Hugo Cabret: Martin Scorseses nostalgisch-liebevoller Blick zurück auf das frühe Kino der Illusionen in 3D
Wer hätte das gedacht, dass Martin Scorsese im Anschluss an den düsteren Thriller Shutter Island sein Publikum mit einem derart reizenden und warmherzigen Kinomärchen, einem echten Familienfilm für alle Generationen überraschen würde? Allerdings ist die Verfilmung des Brian-Selznick-Bestsellers auf den zweiten Blick schon erheblich weniger verwunderlich. Scorsese, aufgewachsen in der Bilderwelt der populären Kultur, ist ein Vertreter des New Hollywood und zugleich ein großer Kenner und Liebhaber des klassischen Kinos, einer, den Georg Seeßlen als „John Ford der Post-Vietnam-Generation“ bezeichnet. Das belegt die sehenswerte Dokumentation A Century Of Cinema — A Personal Journey With Martin Scorsese Through American Movies • Eine Reise durch den amerikanischen Film (1995). Dazu passt dann auch, dass sich der Regisseur bei diversen Restaurationsprojekten beteiligt und damit aktiv um die Sicherung des Filmerbes verdient macht.
Im Gegensatz zu den von Scorsese gewohnten Konfliktfilmen im Milieu urbaner Straßendschungel wird in Hugo Cabret das Kino selbst, und zwar das der Gründerjahre, thematisiert. Dabei werden die Umstände um die Wiederentdeckung des ersten Kinomagiers Georges Méliès sehr märchenhaft gespiegelt. Im Zentrum der warmherzigen Story steht der Waisenjunge Hugo (Asa Butterfield), der im Pariser Bahnhof Montparnasse unsichtbar hinter den Mauern verborgen lebt und die Uhren wartet. Bei den Bemühungen, den vom Vater geerbten Automaten (einen mechanischen Mann) zu reparieren, kommt er zusammen mit Isabelle (Chloë Moretz), der Pflegetochter von Papa Georges, Inhaber eines Ladens für Spielzeuge und Süßigkeiten, letztlich dem Geheimnis dieses Mannes auf die Spur. Papa Georges ist nämlich niemand anderes als der zwischenzeitlich vergessene (im Film sogar tot geglaubte) Begründer des fantastischen Erzählkinos, der Regisseur Georges Méliès (1861-1938). Die im Film ebenfalls gewürdigten Gebrüder Lumière hielten ihre Erfindung nämlich noch für eine kurzlebige Jahrmarktsattraktion. Georges Méliès, zuerst selbst auf Jahrmärkten agierender Zauberkünstler, war einer der ersten, der die Möglichkeiten erkannte, im Film Geschichten zu erzählen, und der insgesamt rund 500 (freilich noch relativ kurze) Fantasyfilmprojekte realisierte. Dabei verfeinerte er für sein Kino der Träume und Illusionen bereits erste Filmtricks (Special Effects), etwa Doppelbelichtungen und Modellaufnahmen. Die Erfindung des ersten Stop-Motion-Tricks, des so genannten Stopptricks, mit dem man Objekte komplett verschwinden und/oder auch an anderer Stelle im Bild wieder erscheinen lassen kann, geht auf sein Konto.
Darauf reflektiert eine der schönsten Szenen des Films, wo der (noch recht junge) Präsident der französischen Filmakademie, René Tabard (Michael Stuhlbarg), den Hugo und Isabelle davon überzeugen, dass Méliès noch lebt, ihnen mit leuchtenden Augen von einem prägenden Kindheitserlebnis berichtet: einem Besuch des Méliès’schen Studios — welches in den britischen Shepperton-Studios aufwändig nachgebaut wurde. Zum jungen Tabard gewandt sagt der (da ebenfalls noch junge) Méliès — wiederum verkörpert von einem überzeugend verjüngten und der historischen Figur zudem sehr ähnlichen Ben Kingsley — die bedeutenden Worte: „Wenn du dich jemals gefragt hast, wo deine Träume herkommen, dann sieh dich um: Hier werden sie gemacht!“ Bei dieser Liebeserklärung an die Poesie des frühen Films müsste eigentlich nahezu jedem Kinofreund warm ums Herz werden. Und Martin Scorsese setzt noch eins drauf, indem er sich in den Szenen um das Méliès-Studio einen Cameo-Auftritt als Fotograf gönnt.
