören lassen kann. Welche Darstellung der einzelnen Sinfonien man eventuell stärker bevorzugen mag, liegt m. E. in erster Linie im Ohr des jeweiligen Hörers.

Auch klanglich gibt es kaum etwas zu beanstanden. Hier und da könnte man sich bei beiden Zyklen einen Hauch mehr an klanglicher Transparenz (weniger Hall) wünschen. Aber auch dabei handelt es sich in erster Linie um einen nur marginalen Einwand. Beide Boxen sind, da zudem sehr preisgünstig kalkuliert, etwas, bei dem der Käufer so oder so keinen Flop landen kann. Wer Interpretationsvergleiche liebt, mag mittelfristig eventuell sogar zweimal schwach werden. Beide Sets haben als Füller noch einige Vaughan-Williams-Klassiker, wie die Tallis-Fantasie, im Gepäck und sind daher für den Einsteiger bei diesem wichtigen Komponisten eine runde Sache, die vorbehaltlos empfohlen werden kann.

Joseph Haydns „Pariser Sinfonien“ und das Oratorium „Die Schöpfung“

Der Dirigent Nicolaus Harnoncourt erläutert im Begleitheft zu seiner Einspielung von Haydns Sinfonien Nr. 82-87, dass programmatische Bezüge in abendländischer Musik eher die Regel als die Ausnahme seien. Er entlarvt damit die auch heutzutage oftmals noch anzutreffende — auf Eduard Hanslick zurückgehende — wertende Differenzierung zwischen „absoluter Musik“ und „Programm-Musik“ als unglücklich gewählt und irreführend. Vielmehr empfanden die Komponisten ihre Musik eindeutig als (Ton-)Sprache. Dabei entwickelten sie für die wichtigen Situationen im menschlichen Dasein verschiedene Kompositions-Modelle. So konnte man schon früh durch die Verwendung bestimmter Tonfolgen eindeutige charakterliche Grundstimmungen erzeugen und beispielsweise mit Hilfe der Kirchentonarten heilig-rituelle Bezüge definieren und damit auch beim Hörer gezielt ganz bestimmte Assoziationen und auch wechselnde Emotionen erzeugen.

Hanslick schrieb im Jahr 1854 zur absoluten und damit „guten“ Musik, dass tönend bewegte Formen einzig und allein Inhalt und Gegenstand derselben seien. Dem widersprach selbst Beethoven, der poetische Ideen als Vorlagen seiner Musik nannte. Und Haydn vermerkte dazu, er suche seine Ideen auf der Gasse und im Freien: „Manchmal copiere ich einen Baum, einen Vogel, eine Wolke …“ So soll sich der so genannte Papa Haydn unter anderem ein Zwiegespräch zwischen Jesus und dem verstockten Sünder vorgestellt und musikalisch „illustriert“ haben. Das zugehörige Programm, also die Geschichten, hat Haydn nicht mitgeteilt und damit (wie in der Regel auch Beethoven) einen interessanten Schlüssel zur jeweiligen Musik verheimlicht. Trotzdem konnte der mit den individuellen Stilismen in der Tonsprache vertraute Zeitgenosse so manches heraushörend zuordnen, was der heutige, stark von der spätromantischen Aufführungspraxis geprägte Klassik-Hörer erst wieder erlernen muss.

Haydns Sinfonien einmal unter quasi „filmischem“ Blickwinkel zu erhören, ist sicherlich eher ungewohnt, aber vielleicht gerade für den Cinemusic.de-Leser interessant. Harnoncourt führt dazu als Hilfestellung aufschlussreiche Arbeitsnotizen zu seinen Interpretationen der für die Seine-Metropole bis 1786 komponierten sechs Sinfonien an.

Allerdings sollte man es mit filmmusikalischen Assoziationen auch nicht übertreiben. Man geht zweifellos zu weit, wenn man hinter (nicht nur) den Sinfonien Haydns durchgängig vertonte „Erzählungen“ vermutet. Letztlich dienten außermusikalische Ideen in erster Linie dazu, die Fantasie des jeweiligen Tonsetzers zu beflügeln. Dem entsprechend sind die klingenden Resultate auch nicht einfach standardisiert plakativ tonmalerisch geraten. Viele der sprechenden Details bleiben damit individuell anders interpretierbar, was ja wiederum auch für Filmmusik gilt.

