Der Klassik-Tipp: Christian Lindberg Special

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
30. September 2018
Abgelegt unter:
Special

Eine unverhoffte Entdeckung: Der Komponist und Dirigent Christian Lindberg

Am Anfang stand ein reiner Zufall. Die Beschreibung zum im April dieses Jahres erschienenen BIS-Album „Steppenwolf“ mit Eigenkompositionen des mir zuvor nicht bekannten, aus Stockholm stammenden schwedischen Komponisten Christian Lindberg (*1958) las sich sehr gut und machte entsprechend neugierig. Bereits unmittelbar beim ersten Hördurchgang entfaltete die Musik dann derartig viele Reize, dass ich im Anschluss das Programm fast zur Gänze nochmals wiederholt habe. Das ist bei zeitgenössischer Konzertmusik ja nun längst nicht die Regel. Auf dem knapp einstündigen Programm des Albums stehen das Violakonzert „Steppenwolf“ (Rafael Altino, Viola) sowie die raffiniert kaleidoskopartig zusammengefügten Tondichtungen „Tales of Galamanta“ und „Peking Twilight“. Das Odense Sinfonieorchester spielt unter der Leitung des Komponisten.

Lindberg dirigiert mit flüssigen Tempi. Er erweist sich als ein zwar durchaus moderner Tonsetzer, gehört aber zugleich zu denen, welche sich offenbar keineswegs kompromisslos radikalem Neutönertum verschrieben haben. Vielmehr ist die hier zu hörende Tonsprache weitab von akademisch-trocken wirkender Avantgarde angesiedelt, sie bleibt griffig und für den Hörer leicht fasslich. Das liegt neben der farbigen Instrumentierung und den sich immer wieder zu satten neoromantisch gefärbten Steigerungen prachtvoll auftürmenden Orchesterklängen auch an den regelmäßig auftauchenden oftmals geradezu süffigen melodischen Einwürfen. Stilistisch schöpft er aus vielem, gibt sich damit postmodern und polystilistisch, wobei seine episodenhaft aneinander gereihten kompositorischen Synthesen zwar in Aulis Sallinen und auch Einojuhani Rautavaara Vorbilder besitzen, aber durchaus individuell und immer abwechslungsreich gehalten sind.

Das auf den ersten Blick konventionell dreisätzig gehaltene, dem Album den Titel verleihende Violakonzert „Steppenwolf“ (Rafael Altino Viola) ist erstaunlich romantisch-lyrisch gehalten und neben tänzerisch rhythmischen Teilen auch von unmittelbar eingängigen melodischen Einschüben geprägt. Die Assoziation mit Hermann Hesses gleichnamiger Novelle ergab sich zwar erst zu einem späteren Zeitpunkt des Entstehungsprozesses, sie passt aber auch besonders gut zu dieser so warm und lyrisch porträtierten Einsamkeit des Wolfs der Steppe.

Die balletthaft anmutende Tondichtung „Geschichten aus Galamanta“ (uraufgeführt 2013) besitzt hörbar ein Programm. Besonders bemerkenswert sind im abwechslungsreichen Spiel der Klänge die raffinierten Eruptionen des Schlagwerks. Diese sind zwar auch der Dramatik der um Liebe, Rachsucht und Mord kreisenden Thematik geschuldet, bedienen aber zugleich wohl auch ein wenig die Erwartung eines jüngeren Konzertpublikums, welches etwa von den Auftritten des österreichischen Perkussionstalents Martin Grubinger fasziniert ist.

Versehen mit äußerst farbigen, zum Teil grazil schwebenden Klängen ist auch die zweite Tondichtung des Albums, „Peking Twilight“, komponiert zum 100. Geburtstag des Norrköpping Symphony Orchestra im Jahr 2012. Dabei muss man wissen, das „Peking“ seit Anfang des 20. Jahrhunderts auch als Spitzname für die in der schwedischen Provinz Östergötland gelegenen Stadt Norrköping gebräuchlich ist. Entsprechend ist dieses wiederum unmittelbar für sich einnehmende Werk auch fernöstlich exotisch angehaucht. Es beeindruckt neben der farbigen Instrumentierung ebenso durch eingängige melodische Einschübe. Lindberg hat hier drolligerweise das Lied der Norrköping’schen Fußballmannschaft zu einem wichtigen musikalischen Erinnerungsmotiv gemacht. Fazit: „Steppenwolf“ ist damit insgesamt ein absolut hörenswertes, dabei sogar überraschend unterhaltsames und schnell neugierig auf mehr machendes Album.