Der Film changiert zudem sehr schön zwischen Realismus und Märchen, indem neben Méliès und seiner Frau auch einige weitere wichtige Realfiguren der Epoche sichtbar werden, wie der im Café sitzende Maler Salvador Dalí oder der Gitarrist Django Reinhardt, der im Bahnhof mit einer Band auftritt.
Die ungemein souverän gehandhabte, von James Cameron entliehene 3D-Technik triumphiert nicht nur in der bereits legendären Eröffnungssequenz, wo das riesige Räderwerk einer Uhr symbolhaft in eine Ansicht des überraschend winterlich wirkenden „Räderwerks von Paris“ gemorpht wird und anschließend eine grandiose Kamerafahrt aus der Vogelperspektive über die Stadt zum Gare Montparnasse erfolgt. Dabei ist die — auch in den späteren Straßenszenen — für Paris eher ungewohnt winterliche Szenerie in erster Linie Mittel zum Zweck. Sind doch die so täuschend echt animierten, sanft rieselnden Schneeflocken dazu in der Lage, den Raumeffekt frappant zu verstärken. Im Gare Montparnasse erfüllt dies der immer wieder zu beobachtende, aus x-fachen Öffnungen strömende Dampf und ebenso durch die Luft schwebende Staubpartikel.
3D, die zum Leben erweckte Fotografie, macht anschließend aber nicht nur die Tiefe der grandiosen Bahnhofskulisse eindrucksvoll erlebbar. Ebenso verstärkt der dreidimensionale Raum die Wirkung der hinter den Mauern verborgenen, von Hugo durchstreiften, meist eher engen Labyrinthe. Grandios funktionieren dabei auch die hinter den Zifferblättern verborgenen, mehr oder weniger großen Werke der Bahnhofsuhren. Besonders das riesige Räderwerk der großen Turmuhr erscheint gigantisch, wenn der Knirps Hugo um es herum und sogar hindurch schlüpft.
Mit 3D ist man schlichtweg näher dran, und die fast schon physischen Eindrücke verstärken beim Zuschauer die Verbindung zur Geschichte und den Figuren. Beispielsweise in der Szene, wo Isabelle in der Menge des sich drängenden Bahnhofspublikums strauchelt, unterzugehen droht und dem Zuschauer hilfesuchend die Hand entgegenstreckt. Hier ist übrigens die Inspiration durch einen der klassischen 3D-Filme unübersehbar, welche der Regisseur seinem Team gezeigt hat: Alfred Hitchcocks Dial M for Murder • Bei Anruf Mord (1954) — der übrigens in Kürze als erster 3D-Film der Fifties auf 3D-Blu-ray erscheint. Mancher mag aber zugleich an die Stummfilmära denken und etwa King Vidors The Crowd (1928) assoziieren.
Und noch ein weiteres elegantes Zitat ist unmittelbar augenfällig: wenn Hugo in der Hommage an Harold Lloyds legendärem Streifen Safety last! • Ausgerechnet Wolkenkratzer! (1923) am Minutenzeiger der riesigen Bahnhofsturmuhr hängt. Da lässt wiederum erst 3D den schwindelerregenden Abgrund zu den verkehrsreichen Straßenschluchten so ganz tief unten geradezu hautnah spürbar werden. Und beim Blick in den ebenfalls abgrundtiefen Schacht unterhalb der großen Turmuhr fühlt man sich an Hitchcocks Vertigo • Aus dem Reich der Toten (1958) erinnert.