Nicolaus Harnoncourt konzertiert seit mehr als 50 Jahren mit dem 1953 von ihm und seiner Frau Alice gegründeten Ensemble „Concentus Musikus“, das sich ursprünglich der Aufführung alter Musik (des Mittelalters, der Renaissance und des Barock) auf restaurierten Instrumenten verschrieben hat. Der Dirigent zählt damit auch zu den Pionieren historischer Aufführungspraxis und die Erfolgsgeschichte begann 1962 mit einer Einspielung der Brandenburgischen Konzerte Bachs. Inzwischen haben der Dirigent und sein Ensemble ihr Repertoire beträchtlich erweitert und auch den Interpretationsstil verfeinert. Das ehedem oftmals übermäßig harsch, manchmal auch gehetzt wirkende in den älteren Einspielungen ist runder geworden, das klar konturierte — dank der restaurierten (Original-)Instrumente — besonders kontrast- und farbenreiche Klangbild hat darunter aber nicht gelitten. Sich hier auf Hörabenteuer zu begeben, ist in jedem Fall eine reizvolle Sache.

Wer auf den Geschmack gekommen ist, kann beim Haydn’schen Oratorium „Die Schöpfung“ weitermachen oder eventuell überhaupt mit diesem die Entdeckungsreise beginnen. Hier finden sich nämlich in besonderem Maße bildhaft vertonte Stellen. Über allem steht dabei aber, dass es grundsätzlich (nicht nur) bei Haydn vor Einfällen und Experimentierfreude überquellende, herrliche Musik zu entdecken gibt. Das vorzügliche Instrumentalensemble wird hier von gut disponierten Gesangssolisten und vom renommierten Arnold Schönberg Chor adäquat unterstützt.

Olivier Messiaen: Éclairs sur L’au-Delà

„Streiflichter aus dem Jenseits“ lautet der mystisch anmutende deutsche Titel dieses letzten Werks des Komponisten. Es entstand als eine Auftragskomposition für die New Yorker Philharmoniker unter Zubin Mehta in den Jahren 1987 bis 1991. Auch in den elf musikalischen Sätzen dieser meditativ gehaltenen Musik tritt die Natur als Quelle der Inspiration hervor. Der Komponist selbst bemerkte dazu ausdrücklich, dass er zwischen Geräusch und Klang keine Grenze ziehe. Messiaen gilt als der kenntnisreichste Ornithologe unter den Komponisten, er studierte den Gesang tausender Vogelarten aller Kontinente. In „Éclairs sur L’Au-delà“ spiegeln sich davon 48 wider. Der Tonfall dieses zweifellos ungewöhnlichen und vielschichtigen Klanggeflechtes ist noch am ehesten mit dem Begriff Meditationsmusik zu erfassen: Exotische Klangfarben und Rhythmik, Einflüsse der Gregorianik und typische Harmonien innerhalb des selbst entwickelten (!) Tonartensystems verleihen dem Gehörten — nach geduldigem Einhören — eigenwilligen Reiz. Jeder der elf Sätze besitzt dabei sehr individuellen Charakter.

Sylvian Cambreling lässt das ihm vorzüglich folgende SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg in deutlich langsameren Zeitmaßen aufspielen als Sir Simon Rattle die Berliner Philharmoniker. Eventuell wirkt Cambrelings Dirigat gerade dadurch im meditativ-entrückten Ausdruck auf den Hörer noch etwas intensiver. Letztlich funktionieren aber beide Einspielungen und bewegen sich auch interpretatorisch und aufnahmetechnisch auf ähnlich hohem Niveau. Eindeutiger fassbare Unterschiede gibt’s in der Ausstattung des jeweiligen Begleitheftes: Hier schneidet das Hänssler-Album mit seinen vorzüglichen, detaillierten Ausführungen zur Musik klar besser ab. Dem hat der doch etwas dürftig und allzu knapp geratene Text zum Album der EMI praktisch nichts entgegenzusetzen. Nicht einmal die deutsche Übersetzung dieses doch keineswegs über Gebühr geläufigen Messiaen-Werkes wird darin genannt.