Aus dieser unverhofften Begegnung resultierte auch die nachfolgende kleine Christian-Lindberg-Skizze inkl. einer Handvoll vorgestellter CDs. Bereits erste Recherchen zu diesem Künstler zeigten das Bild einer interessanten Musikerpersönlichkeit mit außergewöhnlichem Werdegang. Sie machten mir zugleich rasch deutlich, wieso ich erst jetzt auf den Komponisten aufmerksam geworden bin, der ja keineswegs ein Newcomer ist, sondern vielmehr im Februar dieses Jahres seinen 60. Geburtstag beging. Schaut man in seine umfangreiche Diskografie, so zeigt sich, dass diese von seinen Auftritten mit der Solo-Posaune dominiert ist. Hinzu kommt, dass es ausschließlich mit Orchesterkompositionen Lindbergs bestückte CD-Alben außer der jüngst veröffentlichten Steppenwolf-Kompilation derzeit praktisch nicht gibt.

Christian Lindberg ist ein musikalisches Multitalent, das seine Karriere als Solo-Posaunist begann und erst späterhin um das Komponieren und Dirigieren erweiterte. Dabei zählt die Posaune, wie übrigens ja auch die Viola im „Steppenwolf“-Konzert, traditionell zu den vernachlässigten Orchesterinstrumenten. Lindbergs unermüdliche und zugleich völlig unkonventionelle Überzeugungsarbeit kann man auch als geschickten Kreuzzug interpretieren. Diesem ist es zu verdanken, dass er seine geliebte Posaune – von ihm auch zärtlich als „Kanne“ bezeichnet – als virtuoses Soloinstrument inzwischen deutlich bekannter gemacht hat. Dass er sich dabei nicht an Regeln des in Teilen immer noch traditionell elitären Musikbetriebs hält, sondern vielmehr auffallend undogmatisch agiert ist sehr erfrischend. Dass er dabei zugleich vieles mit Humor nimmt, lässt sich bereits bei einigen seiner Albentitel erahnen, z. B. „Brain Rubbish – music for wind band“ (BIS-1958). Nicht selten scheint ihm der Schalk geradezu im Nacken zu sitzen. Wenn er auftritt, ist er immer gut gelaunt und sorgt häufiger für Aufheiterungen, wie z. B. bei seinem Auftritt in roter Bikerledermontur zur Uraufführung des ihm gewidmeten Motorradkonzerts (Motorbike Concerto), BIS­-538, von Jan Sandström (*1954) oder auch clownesk geschminkt und kostümiert für Luciano Berios drollige Hommage an den Musik-Clown Grock, „Sequenza V“. Keinerlei Berührungsängste mit der Avantgarde belegen die von Lindberg mit leidenschaftlicher Extravertiertheit vorgetragenen Solo-Stücke für Posaune: Mauricio Kagels „Atem für einen Bläser“, „Solo for Sliding Trombone“ von John Cage oder „In Freundschaft“ von Karlheinz Stockhausen (sämtlich auf BIS-388). Inwieweit freilich gerade derartige Musik abseits einer Live-Perfomance funktioniert, muss jeder für sich entscheiden. Die vorstehenden, sämtlich avantgardistischen Solo-Piecen eignen sich nämlich kaum zum Nebenbei-Hören. Sie bilden aber ebenso zweifellos Paradebeispiele für die außergewöhnliche Virtuosität und die atemberaubende Vielseitigkeit und Offenheit Lindbergs, dessen unkonventionelles Auftreten ihn bereits auf seiner Internetpräsenz sehr sympathisch macht. Lindberg nutzt dabei, wie auch bei seinen Live-Auftritten, durchaus ein gewisses Maß an Showeffekt, um die jeweilige Musik an die Frau oder den Mann zu bringen. Dies freilich, ohne dabei durch allzu dickes Auftragen Gefahr zu laufen, ins Peinliche abzurutschen. Allein wie er seine jüngste CD, das besagte „Steppenwolf“-Album, ansprechend zu bewerben versteht, ist dafür ein recht markanter Beleg.

