3D im Arthouse-Kino: Pina … — tanzt, tanzt sonst sind wir verloren
Direkt gesagt: Das Schaffen von Regisseur Wim Wenders hat es bislang kaum geschafft, mich in seinen Bann zu ziehen. Und ebensowenig vermochte mich, der ich eher dem klassischen Ballett zugeneigt bin, der avantgardistische Ausdruckstanz übermäßig anzusprechen. Hier schreibt also weder ein Fan von Wenders noch einer der Inszenierungen einer Pina Bausch oder etwa eines John Neumeier. Auslöser des Interesses war vielmehr, ein hochgelobtes Filmprojekt in 3D zu erleben, stammend von einem im Arthouse-Kino renommierten Regisseur. Dass dies auch die eingehendere Begegnung mit etwas kaum Vertrautem und damit einen den eigenen Horizont erweiternden Blick über den Tellerrand einschloss, war ein willkommener Begleiteffekt.
Der Ausdruckstanz des Bausch’schen Tanztheaters ist eine relativ neue Kunstform, die Elemente des klassischen Balletts mit Pantomime und Schauspiel verbindet. Das daraus Resultierende, bei dem in Gestik, Mimik, Körperbewegung und Symbolik (Licht, Farbe etc.) etwas mitgeteilt wird, ist in seiner Bedeutung allerdings weder unmittelbar klar noch unbedingt völlig eindeutig. Pina Bausch hat ihre Kunst ja nie eingehender erklärt und auch nicht erklären wollen: Sie galt als große Schweigerin. Rein intuitiv dechiffrieren wir die von Mitmenschen durch Gestik, Mimik und Körperhaltung ausgesandten Botschaften, freilich ohne den jeweiligen Code genau zu kennen. Und so ist wohl gerade die Vielschichtigkeit der aus individueller Wahrnehmung resultierenden unterschiedlichen Interpretationen des Gesehenen ein entscheidender Teil dessen, was für die Anhänger der Künstlerin die Faszination ausmacht.
Wenders’ Zusammenarbeit mit dem Ensemble des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch ist ein respektvoller, aber keinesfalls ein rein schmerzlicher Nachruf, sondern letztlich eine Hommage und Liebeserklärung an das Schaffen der 2009 unerwartet verstorbenen Künstlerin und Freundin des Regisseurs, die 1940 in Solingen geboren wurde. Eingestreut finden sich eine Handvoll kurzer Filmausschnitte, in denen Pina Bausch zu sehen und zu hören ist.
Auszüge aus vier besonders markanten Bausch-Inszenierungen bilden das Gerüst des Films, „Le Sacre du Printemps“ (1975), „Cafe Müller“ (1978), „Kontakthof“ (1978) und „Vollmond“ (1978). Der Bruch mit der Tradition spiegelt sich dabei nicht nur in den im klassischen Sinne unmittelbar häufig eher „unballettmäßig“ erscheinenden Choreografien. Da wird nicht nur auf einer Schicht angefeuchteten Torfs noch relativ klassisch getanzt („Le Sacre du Printemps“) oder sich auf einer quasi gefluteten Bühne im kühlen Naß temperamentvoll bewegt („Vollmond“), das Ensemble bringt mitunter auch mal beklemmend Wirkendes, etwa sexuelle Nötigung („Kontakthof“), zum Ausdruck. Neben der ungewohnten Ästhetik der Choreografien ist auch die erklingende Musik mitunter gewöhnungsbedürftig. Zum Einsatz kommen nämlich nicht wie üblich die gewohnten klassischen Ballettkompositionen, sondern vielmehr quer über sämtliche musikalische Stilrichtungen ausgewählte Stücke.
Wenders lässt die Mitglieder des Ensembles der Verstorbenen Referenz erweisen, indem er ihnen neben eingeschobenen kurzen persönlichen Anmerkungen Gelegenheit gibt, das, was ihnen an der Arbeit mit Pina Bausch besonders wichtig erschien, nicht in Worten, sondern als Tanz zum Ausdruck zu bringen. Zwar bleibt das, was die wortlos bleibenden Bewegungen dem Zuschauer mitteilen sollen, eher in der Schwebe, zweifelsfrei kommt hier jedoch die tiefe Verehrung zum Ausdruck, welche die Tänzer für ihre verstorbene Chefin empfinden.