„Puccini Discoveries“, „Schubert Epilog“, „Wesendonck-Lieder (Wagner-Henze)“, „Telemanniana“

Bei den Programmen der folgenden vier CD-Alben geht es (zumindest teilweise) um musikalische Blicke zurück auf die Tradition, ausgeführt von Komponisten der Moderne und Avantgarde. Die „Puccini-Discoveries“ bietet das von Luciano Berio (1925-2003) ausgeführte Finale der unvollendet gebliebenen Oper „Turandot“ neben einer hörenswerten Kollektion zum Teil frühester Schöpfungen des berühmten Italieners. Besagte Berio-Fassung ist damit zum ersten Mal auf CD erschienen.

Die Wandlung der „eisumgürteten“, dem Werk den Titel gebenden Prinzessin zur wahrhaft liebenden Frau überzeugend in Töne zu fassen, daran ist Puccini selbst schier verzweifelt. Heutzutage geht die Musikforschung daher davon aus, dass der Meister selbst keine überzeugende Lösung fand und nicht nur durch seinen Tod daran gehindert worden ist; hatte er doch bereits rund zwei Jahre vor seinem Ableben mit der Konzeption des Schlussduetts des Werks begonnen.

Die vom Puccini-Schüler Franco Alfano angefügte Version des Finales wurde vom Dirigenten der Uraufführung, Arturo Toscanini, in Teilen deutlich gekürzt und überhaupt als Notlösung empfunden. Gerade heutzutage erscheint Toscanini besonders im Recht. Als modernste Opernschöpfung Puccinis wirkt das in auftrumpfendem Jubelpathos sämtlicher Kräfte und dem Hit „Nessun dorma“ endende Finale zwar „schön“, es erscheint zugleich aber recht aufgesetzt und tendiert zum Kitsch. Berios Musik hingegen ist deutlich weniger klangschwelgerisch, dafür mit dezenten Modernismen durchsetzt; der Komponist knüpft hier stilistisch etwa beim Schönberg der Gurre-Lieder an. Seine Version des Turandot-Finales ist insgesamt deutlich gedämpfter und bleibt in den letztlich zur Stille verwehenden Klängen merklich gebrochen. Fragen wie, welchen Rang das Resultat in Zukunft nun einnehmen mag, ob es den Entwurf Alfanos vielleicht generell ersetzen wird, besitzen m. E. an dieser Stelle nicht allzu große Bedeutung. Der aufgeschlossene Hörer bekommt hier in jedem Fall eine interessante musikalische Alternative zu hören.

Riccardo Chailly leitet das Orchestra Sinfonica e Coro di Milano Giuseppe Verdi. Das Orchester und die beteiligten Solisten sind engagiert und mit viel Sorgfalt bei der Sache. Dabei werden auch die frühen, noch tastenden Puccini-Miniaturen und ebenso reine Gelegenheitsarbeiten erfreulich ernst genommen: so beispielsweise der originelle kleine Marsch „Scossa elettrica“, komponiert anlässlich des Weltkongresses der Telegrafenbeamten, 1899. Ein opulentes Klangbild rundet den vorzüglichen Gesamteindruck dieser Produktion stimmig ab.

Auf dem Album „Schubert Epilog“ ist Luciano Berio ebenfalls vertreten. „Rendering“ heißt sein nach Skizzen zu einer Sinfonie in D-Dur ausgeführter musikalischer Entwurf als Reflexion der 10. Sinfonie Franz Schuberts. Das dreisätzige, unvollständig ausgeführte Klavierparticell-Fragment ist dazu in Anlehnung an die „Unvollendete“ einfühlsam orchestriert worden. Wobei die im Schubert-Entwurf verbliebenen Lücken eben nicht durch stilecht Nachempfundenes, sondern vielmehr durch ein Geflecht moderner Klänge ergänzt sind. Berio hat allein das Vorhandene in gewissem Sinne restauriert, aber nicht das Werk insgesamt rekonstruiert und vollendet. Er hat die ausgeführten Teile im Stile des reifen Schuberts instrumentiert, lässt dabei durch die Lücken modernistisch gefärbte Klänge aufscheinen, in denen sich aber zugleich Anklänge an das Schubert’sche Spätwerk in verfremdeter Form spiegeln. Das Nebeneinander von Altem und Neuem mutet zwar eigentümlich irreal an; die nicht einfach sperrigen neuen Klänge harmonieren dabei aber durchaus mit denen Schuberts, erzeugen im Zusammenwirken spannende Kontraste. Alles in allem ist „Rendering“ eine ungewöhnliche, aber reizvolle Begegnung zwischen Klassik und Moderne, eine, die es sehr wohl vermag, den Hörer gefangen zu nehmen. Auch da, wo Schuberts Skizzen sich schließlich mehr und mehr auflösen, sich der reine Schubertklang zunehmend verflüchtigt.