Die praktisch jeder Musikrichtung gegenüber aufgeschlossene Sichtweise dieses Künstlers, der im Jazz wie in der Klassik, aber auch der Avantgarde und ebenso in der Popmusik zu Hause ist, liegt mit in seinem ungewöhnlichen Werdegang begründet. Nach eigenem Bekunden begeisterte ihn bereits als Zehnjährigen Tschaikowskys fünfte Sinfonie derart, dass er beschloss, Musiker zu werden. Eine Aufführung dieses Werkes bildete dann auch die erste große Konzerterfahrung des noch blutjungen Mitglieds der Bläsersektion des Schwedischen Radiosinfonieorchesters. Aber auch Jazz und Swing, ebenso die Beatles und nicht zuletzt deren Schlagzeuger Ringo Starr lieferten früh für den weiteren Weg mitentscheidende Impulse. So liebäugelte der junge Lindberg zunächst mit dem Beruf Schlagzeuger, griff dann allerdings zuerst zur Trompete und kam mit 17 durch Aufnahmen des Jazz-Posaunisten Jack Teagardens schließlich zu seiner bis heute geschätzten „Kanne“, auf der er zuerst in der Dixieland-Band eines Schulfreundes spielte. Mit nur 19 Jahren belegte er im Königlich Schwedischen Opernorchester den Platz des Chefposaunisten, gab diese Position aber bereits nach einem Jahr ob der alltäglichen Routine dezent gelangweilt wieder auf, um sich in Stockholm, London und Los Angeles ausgiebigen Studien zu widmen und auch den Horizont zu erweitern. Anschließend startete er seine Karriere als Soloposaunist.

Einen entscheidenden Wendepunkt lieferte die Begegnung mit Robert von Bahr, Chef des herausragenden skandinavischen Independent-Labels BIS, im Anschluss an einen Konzertauftritt. Daraus wurde die seit 1982 begonnene, bis heute also bereits 3,5 Dekaden währende, äußerst fruchtbare diskografische Zusammenarbeit, wobei Christian Lindberg bislang praktisch ausschließlich auf dem BIS-Label anzutreffen ist. Während aus der ersten Dekade bereits ein volles Dutzend mit Soloalben und im Anschluss auch die Posaunenkonzertliteratur bearbeitende CDs resultierten, weist BIS mittlerweile insgesamt rund 70 Alben aus, an deren Entstehung Lindberg nachhaltig beteiligt gewesen ist.

Als die BBC ihn 1991 – neben Yo-Yo Ma und Gidon Kremer – zum „Solisten des Jahres“ nominierte, war für den Paganini der Posaune auch auf europäischem Parkett der Durchbruch erreicht. Aber auch beim Instrument selbst hat er längst markante Spuren hinterlassen, etwa mit einer in Zusammenarbeit mit der Firma C.G. Connden entwickelten Reihe spezieller Mundstücke. Seit den frühen 2000er Jahren sind dann noch zwei weitere, sowohl die Diskografie als auch sonstige Aktivitäten erweiternde Facetten dieses bemerkenswerten Musikers hinzugetreten: das Komponieren und das Dirigieren. Erst knapp unterhalb des 40. Lebensjahres begann Lindberg ernsthaft zu komponieren. Davor hat er sich in erster Linie als geschickter Arrangeur hervorgetan, der bekannte Stücke für die Posaune transkribierte, z. B. den berühmten „Hummelflug“ von Rimski-Korsakow. Sein Debut als Dirigent erfolgte im Jahr 2000, und seit etwa 2010 tritt der überaus aktive Lindberg in zunehmendem Maße auch über die heimatlichen Grenzen hinaus als Gastdirigent in Erscheinung, hierzulande z. B. in der Düsseldorfer Tonhalle, mit dem Beethoven Orchester Bonn oder im Konzerthaus Berlin.