Die etwas stilisierte Farbgebung wirkt ebenfalls gestrig, erinnert an die im Zweifarben-Technicolor-Look gehaltenen Teile von Aviator (2003). Darin wiederum einen Reflex auf die bis Mitte der 1930er Jahre eher unzulänglichen Farben im Kinofilm jener Zeit zu erkennen, liegt zumindest recht nahe — Fotos vom Dreh im Buch zum Film (s. u.) zeigen übrigens natürliche Farben.
Auch setzt der Regisseur die 3D-Technik reflexiv ein. So, wenn er in der dritten Dimension einen Zug auf den Zuschauer zurasen lässt, ähnlich wie es die Gebrüder Lumière bereits in einem ihrer frühen Filme (natürlich in 2D) vorexerzierten, was die noch filmungewohnten Zuschauer aber trotzdem sehr erschreckte. Dabei hat sich das Zugunglück 1895, im Geburtsjahr des Kinos, im Gare Montparnasse wirklich so ähnlich ereignet. Scorsese hat es als Traum-im-Traum-Sequenz zugleich besonders raffiniert und glaubwürdig in die Filmhandlung verpackt. Da lässt sogar ein klein wenig Inception (2010) grüßen. Und wenn nicht nur in den nachgestellten Szenen aus Méliès-Filmen, sondern auch in den anschließend zu sehenden originalen Filmausschnitten ein durch sorgfältiges Konvertieren liebevoll erzeugter 3D-Effekt erscheint, dann macht das in diesem speziellen Falle durchaus Sinn: Hier spielt Scorsese nämlich in besonderem Maße augenzwinkernd mit der neuen alten Technik, indem er suggeriert: In 3D hätten Méliès und seine Kollegen zweifellos auch gedreht, wenn es ihnen damals möglich gewesen wäre.
Im Bahnhof erscheinen dank 3D nicht nur die noch dampfenden, appetitlich frischen Croissants so verführerisch echt, geradezu zum Greifen nahe. Monsieur Labisse (Christopher Lee) gibt den Büchern und seiner Liebe zur Literatur eine Heimat. In seinem engen Laden stapeln sie sich eindrucksvoll bis zur hohen Decke. Zwar steht im Zentrum des Films das Zelebrieren der Magie des frühen Kinos, aber auch das Lesen von Büchern spielt dabei eine wichtige Rolle. Verschiedentlich fällt dazu der Name eines der Begründer der Science-Fiction-Literatur: Jules Verne. An Vernes fantasievolle Romanstoffe, in denen eine noch rein mechanische (Dampf-)Maschinentechnik so bedeutungsvoll ist, erinnern denn auch die komplexen Räderwerke der Uhren in Scorseses magischem Kinoabenteuer, und das wiederum unterstreicht, gerade in unserer von Computern dominierten digitalen Epoche, nochmals den Retro-Eindruck.
Auf der Suche nach Informationen über Méliès begeben sich Hugo und Isabelle schließlich auf den Rat von Monsieur Labisse in die wiederum gerade in 3D so eindrucksvoll riesig erscheinende Bibliothek der Filmakademie. Dort stoßen sie zufällig auf René Tabard, Präsident der Akademie, der ihnen anschließend entscheidend behilflich ist, den Stein zur Wiederentdeckung von Méliès ins Rollen zu bringen.
Dass jeder im „Räderwerk“ des Lebens seinen Auftrag hat, wie ein Rädchen im Getriebe seine Funktion erfüllt, ist eine mehrfach zum Ausdruck gebrachte Botschaft des Films. Hugo Cabret ist aber vielschichtiger. So ist es in besonderem Maße das Band zwischen den Generationen (ebenfalls ein bedeutendes Märchenmotiv), das hier beschworen wird. Sind es doch die filmbegeisterten Kinder Hugo und Isabelle, die das Lebenswerk und damit zugleich den alternden desillusionierten Méliès dem Vergessensein entreißen. Es betrifft aber ebenso den im mittleren Alter befindlichen René Tabard, der ja zuvor ebenfalls, wiederum über einen Älteren, als Kind in den Bann der Leinwandträume geriet (s. o.) und jetzt zum entscheidenden Glied der Handlung wird. Aber auch Einsamkeit ist ein Thema: Nicht etwa nur der alte Méliès ist davon betroffen, auch die isoliert lebende Waise Hugo, sehnt sich nach Nähe.