Das klangliche Spektrum des Albums erweitern Stücke von Hans Zender, Aribert Reimann, Kurt Schwertsik und Hans Werner Henze. Zender liefert subtile Bearbeitungen von vier Schubert-Chören, deren Chorsatz unangetastet bleibt; der ursprünglichen Klavierbegleitung verhilft er hingegen durch einen raffiniert und dezent „modernistisch“ angefärbten Orchestersatz zu besonderer Leuchtkraft. Der Stockhausen-Schüler Schwertsik liegt in seinem „Epilog zu Rosamunde“ weitab von serieller Doktrin, hat ein unproblematisches kleines Werk geschaffen, in dem geschickt Material aus dem Schubert’schen Ballett variiert und verarbeitet wird. Reimanns „Metamorphosen“ gehen nur von einigen Takten eines Schubert-Menuetts aus und führen dann, kontrastierend zum Biedermeier-Sound, klangliche Verfremdungen ein, in denen fortlaufend weitere, allerdings zu Partikeln verkürzte Teile des originalen Stücks aufscheinen. Im entstehenden collage- und kaleidoskopartigen Klangbild soll Schubert so unterschwellig nachwirken.

Ein besonders origineller und auch eigenständiger Reflex auf Schuberts Musik ist Henzes Orchesterfantasie „Erlkönig“ (Teil des Ballettes „Das Luftkind“). Henze zitiert allein den Geist des Schubert-Goethe-Liedes in Form der rasanten Motorik in seiner Musik. Wie aus traumhafter Ferne scheinen in der Polyphonie die klanggewordenen Fieberphantasien des Jungen auf. Schillernde Klänge von Vibra- und Marimbaphon in Kombination mit Harfe und Celesta verleihen diesen irisierenden Lockrufen des Erlkönigs fast schon exotische Untertöne.

Der aus Großbritannien stammende Jonathan Nott steht der zeitgenössischen Musik ähnlich nahe wie der Tradition. Eine glückliche Kombination, wie nicht allein die gemischte Programmauswahl der bisherigen Einspielungen dieses Dirigenten zeigt. Die vorliegende CD ist übrigens Teil seines Schubert-Projektes sämtlicher Orchesterwerke. Die Bamberger Symphoniker überzeugen gleichermaßen durch Spielfreude wie durch Präzision, und ebenso vorzüglich ist der Klang dieser CD des schweizerischen Tudor-Labels.

Hans Werner Henze steht im Mittelpunkt der Betrachtung der beiden letzten CDs des o. g. Alben-Quartetts. 1976 entstand die kammermusikalische Orchesterfassung der „Wesendonck-Lieder“ Wagners als ein Pendant zur üppigen Orchesterfassung von Felix Mottl. Henzes Bearbeitung transponiert die Singstimme in eine tiefere Lage, wodurch auch die Stimmung des jeweiligen Liedes dezent mit verschoben wird. Insgesamt bleibt seine Fassung dem Geist des Originals respektvoll verbunden, dennoch findet die moderne Ästhetik Henzes in der klanglichen Umsetzung Niederschlag und damit wird das 20. Jahrhundert spürbar. Die Mezzosopranistin Stephanie Blythe ist hierfür eine adäquate Interpretin und das gilt auch für die ebenfalls auf dem EMI-Album vertretene Alt-Rhapsody von Brahms und „Der Abschied“ aus Mahlers „Lied von der Erde“. Letzteres Stück erklingt hier übrigens in Arnold Schönbergs reizvoller Fassung für 13 Instrumente (Klavier und Harmonium inklusive). Das begleitende Ensemble Orchestral de Paris unter der Leitung von John Nelson überzeugt, und ebenfalls vorzüglich ist der Klang.