Spätestens hier, wo immer wieder die relative Enge des Theaters verlassen wird, man sich nach draußen begibt und damit die Szenerie in die Region des Wirkens der Künstlerin verlegt, wirkt Pina ganz besonders lebendig und unmittelbar. Dabei geht es aber nicht nur an markante Plätze der Stadt Wuppertal, sondern auch in das nähere Ruhrgebiet. So erhält nicht nur die bekannte Schwebebahn einige bemerkenswerte Auftritte: Auf der Zeche Zollverein in Essen wird ebenso getanzt wie auf der Halde Haniel in Bottrop, auf einer grünen Wiese am Flussbett, im Steinbruch, im tageslichtdurchfluteten riesigen Glaspavillon im Wuppertaler Skulpturenpark oder auch im Stadtbad, der so genannten „Wuppertaler Schwimmoper“. Das hebt nicht allein die relative Enge des Theaters auf, es bietet zusätzliche interessante Perspektiven. Die Idee, Tanzszenen in und um Wuppertal einzubinden, war übrigens durch den Bausch-Film Die Klage der Kaiserin (1989) motiviert.
Auch nach diesem (Heim-)Kinoerlebnis ist aus mir zwar nun kein leidenschaftlicher Anhänger des Bausch’schen Tanztheaters geworden. Aber der aus sehr unterschiedlichen Teilen zusammenmontierte Film von Wim Wenders hat mich keinesfalls gelangweilt. Vielmehr hat mich die sehr ambitioniert und auch spürbar leidenschaftlich in Szene gesetzte Bilderflut letztlich in ihren Bann gezogen. Und dieser Effekt beruht ganz besonders auf der Begegnung mit der Heimkinoversion, die, versehen mit aufschlussreichen Audiokommentaren sowie erstklassig produzierten Bonusmaterialien, in der Lage ist, über das reine Filmerlebnis hinaus auch dem von der Materie Unbeleckten tiefere Eindrücke zu vermitteln. So wurde mir die liebevolle Machart und das leidenschaftliche Engagement sämtlicher Beteiligten in einem Maße deutlich, wie dies ein Kinobesuch allein nicht hätte vermitteln können. Und so darf ich sagen, dass mich Pina nicht kalt gelassen, sondern überwiegend mitgerissen hat.
Pina liefert somit auch für manchen Nichtfan einen sehenswerten Bilderbogen, einen, der zwar auch in 2D funktioniert, welcher aber erst durch die dritte Dimension ganz besonders ausdrucksstark wird. Gut eingesetztes 3D sorgt beim Tanz für ein erhebliches Mehr an emotionaler Intensität. Das ist etwas, das bereits die Teenie-Tanz-Filme StreetDance 3D und Step Up 3D belegen — man vergleiche nur den Wassereinsatz im Finale von „Vollmond“ mit dem Wasserballett in Step Up 3D. Derart „nah dran“ kann man sich dem Geschehen selbst im Theater kaum fühlen. Zwar ist dort der Raum echt und nicht eine optische Täuschung, aber die 3D-Kamera ist zum einen fast immer dichter dran am Geschehen, und sie vermag zum anderen diesem auch ganz anders zu folgen. Ihre privilegierte Sicht macht die Körperlichkeit, die Präsenz der Akteure auf ungewöhnliche Art und Weise geradezu physisch erfahrbar. Das lässt den Tanz hautnah erleben, wie es eben nur der 3D-Film vermag. Spätestens am Schluss, wenn der Film die Tänzer des Wuppertaler Ensembles nicht nur in den Sonnenuntergang tanzen, sondern wohl auch neuen Ufern entgegen gehen lässt, können Regisseur Wenders und sämtliche Beteiligten für sich verbuchen, dass ihr 3D-Projekt gelungen ist. Pina ist ein Film, der gerade, nein, ich möchte hier sogar soweit gehen zu sagen, allein in 3D in der Lage ist, sein Publikum auf eine ganz besonders faszinierende Art und Weise an sein Thema heranzuführen, so, wie es selbst ein Theaterbesuch nicht vermag. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass die so detailversessene Pina Bausch von der Bereicherung der Bildsprache durch den hier so fantasievoll genutzten Raumeffekt angetan gewesen wäre.