Bereits in der eher gemächlichen Inszenierung ist Hugo Cabret ein rückwärtsgewandter Film, einer, der sich fast eine volle Stunde Zeit lässt, bevor die Handlung auf den Punkt kommt und zunehmend Fahrt aufnimmt. Doch gerade durch die vielen eingefangenen Impressionen vom Leben auf dem Bahnhof, den kleinen nebensächlichen, mitunter skurrilen alltäglichen Dingen, sorgt der Regisseur gekonnt und stilvoll für eine letztlich bezaubernde Atmosphäre. Da ist das Geheimnis um den mechanischen Menschen, das gelüftet wird, und die sich daraus entwickelnde Freundschaft zwischen Hugo und Isabelle. Ebenso kommen sich zwei Paare langsam näher: zum einen zwei ältere, wo der sich behutsam nähernde Mann durch „ihren“ Dackel anfänglich geradezu eifersüchtig zurückgewiesen wird und zu einer drolligen List greifen muss, um ans Ziel zu gelangen. Zum anderen ist da das sich anbahnende Verhältnis zwischen dem in Herzensangelegenheiten offenbar fürchterlich ungeschickten Stationsvorsteher (Sacha Baron Cohen — geläufig als „Borat“) und der charmanten Blumenverkäuferin (Emily Mortimer). Das alles ist zwar sehr ruhig, aber keineswegs langweilig inszeniert. Und die sehr gelungene, das Leinwandgeschehen subtil und charmant zugleich untermalende Filmmusik von Howard Shore erledigt den Rest, den Zuschauer in den filmischen Bann zu ziehen.
Die Figur des Stationsvorstehers, der im 1. Weltkrieg ein Bein verlor, ist tragikomisch und grotesk zugleich angelegt. Mit seinem Dobermann Maximilian sitzt er nicht nur gemeinsam in der Badewanne. Das schlagkräftige Duo macht auch unerbittlich Jagd auf streunende Waisenkinder. Wenn das grimmige Gesicht des Stationsvorstehers sich dabei einmal sogar aus der Leinwand heraus in Richtung des Zuschauers bewegt, wird das Bedrohliche der Situation geradezu unmittelbar erfahrbar.
Die für die optimale Wirkung des Films eingesetzte 3D-Technik ist keineswegs selbstzweckhaft, sie wartet nicht etwa mit Jahrmarktsattraktionen auf, sondern stellt die Technik eindeutig in den Dienst der Geschichte, indem sie durch intensivere, fast physisch erlebbare Bildeindrücke für ein spürbares Mehr an Emotion beim Zuschauer sorgt. Dies alles und mehr macht Hugo Cabret zu einer ganz besonders edlen Perle des dreidimensionalen Kinofilms. Dank der ausgeprägten Plastizität seiner Bilder beeindruckt der Film zwar bereits in 2D, aber richtig perfekt funktioniert er erst in 3D. Erst dann lässt praktisch jede Einstellung den so sorgfältig kalkulierten Raumeindruck unübersehbar werden. Nur in einzelnen Momenten erscheint dabei aus dramaturgischen Gründen die Raumtiefe (sinnvoll) überhöht. Besonders faszinierend stechen aber auch die aus der Perspektive der Kinder oder des die Kinder jagenden Dobermannes Maximilian gemachten Einstellungen hervor. Somit zählt Hugo Cabret zum Allerbesten, womit das 3D-Kino derzeit überhaupt aufwarten kann.
