Ruth Stützle und Jürgen Ruggaber porträtieren in ihrem Buch ein Stück deutscher Nachkriegs-Kinogeschichte. Die Publikation befasst sich aber nicht mit der Historie eines der großen Filmpaläste in einer der Metropolen, sondern mit dem der Mehrzahl der Leser zwangsläufig vertrauteren Kleinstadt- oder Dorfkino.
Nach abenteuerlichen Jahren mit Holzstall- und Wanderkino öffneten im Dezember 1952 die „Lichtspiele Mössingen“ – mittlerweile auch scherzhaft das „Cinema-Paradiso vom Steinlachtal“ genannt – unter der Leitung der Brüder Walter und Kurt Schlegel ihre Pforten. Was den besonderen Reiz des in Baden Württemberg beheimateten Lichtspieltheaters ausmacht, ist, dass es in seiner wechselvollen Geschichte immer in Familienhand geblieben ist. Es handelt sich um den äußerst seltenen Fall eines gepflegten 50er-Jahre-Kinos, das zwar technisch weitgehend mit der Zeit Schritt gehalten hat, aber an dem bis heute architektonisch nur geringfügige Veränderungen vorgenommen worden sind. Ebenso behütet wie das nostalgische Ambiente ist das umfangreiche hauseigene Archiv: eine Fundgrube für Kulturhistoriker.
Die Autoren haben Interview-Mitschnitte ausgewertet und lassen in erster Linie die Kinobetreiber selbst berichten. Die Familientradition ruht zwar immer noch in den Händen des mittlerweile 75-jährigen Walter Schlegel, wird aber seit geraumer Zeit vom jüngsten Spross der Familie, dem 1960 geborenen Neffen Stefan, mit- und weitergeführt. Dieser beschreibt speziell die Entwicklung des Unternehmens seit Anfang der 80er Jahre. Daneben liefert er in einem allgemeinen Abriss fundierte Informationen zu 3-D- und Breitwandverfahren und gibt dabei Einblicke in die mitunter berüchtigten Kinotrends, in denen neben Sex, Crime und Horror auch Italo-Western und Karl-May-Filme zu finden sind.
Das flüssig lesbare Buch dokumentiert sorgfältig die wechselvolle Geschichte eines traditionsreichen kleinen Kinobetriebes, dem es gelungen ist, zweimaligem großen Kinosterben (Ende der 60er und Anfang der 80er) und auch anderen Schwierigkeiten zu trotzen. Neben den Betreibern kommen dem Familienunternehmen nahe stehende Dritte, wie Hans Köhler und Herbert Spaich (Filmredakteur beim SWR), zu Wort, die interessante Details zu Kinotechnik und dem Projekt Jugendfilmclub beitragen. So entsteht ein facettenreiches, lebendiges Bild, in dem sich zugleich ein Stück deutscher Nachkriegskino- und damit Zeitgeschichte widerspiegelt. Die informative, spannende und zugleich sehr unterhaltsame Lektüre macht deutlich, wie stark sich Kino- und Filmlandschaft gewandelt haben. Etwas, für das der veränderte Zeitgeschmack neben neuartigen Arbeits-, Lebens- und Konsumgewohnheiten, aber auch technische Innovationen wie Fernsehen und Video mitverantwortlich sind.
Dass seinerzeit, z. B. in 1965, der Renner Doktor Schiwago mit nur etwa 50 Kopien (!) an den deutschen Start ging, heutzutage Blockbuster wie Herr der Ringe dagegen mit etwa 1200 Kopien gestartet werden, lässt die gewaltigen Umwälzungen bereits erahnen. Manches originelle Histörchen weckt Erinnerungen an eine wunderschöne filmische Hommage an das klassische Lichtspieltheater. So ruft die Schilderung der strengen Sittenkontrolle durch die Dorfpolizei in den 50ern, aber auch die der filmischen Betreuung ausländischer Gastarbeiter – zwischen 1964 und 1984 – Szenen aus Giuseppe Tornatores bekannter nostalgischer Liebeserklärung an das klassische italienische Dorfkino, Cinema Paradiso, ins Gedächtnis.
Im Film muss das „Cinema Paradiso“ schließlich einem Supermarkt weichen. Ein Schicksal, das den Mössinger Lichtspielen – trotz Verfall der Kinokultur und damit verbundener magerer Krisenjahre – bisher erspart geblieben ist. Seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre hat sich das Unternehmen dank Filmförderung und spezieller Programmstruktur sogar wieder einen wirtschaftlich soliden Platz erkämpfen können. „Mit Qualität zum rettenden Ufer„ hieß der Slogan, der auch auf das vorliegende liebevoll gemachte und mit umfangreichem Bildmaterial ausgestattete Buch passt. Es präsentiert einen nostalgischen (Rück-)Blick auf ein Biotop der Kinogeschichte, der durch die eingearbeiteten soliden Hintergrundinfos nicht allein für die Mössinger interessant sein dürfte. Das Schlegelsche Kinounternehmen ist nämlich abseits regionaler Eigenheiten in vielem exemplarisch für die Kinokultur in den kleinstädtischen und ländlichen Regionen der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland, und auch die erwähnten Filme sind natürlich bundesweit gezeigt worden. Damit dürften insbesondere Lesern, die inzwischen jenseits der 40 Lebensjahre sind, eigene Kino-Erlebnisse in Erinnerung gerufen und oftmals mit einem Schmunzeln quittiert werden. Aber auch für aufgeschlossene junge Cineasten bietet die Publikation reichlich interessanten und nicht zuletzt sehr unterhaltsamen Lesestoff.