Pina als „3D- und 2D-Blu-ray-Deluxe-Edition“
Die aus drei Blu-ray-Discs bestehende „Deluxe-Edition“ ist nicht nur das umfangreichste, sondern zugleich das mit Abstand interessanteste Produkt des zurzeit zu Pina offerierten Produkt-Tripels, welches daneben noch die „DVD Single Disc“ und das 3D- und 2D-Blu-ray-2-Disc-Set“ offeriert.
Die Bildqualität ist leicht schwankend, reicht von gut bis sehr gut. Was den an sich recht detailfreudigen, mit gutem Kontrast und Farben ausgestatteten Bildern mitunter etwas fehlt, ist ein Quäntchen Schärfe. Der 3D-Eindruck ist durchweg sehr gut, in Teilen geradezu bestechend. Nur vereinzelt haben Einstellungen kurzzeitig mit leichtem Ghosting (Doppelkonturen) zu kämpfen. Die Tonkulisse dazu ist ebenso tadellos. Sie ist freilich der Thematik angemessen, also nicht effektbesessen, sondern agiert eher unspektakulär atmosphärisch und dezent im Hintergrund.
Im Deluxe-Set ist der Film als 3D-Blu-ray-Version und sicherheitshalber zusätzlich auch als übliche 2D-Blu-ray-Version enthalten — Letztere läuft nämlich garantiert auf jedem auch älteren Blu-ray-Player-Modell. Zum Film ist ein Audiokommentar von Regisseur Wim Wenders wählbar, der zum Gezeigten mit einer Vielzahl an interessanten Hintergrundinformationen aufwartet. Das ist nicht nur erhellende, sondern zugleich angenehme Kost, die vom Regisseur nicht steif und akademisch trocken, sondern erfreulich locker, humorvoll und auch mal selbstironisch dargeboten wird. Davon dürften gerade diejenigen, die beim modernen Ballett, ähnlich wie der Verfasser, mitunter etwas ratlos zurück bleiben, besonders angetan sein, zumal der Film nur wenig Gesprochenes enthält, sich vielmehr nahezu völlig auf die Wirkung seiner Bilder verlässt.
Wenders erläutert dabei, wie er, der anfänglich mit modernem Ballett ebenfalls nichts am Hut hatte, sein Interesse daran entdeckte und warum das Projekt eines Tanzfilms mit Pina Bausch rund zwei Jahrzehnte in der Luft hing. Wie er schließlich darauf kam, für die Umsetzung 3D als immanente Lösung anzusehen, wird ebenfalls erklärt. Ebenso macht Wenders auf einige der Probleme aufmerksam, welche die 3D-Umsetzung begleitet haben, eine Technik welche ihm dazu dienen sollte, die bei 2D vorhandene unsichtbare Wand zwischen Zuschauer und Kinopublikum aufzuheben.
Die 2D-Blu-ray bietet mit dem rund achtminütigen „Behind the Scenes“ bereits eine Art Mini-Making-of. Die dritte Blu-ray-Disc setzt hier nun elegant das Tüpfelchen auf das i. Sie zeichnet sich durch ihre rund eineinhalbstündige, exquisite Kollektion weiterer Boni aus, die — besonders bemerkenswert — zum Großteil ebenfalls in 3D enthalten sind. Das speziell in 3D produzierte und wiederum von Regisseur Wenders sorgfältig kommentierte große Making-of informiert ausführlich über die Produktion und liefert neben Fundiertem zu den in Auszügen aufgenommenen Pina-Bausch-Stücken weitere Infos zum für Pina so entscheidenden 3D-Prozess. Wenders’ erfrischende und präzise auf das Gezeigte abgestimmte Informationen machen das Gesehene durch die deutlich werdende Hingabe für das Projekt noch interessanter, und das hat den Schreiber dieses Artikels besonders beeindruckt.