Sieben weitere Lindberg-BIS-CD-Alben

Die nachfolgend kurz vorgestellten BIS-Alben sollen noch ein paar zusätzliche Anregungen zum Einstieg liefern. Die beiden Porträt-Alben „Christian Lindberg A Composer`s Portrait“ I & II bilden zusammen mit „Christian Lindberg and friends play Christian Lindberg“ ein großzügig bestücktes und zugleich die unterschiedlichen Facetten dieses bemerkenswerten Multitalents vielseitig beleuchtendes Trio, welches sowohl den Posaunenvirtuosen als auch den insbesondere für sein Instrument Komponierenden in den Fokus stellt. Für Letzteres steht das spritzige, mit einem klassizistischen Hauch versehene, elegant-virtuose Flötenkonzert „The World of Montuagretta“ (Sharon Bezaly, Flöte). In einigen Stücken agiert Lindberg sowohl als Solist wie auch als Dirigent, etwa in „Helikon Wasp“, wobei er mitunter auch als Rezitator wirkt, z.B. im Konzert für Kammerorchester „Of Blood So Red“ die eingestreuten, von August Strindberg stammenden Textstücke selbst zum Besten gibt. „Gipsy Kingdom“ für Posaune und Streichquartett ist eine Auftragskomposition des ausschlieβlich weiblich besetzten Vertavo Streichquartetts, welches das Stück 2001 in Oslo uraufführte. Es ist ein rund 12-minütiger divergierend wilder Stilmix aus einigen in der Tat zigeunerhaft anmutenden Einsprengseln. Das auch aus tangohaften und jazzigen Passagen bestehende Stück verlangt dem Posaunisten Beträchtliches ab.

Insbesondere das dritte CD-Album, „Christian Lindberg and friends…“, bietet in der Fülle hier überwiegend versammelter Miniaturen für kleine Bläserbesetzung musikalische Eulenspiegeleien in Serie. Dafür stehen z.B. das auf eine US-Comic-Figur der 1930er Jahre abzielende, zudem über diverse filmmusikalische Akzente verfügende „Mandrake in the Corner“.

Ob alles hier Versammelte für die Ewigkeit bestimmt ist, darf zwar bezweifelt werden, aber jedes Stück steht auf seine Art dafür, wie eindeutig abseits eines klassisch-konservativen, mitunter dünkelhaften und oftmals noch allzu elitären Kunstbetriebs Lindberg sein eigenes Ding macht und dies immer mit geradezu atemberaubender Virtuosität. Nicht zuletzt dieses selbstironische Augenzwinkern ist es, das Lindbergs Tun schnell so sympathisch werden lässt: etwa im skurrilen „Doctor Decker – the Dentist“, der von Fredrik Högberg stammenden quasi-Westernparodie „The Ballad of Kit Bones“ und nicht zuletzt der drolligen „Fafner Fanfare for Four Frogs“, welche als reizende Fanfaren-Parodie das dritte CD-Album originell einleitet.

In den beiden folgenden Alben ist Lindberg zwar „nur“ ein Mitwirkender, allerding einer, der zum sehr überzeugenden Eindruck, den diese hinterlassen, nachhaltig beiträgt. Besonders ungewöhnlich fällt dabei das im wahrsten Wortsinn chinesische Programm von „Trombone Fantasy“ aus. Hier agiert nämlich durchweg ein neben einzelnen westlichen (etwa den Celli oder den Pauken) in erster Linie mit traditionell chinesischem Instrumentarium (z. B. den chinesischen Erhus anstelle westlicher Violinen) zusammengesetzter Klangkörper, dessen einzelne Instrumentengruppen originellerweise in etwa so aufgestellt sind, wie vom traditionellen, westlichen Sinfonieorchester gewohnt. Dass Lindberg hierfür selbst zwei Kompositionen („The Wild Rose“ und „Kundraan“) beigesteuert hat, verwundert nicht. Während die von seinem taiwanesischen Kollegen Yiu-Kwong Chung stammenden Kompositionen, etwa die „Mongolian Fantasy“, sich stilistisch an westlicher Romantik orientieren, ist das klangliche Ergebnis zwar bedingt vertraut, aber in besonderem Maβe faszinierend exotisch anmutend zugleich. In den Lindberg-Stücken ist die Textur deutlich moderner, im Rahmen auch dezent avantgardistisch gefärbt. Dank der so effektreich ausgeleuchteten ungewohnten Klangpalette des chinesischen Orchesters und auch dem Kontrast zum vorher Gehörten ist es überaus beeindruckend. Als Solist zeigt sich Lindberg einmal mehr auf gewohnt herausragendem Niveau als ein wahrer Hexenmeister der Posaune. Das Taipei Chinese Orchestra unter der Leitung von En Shao sorgen im Zusammenwirken mit Lindberg für ein besonders außergewöhnliches Hörerlebnis, das besonders viel Spaß bereitet.