Aber auch im Übrigen handelt es sich um großes Kino. Dafür stehen die vorzügliche Detailarbeit des Produktionsdesigners Dante Ferretti und die opulente Kameraarbeit von Robert Richardson. Elegante Regieeinfälle tun ein Übriges, wie in der Eröffnungsszene, wo Hugo von der Rückseite eines Zifferblattes einer Bahnhofsuhr Papa Georges beobachtet und sich das Zifferblatt in dessen Augapfel widerspiegelt. Zwar feiert Regisseur Scorsese im Finale mit großer Geste Georges Méliès, aber damit zugleich das frühe Kino auch als Ganzes, indem er ihm zuvor bereits die anderen Leinwandpioniere wie die Gebrüder Lumière und Stummfilmregisseure wie David Wark Griffith, Friedrich Wilhelm Murnau oder Robert Wiene zur Seite stellt.
Bei den Oscars war Hugo Cabret zwar in elf Kategorien nominiert. Es gelang ihm aber nur in den Nebenkategorien Kamera, Spezialeffekte, Szenenbild, Tonschnitt und Tonmischung abzuräumen. Dabei ist erwähnenswert, dass der Oscar für „Beste visuelle Effekte“ an das Frankfurter Unternehmen Pixomondo, an die Mitarbeiter Ben Grossmann (VFX-Supervisor) und Alex Henning (DFX-Supervisor), ging. Bei dem 2001 in Pfungstadt bei Darmstadt gegründeten, inzwischen weltweit operierenden Unternehmen sind viele Absolventen des Instituts für Animation, Visual Effects und digitale Postproduktion der Filmakademie Baden-Württemberg tätig.
Mit einem Einspielergebnis von weltweit derzeit etwa 183 Mio. $ landete der Film bei den Einspielergebnissen des Jahres 2011 ziemlich abgeschlagen auf Platz 35, allerdings noch vor Spielbergs Gefährten, der mit nur rund 178 Mio. $ auf Platz 36 platziert ist. Damit hat Scorseses Film zwar die Produktionskosten (ca. 170 Mio. $) wieder reingeholt, konnte bislang aber nur einen marginalen Gewinn verbuchen. Durch die Erträge des Heimkinomarktes dürfte sich diese bescheidene Bilanz aber noch spürbar verbessern. Es lohnt sich nämlich auch für die, welche den Film bereits im Kino gesehen haben, Hugo Cabret, einen Film für Feinschmecker und das wohl magischste Kinoerlebnis des Jahres 2011, daheim in Ruhe im Detail zu entdecken. Ein 3D-Film zum Träumen und Genießen.
Hugo Cabret im 3D-Deluxe-Blu-ray-Set
Das hier zugrunde liegende Deluxe-Set besteht aus drei Discs: 2D-Blu-ray, 3D-Blu-ray sowie eine DVD. Außerdem ist noch der Code zum Herunterladen einer „Digital-Copy“ (eher eine reine Spielerei) mit im Paket enthalten. Als abgespeckte Sets sind ein Kombi-Pack aus 2D-Blu-ray + DVD + Digital Copy sowie die Einzel-DVD separat erhältlich.
Sowohl in 2D wie auch in 3D macht das Bild von Blu-ray eine vergleichbar vorzügliche, hervorragende Figur. Der sehr gute Kontrastumfang, die auch in 3D praktisch durchgehend konsistente Schärfe, die Detailvielfalt und der tadellose Schwarzwert bilden die Basis für den brillanten visuellen Gesamteindruck. Das Gebotene braucht sich qualitativ vor Avatar — Aufbruch nach Pandora (2009) nicht zu verstecken. Nur ganz vereinzelt, insgesamt jedoch vernachlässigbar (!), fällt dem geübten Betrachter für einen Moment mal ein leichtes Ghosting auf.
Auch akustisch spielt die Präsentation in oberster Liga. Zwar liegt die deutsche Tonfassung nur im stärker datenreduzierten AC-3-Tonformat (Dolby Digital 5.1) vor, im Gegensatz zur englischen Tonfassung, die mit DTS-HD Master Audio 7.1 aufwartet. Trotzdem enttäuscht die deutsche Version akustisch keinesfalls. Sie bietet vielmehr ein sehr aktives, wohlkalkuliertes Surround-Klangfeld, durchsetzt mit einer Vielzahl an subtilen, in den einzelnen Actionmomenten aber auch druckvollen Effekten.