Die „Deleted Scenes“, wiederum in 3D und versehen mit einem Audiokommentar von Wim Wenders, liefern weitere Eindrücke zum Projekt. Dabei erweisen sich verschiedene der Teile, welche der Schere zum Opfer fielen, als derart gelungen und gerade in 3D von besonders packender Wirkung, dass man sich diese doch im Film wünschte. Das betrifft z. B. den Tanz im eindrucksvoll präparierten Wuppertaler „Märchenwald“, aber auch die drei Generationen von „Kontakthof“. Damit sind neben der geläufigen Inszenierung mit dem festen Theaterensemble die beiden zusätzlichen gemeint, die zum einen mit einer Besetzung älterer Laiendarsteller (oberhalb 65) und zum anderen mit Teenagern ab 14 realisiert worden sind. Der Kontakthof versinnbildlicht einen Ort der Begegnung, an dem man sich trifft, sich zeigt und neben ersten Sexerfahrungen auch mit Prostitution in Berührung kommen kann. Das ist im Ausdruck natürlich markant vom Alter der Darsteller abhängig und dies wird hier in überaus interessant miteinander kombinierter Montage zum Ausdruck gebracht. Leider ist davon in der endgültigen Schnittfassung fast nichts mehr übrig geblieben.
Darüber hinaus gibt es noch einige Interviewausschnitte und Eindrücke von der Gala im Zusammenhang mit der festlichen Uraufführung im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele Berlin 2011.
Fazit: Zu den Anhängern modern-avantgardistischer Ballettaufführungen gehöre ich nicht, und das werde ich auch nach der Begegnung mit Pina nicht werden. Trotzdem hat mich diese Hommage in ihrer liebevollen und von allen Beteiligten so spürbar engagierten Machart als Liebeserklärung an das Werk der berühmten Choreografin beeindruckt zurückgelassen. Ganz besonders die drei Blu-ray-Discs umfassende Deluxe-Edition — mit ausführlichem Making-of sowie geschnittenen Szenen, sämtlich in 3D (!) — ermöglicht, unterstützt durch die vorzüglichen Audiokommentare von Wim Wenders, auch Skeptikern einen hochinteressanten, in Teilen mitreißenden Blick abseits des Gewohnten und über den eigenen Tellerrand hinaus. Das Zusatzmaterial ist hierbei nicht wie häufiger eher nettes Beiwerk, sondern wirklich essenziell. Pina ist damit derzeit die am sorgfältigsten produzierte 3D-Blu-ray-Produktion auf dem Markt.
3D ist damit nun auch im Arthouse-Kino angekommen, und das wird weitere vielversprechende Experimente namhafter Regisseure nach sich ziehen. Derzeit ist 3D noch ein wenig erforschtes Medium, dessen Potenzial noch längst nicht ausgeschöpft ist, und das lässt gespannt in die Zukunft blicken. Im zeitlichen Umfeld dieses Artikels hat 3D im Arthouse-Kino bereits durch zwei weitere ähnlich gelagerte Produktionen Zuwachs bekommen: durch den dreidimensionalen Konzertfilm über die Berliner Philharmoniker in Singapur, A Musical Journey (Regie: Michael Beyer), Kinostart am 20. Oktober, sowie Werner Herzogs 3D-Dokumentarfilm über die Höhlenmalereien von Chauvet-Pont-d’Arc, Die Höhle der vergessenen Träume, Kinostart am 3. November.
Zur Erläuterung der Wertungen lesen Sie bitte unseren Hinweis zum Thema „Blu-ray-Disc versus DVD“.
Dieser Artikel ist Teil unseres Spezialprogramms zum Jahresausklang 2011.
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