Das dem hierzulande bislang noch wenig geläufigen Briten John Pickard (*1963) gewidmete Kompilationsalbum „The Flight of Icarus“ bewegt sich klanglich zwar wieder auf vertrautem Parkett, es enthält auf seine Art aber mindestens ebenso entdeckenswerte Musik. Wenig geläufige, aus dem Rahmen des Üblichen fallende, dabei natürlich auch zeitgenössische Musik einem aufgeschlossenen Publikum zugänglich zu machen, das zählt seit jeher zum erklärten Aufgabenbereich des für seine musikalischen Entdeckungen berühmten BIS-Labels. Pickard schreibt nicht nur für Sinfonieorchester, er hat ebenso markante Kompositionen für groβ besetzte Bläserensembles komponiert. Beim hier vorgestellten Pickard-Album wandelt die Musik dieses durchaus modernistischen, aber auch mit der Tradition interagierenden Komponisten insgesamt auf leichter zugänglichen Pfaden. Das liegt wohl auch daran, dass die hier vertretenen Stücke über weite Strecken in einem modern-romantischen Sinne tonmalerisch angelegt erscheinen – ein Zitat aus Wagners Götterdämmerung inklusive. Lindberg tritt in zweien der drei vertretenen Werke, „The Spindle for Necessity“ und „Channel Firing“, in bewährter Weise als versierter Posaunist auf den Plan und ist somit bei rund zwei Dritteln der Albumspielzeit aktiver Part. Das bereits zuvor zum Zuge gekommene, vorzügliche Sinfonieorchester Norrköping unter Martyn Brabbins bewegt sich auch hier souverän in unüberhörbar vertrauten Gefilden.

Ein paar Impressionen zum Dirigenten vermitteln die beiden letzten CD-Alben. Bei „Nordic Showcase“ sieht sich Lindberg auch als Botschafter der skandinavischen Musikkultur und stellt im zusammengestellten rein skandinavischen Musikmaterial die Frage nach dem unverwechselbar typisch nordischen Klang in den Raum. Der Dirigent Lindberg steht an dieser Stelle einer hierzulande zwar bisher wenig bekannten, aber unüberhörbar ambitioniert und leidenschaftlich aufspielenden, hochwertigen Klangformation vor: dem Nordischen Kammerorchester, beheimatet im nordschwedischen Sundsvall. Von Carl Nielsens Opus 1, der Kleinen Suite für Streichorchester über Johan Severin Svendsens Violinromanze, bis hin zum Impromptu für Streicher von Jean Sibelius spannt sich der Bogen. Das auf dem Programm Stehende bereitet keinerlei Einstiegsprobleme. Man könnte bei den hier fast durchweg versammelten charmanten Konzertminiaturen sogar von einem freilich keineswegs anspruchslosen „Easy Listening“ sprechen, welches besonders die Entdeckungsfreudigen anspricht, denn hier findet sich nichts aus der hiesigen Wunschkonzertsektion. Nicht zuletzt Svendsens Violinromanze verfügt über einige Ohrwurmqualitäten. Mit der dreiteiligen, wie ein Mini-Concerto-Grosso anmutenden Armida Ouvertüre von Anders Wesström (1720–1781) und dem spritzigen 1967 entstandenen Concerto Piccolo für Bläserquintett und Streicher von Bo Linde (1933–1970) werden zugleich auch stilistisch kontrastreich reizvolle Eckpunkte gesetzt. Die aus seinen Leipziger Studienjahren stammenden „Variazioni Pastorali über ein Thema von Beethoven“ des späterhin so markanten Isländers Jón Leifs stechen freilich besonders hervor. Der aus zehn Variationen bestehende Satz bildet eine faszinierende Mixtur aus noch eher traditionell und schulisch angehauchter Fingerübung, bei der die ruppigen Einwürfe des Schlagwerks bereits das Kantige des späteren Schöpfers außergewöhnlicher Kompositionen wie „Geysir“ und „Hekla“ durchscheinen lassen.