In Sachen Boni wird man auf der 2D-Blu-ray besonders fündig, wobei hier sämtliche Extras in HD vertreten sind. Davon findet sich ausschließlich das rund 20-minütige Making-of „Auf den Mond geschossen“ auch auf der DVD-Ausgabe (in SD). Zwar ist das Making-of im penetranten, typisch amerikanischen, sich gegenseitig beweihräuchernden Stil gehalten. Es beleuchtet aber immerhin die wichtigsten Aspekte der Produktion. In „Der Kinomagier Georges Méliès“ wird über rund 16 Minuten das Leben des Leinwandpioniers betrachtet und verdeutlicht, was davon im Drehbuch verarbeitet worden ist. In „Der mechanische Mann im Mittelpunkt von Hugo Cabret“ (ca. 13 Minuten) finden sich Infos zu den bereits im 18. Jahrhundert bewunderten mechanischen Automaten. „Große Effekte, kleiner Maßstab“ (ca. 6 Minuten) zeigt den Aufwand hinter Hugos kurzer Traum-im-Traum-Sequenz (s. o.). Den Schlusspunkt setzt das kurze Segment „Sacha Baron Cohen: Die Rolle des Lebens“ (ca. 4 Minuten).
Howard Shores Filmmusik auf hauseigenem Label
Lyrisch, geheimnisvoll und gelegentlich durchsetzt von Melancholie. So mutet Howard Shores Hugo-Musik über weite Strecken an. Hinzu kommt durch das häufig eingesetzte Akkordeon eine gehörige Portion Pariser Flairs, und darüber hinaus ist auch eine ebenso gehörige Prise modischer Minimalismus spürbar. Gitarre, Klavier und gelegentlich auch die Ondes Martenot kommen dezent zum Einsatz. Neben elegischen Partien geht es immer wieder auch komödiantisch, temperamentvoll und slapstickhaft, quasi wie im Stummfilm, zur Sache. Dafür stehen insbesondere die Verfolgungsjagden des Stationsvorstehers, unterstützt von Dobermann Maximilian. In „Trains“ und „A Train arrives in the Station“ geht’s auch mal in besonderem Maße tonmalerisch zu, wenn Howard Shore mit Hilfe von Mickey-Mousing die Dampfloks auch musikalisch plastisch werden lässt.
Als Hauptthema fungiert ein im Verlauf häufig gespiegelter Musette-Walzer, und auch ein kleiner grotesker Marsch für den Stationsvorsteher steht auf dem Programm. Und nicht zuletzt ist da noch die immer wieder, allerdings nur in gekürzter oder variierter Form aufscheinende Melodie des erst am Schluss komplett erklingenden Songs „Coeur Volant“, interpretiert von der populären französischen Sängerin Isabelle Zaz Geffroy (ZAZ). Diese drei Themen ragen aus dem thematischen Geflecht des Scores besonders deutlich heraus, sind entsprechend schnell erkennbar und zuzuordnen. Insbesondere „Coeur Volant“ besitzt davon das Zeug zum Ohrwurm.
Der sich mitunter einstellende Eindruck von Stummfilm-Touch verdichtet sich gegen Ende. Dafür steht besonders das so nostalgisch anmutende „The Invention of Dreams“, wo die musikalische Begleitung mit den gewohnten Standards der Musik zu Stummfilm-Comedies besonders eingehend und elegant spielt. Das verleiht den gezeigten Jahrmarktsrevue-Szenen und Filmausschnitten der Stummfilm-Ära die adäquate, betont nostalgische Stimmung.