Die „Telemanniana“ ist eine 1967 — anlässlich des 200. Telemanngeburtstags — erstellte raffinierte Orchesterfassung des e-Moll-Quartetts aus den „Pariser Quartetten“. Henze erweist sich an dieser Stelle auch für breite Schichten von Klassikhörern als Meister der Instrumentierung. Seine für großes Orchester gesetzte Fassung ist klangsinnlich und farbenreich gehalten, ohne, dass dabei jedoch die Intimität des ursprünglichen Stücks auf der Strecke bleibt. Obwohl immer wieder das 20. Jahrhundert (sanft) durchscheint, dürften gerade hier die Liebhaber des Wohlklanges überzeugt werden. Diese müssen auf dem cpo-Album zuvor jedoch einen verhältnismäßigen „Brocken“, das ebenfalls 1967 komponierte „2. Klavierkonzert“ Henzes, hinter sich bringen. Dieses ist ein in Teilen sicherlich aufwühlend-agressives, aber ebenso mit breiteren Partien von lyrischer Zartheit durchsetztes, wiederum sehr farbig instrumentiertes Werk, das entsprechend mit raffinierten Klangkombinationen aufwartet. Mit seinen knapp 50 Minuten Spieldauer zählt es zu den ausladenderen Vertretern seiner Gattung. Der Pianist Rolf Plagge zeigt sich den technischen Schwierigkeiten der Musik souverän gewachsen. Die Nordwestdeutsche Philharmonie unter Gerhardt Markson begleitet den Solisten kompetent und ist in der „Telemanniana“ ebenso ambitioniert wie spielfreudig bei der Sache.

Leopold Stokowski: Decca Recordings 1964-1975, Vol. 2

Ein weiterer Blick zurück, wiederum auf die Tradition — allerdings auf eine andere Art — beschließt diese Klassikwanderung. Nach dem 5er-CD-Set aus dem Jahr 2003 (siehe auch Klassikwanderung Nr. 9) hat die Decca im vergangenen Jahr nachgelegt und aus dem Fundus der hauseigenen Einspielungen mit dem berühmten Dirigenten Leopold Stokowski eine weitere, dieses Mal sechs CDs umfassende Box zusammengestellt. Im vorliegenden Set ist der Schwerpunkt auf die klassischen Komponisten gelegt, deren Werke im Zentrum seines Interesses lagen: Auf drei Tonträgern bekommt der Hörer Gelegenheit, die Herangehensweise des großen Taktstockmaestros an Beethovens Sinfonien 5, 7 und 9, Schuberts „Unvollendete“ sowie die erste Sinfonie von Brahms zu erleben. Aber auch weitere der berühmten Effektstücke sind zu finden: Rimsky-Korsakoffs „Scheherazade“, Orchesterstücke aus Wagner-Opern, u. a. aus der „Ring-Tetralogie“. Und neben Tschaikowskys „Ouvertüre 1812“, dem „Slawischen Marsch“, Borodins „Polowetzer Tänzen“, Mussorgskys „Nacht auf dem kahlen Berge“ ist eine selten zu hörende Transkription Stokowskis im Angebot: eine sehr gelungene, die Vielfalt der Stimmungen und die Klangpracht der Oper „Boris Godunow“ in den Konzertsaal transportierende „Sinfonische Synthese“.

Auch in diesen Werkinterpretationen zeigt sich so manche Eigenwilligkeit, für die der 1882 in London geborene Stokowski bekannt und bei manchen auch berüchtigt war. Er nahm sich gewaltige Freiheiten, nicht allein bei der Interpretation, sondern hat sogar vor gewissen Eingriffen ins Allerheiligste, in die Partitur nicht zurückgeschreckt. Durchaus überzeugend ist in diesem Punkt die hier vertretene Aufnahme der „Ouvertüre 1812“. Diese wartet mit einem überraschenden, aber keineswegs irritierenden Einsatz des Chores im Siegesfinale auf. Die hier jubelnd und majestätisch vom Chor intonierte Zarenhymne setzt eleganten Kontrast zum inbrünstig flehenden rein orchestral zitierten Bitt-Choral des Beginns.

Harald Reiter gibt in seinem Text im Begleitheft zur Eigenwilligkeit Stokowskis wertvolle Hinweise; er beschreibt den Dirigenten als einen im Sinne der romantischen Musiziertradition stehenden, nachschaffenden Künstler, sein klingendes Vermächtnis als „Eine Brücke aus Klang in die Welt von gestern“. Auch diese preisgünstige, vorzüglich klingende CD-Box bietet reichhaltig Gelegenheit, keinesfalls einfach nur das Gestrige, sondern vielmehr die zeitlose Lebendigkeit und Frische vieler Interpretationen Leopold Stokowskis für sich zu entdecken.

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