Im den Abschluss bildenden fast noch pressfrischen Jubiläumsalbum zum 100. Geburtstag von Leonard Bernstein, „Bernstein – On the Waterfront“, zeigt sich Lindberg schier energiegeladen und lässt die Musiker des Royal Liverpool Philharmonic wie einen Wirbelwind, dabei freilich äuβerst elegant und präzise durch die vielfach betont rhythmischen Passagen eines aus Bernstein-Konzertklassikern bestehenden Programms flanieren. Dabei stimmt die ungemein geschwind und mitreißend interpretierte Candide-Ouvertüre geradezu perfekt auf das Übrige ein. Vergleichbar temporeich hat Lenny die Candide-Ouvertüre oder auch die Tänze aus West Side Story nur in seinen frühen Einspielungen für CBS dirigiert. Hier zeigt sich Lindberg auch als der Sachwalter, der bei Aufführungen das zum Klingen bringen will, was im Notentext steht. Für den Filmmusikfreund liefert die von Bernstein zusammengestellte, seltener zu hörende Konzertsuite aus der Musik zu Elia Kazans Filmdrama der Columbia um Gewalt und Korruption in den New Yorker Docks, On the Waterfront * Die Faust im Nacken (1954), vielleicht noch ein zusätzliches Argument gerade zu dieser so ungemein brillant-schmissig musizierten Bernstein-Jubiläums-CD zu greifen. Ein weiteres Argument ist der (beim BIS-Label fast durchweg selbstverständliche) so ungemein transparent und kraftvoll aus den heimischen Boxen strömende Klang der Aufnahmen, die neben der bereits vorzüglichen Hybrid-CD-Version im SACD-Teil hochauflösend und neben zweikanaligem Stereo auch surroundfähig abgerufen werden können. Die Zeit vergeht beim Hören wie im Fluge, und leider ist nach „nur“ rund 62 Minuten dieses packende Bernstein-Konzert bereits an seinem Ende angelangt.

Zumindest erwähnt sei an dieser Stelle auch noch das zweifellos bemerkenswerte „Allan Pettersson Project“ mit dem BIS sich seit dem Jahr 2013 mit Lindberg als Dirigent des Sinfonieorchesters von Norrköping die Komplettierung des bereits zuvor unter Leif Segerstam in Angriff genommenen BIS-Alben-Zyklus des hochkomplexen, oftmals schroff zerklüfteten Gesamtwerks des Schweden Allan Petterson (1911–1980) auf die Fahnen geschrieben hat. Erst kürzlich, am 13. Juni 2018, erlebte übrigens Petterssons 7. Sinfonie mit diesem Orchester und unter Lindbergs Leitung ihre vielbejubelte Erstaufführung im Wiener Musikvereinssaal. Lindberg hat zudem die 1. (unvollendet gebliebene) Sinfonie Petterssons in eine aufführbare Form gebracht (BIS-1860).

Resümee: Christian Lindberg ist als Soloposaunist nicht nur längst eine Ikone und damit zum Vorbild für den Nachwuchs avanciert. Er ist auch für diejenigen von Belang, welche nicht in besonderem Maße auf die Posaune fixiert sind. Setzt sich der auch international sehr aktive Künstler doch darüber hinaus so erfrischend unkonventionell und undogmatisch für Experimente und damit für ein frisches, zeitgemäßes Image der insbesondere für junge Leute oftmals nur als angestaubt und überholt angesehenen so genannten Klassik ein. Darüber hinaus liefern aber neben den Auftritten als Posaunist sowohl die Kompositionen als auch die Dirigate dieses bemerkenswerten Multitalents hörenswerte Anregungen. Dass man an einigen Stellen seiner Kompositionen durchaus auch an Filmmusik denken, sich Christian Lindberg somit auch für Filmvertonungen vorstellen kann, sei abschließend angemerkt.

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