In Hugo Cabret ist es Howard Shore in besonderem Maße gelungen, die verschiedenen Stimmungen des Films subtil zu treffen. Die in größeren Teilen auch abseits der Filmbilder unmittelbar sehr ansprechende Komposition entfaltet ihren vollen Charme aber erst nach mehrmaligem Hören. Dann kommt auch über die großzügige Spieldauer von knapp 70 Minuten keine Langeweile auf, was das Album zum perfekten Souvenir zum Film werden lässt. Die von Shore selbst produzierte CD enthält die annähernd komplette Musik. Sie ist auf dem Label Howe Records erschienen und wird in Deutschland derzeit von helikon harmonia mundi vertrieben.
Lesestoff zu Hugo Cabret von Brian Selznick: Der Kinderroman und das Buch zum Film
Der im Original 2007, hierzulande 2010 erstmals als Taschenbuch erschienene Roman für Kinder, „Die Entdeckung des Hugo Cabret“, kommt als kompaktes und mit seinen rund 550 Seiten zugleich gewichtiges „Brikett“ daher, das (nicht ausschließlich) kleine Leseratten für die Welt des Kinos begeistern könnte. Dabei gibt sich das Buch durch seine üppige Ausstattung mit Schwarzweiß-Zeichnungen des Autors (keine Filmbilder), der ja von Hause auch Illustrator ist, fast schon wie ein Film als Buch oder auch Buch im Film. Brian Selznick ist übrigens mit dem legendären Hollywood-Produzenten David O. Selznick verwandt: sein Großvater war einer von dessen Cousins.
Der reine Text ist zwar recht zügig durchzuarbeiten, es handelt sich aber keinesfalls um eine mit einem Zuviel an Bildern unnötig aufgeblasene Geschichte. Vielmehr sollte man sich ruhig etwas Zeit nehmen, um Textseiten und Bilderflut (beides jeweils ähnlich einer Kinoleinwand mit schwarzem Rand versehen) gemeinsam ihre optimale Wirkung entfalten zu lassen. Das Beschriebene wird nämlich nicht etwa einfach nur bebildert, sondern die gegenüber dem Film breiter angelegte Erzählung wird zugleich mit Hilfe der Zeichnungen auf eine ganz besondere, ungewöhnliche Art aus- und weitergeführt: ein Buch zum staunend vor- und zurückblättern.
Für Freunde des Films ist das ebenfalls von Selznick stammende „Hugo — Der neue Film von Martin Scorsese“ eine sehr gelungene Ergänzung. Das gebundene Buch erfreut nämlich sowohl inhaltlich als auch äußerlich durch seine äußerst liebevolle wie originelle Aufmachung — so sind z. B. Schutzumschlag und Einbandcover nicht identisch. In sechs übersichtlich gegliederten Kapiteln erhält der Leser wissenswerte Einblicke hinter die Kulissen der Filmproduktion. Ausgehend von der Romanvorlage, deren Bilder der Filmcrew zugleich als Inspirationsquelle dienten, kommt Regisseur Martin Scorsese mit seinen Visionen zu Wort und beschreibt in einem Abriss außerdem „Die Geburt des Kinos“.
Anschließend werden besonders wichtige Mitglieder des Filmteams vorgestellt. Neben Produzent und Schauspielern wird auch der für die Geschichte bedeutende Urvater der Kino-Illusionen, Georges Méliès, porträtiert und geschickt seiner filmischen Verkörperung durch Ben Kingsley zur Seite gestellt. Weiter geht’s mit dem Film-Set, den Erbauern der Filmkulissen, der Ausstattung, den Kostümen und der Kamera. Darunter findet sich ebenso eine aufschlussreiche „Kurze Geschichte der Automaten“ zur Erläuterung des mechanischen Mannes. Man erkennt aber auch anhand diverser Fotos, mit wieviel Liebe und Aufwand die prächtigen Kulissen gestaltet worden sind, z. B. der Laden von Papa Georges oder das Méliès-Studio. Im folgenden Kapitel geht es um die Mühen beim Dreh. Da wird z. B. erklärt, wie die Anschlüsse in den Szenen überwacht werden müssen. Es geht aber auch um die Arbeit des Cutters, die Probleme beim Arbeiten mit 3D, oder wie man der Nicht-Britin Chloë Moretz dabei half, den gewünschten britischen Akzent (im Original-Ton) bestmöglich zu treffen. Schließlich kommt noch Filmkomponist Howard Shore kurz zu Wort. (Zwar kommt das genannte elektrische Theremin überhaupt nicht zum Einsatz — vielmehr die Ondes Martenot — und auch die Charakterisierung als „kleines Schlagzeug aus den 1930er Jahren“ ist schlichtweg falsch. Aber derartige einzelne Ungenauigkeiten sollten den potenziell Interessierten nicht abschrecken.) Das finale sechste Kapitel behandelt eingehender die groß angelegte Szene am Schluss des Films, in der ein Fest zu Ehren des Filmemachers Méliès stattfindet. Das ist denn aber noch nicht alles. Es folgt nämlich noch ein recht umfangreicher, als Anhang fungierender „Nachtrag“, der mit weiteren lesenswerten Infos aufwartet. Darin findet sich unter anderem, welche klassischen 3D-Filme der 1950er Regisseur Scorsese seinem Team zur Inspiration vorführte: Neben dem bereits erwähnten Hitchcock handelte es sich dabei um House of Wax • Das Kabinett des Professor Bondi (1953) und um die Musicalverfilmung Kiss me Kate • Küss mich Kätchen (1953), die als eine der gelungensten 3D-Produktionen der 1950er Jahre gilt.
Martin Scorsese ist nicht nur unbestritten ein intimer Kenner der Kinogeschichte, sondern zugleich ein Liebhaber der Filme der Traumfabrik der Goldenen Ära. Da erscheinen Bemerkungen glaubhaft wie: „Mein Vater hat mich als Kind oft mit ins Kino genommen. Das war ein besonderer Ort für uns, an dem wir Zeit nur miteinander verbrachten und gemeinsam bewegende Dinge erlebten“.
Alles in allem erhält der Kunde hiermit ein reizendes, nostalgisch anmutendes Souvenir zum ebenfalls nostalgischen Film, das mit vielen wertvollen Infos zu dessen Entstehung und dem Drumherum aufwartet. Eines, das sich durch sein üppiges Bildmaterial (neben Szenenfotos auch welche vom Dreh sowie Entwurfsskizzen etc.) sowie eine unübersehbare Liebe zum Detail auszeichnet — etwa bei der Konstruktionszeichnung des mechanischen Mannes im Film.
Fazit: Hugo Cabret nimmt mit auf eine Zeitreise in die Kinder- und Jugendtage des Kinos, als die Bilder nicht nur das Laufen lernten, sondern auch begannen, die Zuschauer das Träumen zu lehren. Das reizende, visuell prachtvoll umgesetzte, Hollywood-Märchen ist eine Liebeserklärung an das Kino, von vergleichbarem Charme wie Giuseppe Tornatores Cinema Paradiso (1989). Es ist angesiedelt in einem Paris der frühen 1930er, das sich wie ein Wintermärchen gibt, mit einem Gare Montparnasse, der sich geradezu als fantastisches Wunderland erweist. Es geht um die Magie der bewegten Bilder, um das Bewahren des Filmerbes und zugleich um das für das Funktionieren der Dinge so entscheidend wichtige Band zwischen den Generationen. Zwar ist es der erste Film von Martin Scorsese, der auch für ein sehr junges Publikum geeignet ist. Das Zielpublikum sind aber keineswegs nur die kleineren Leute, sondern die jeden Alters, welche sich ein Herz für Märchenhaftes um das klassische Kino bewahrt haben.
Die Cinemusic.de-Präsentation vereint dazu das essenzielle dem Interessierten zu Martin Scorseses aktuellem Leinwandprojekt derzeit zur Verfügung stehende Material: Den in drei Ausgaben technisch vorzüglich auf Discs präsentierten Film — 3D-Blu-ray-Tripel-Deluxe-Set, 2D-Blu-ray + DVD sowie DVD-Edition — gesellen sich das feine Filmmusikalbum sowie die beiden Buchpublikation von Brian Selznick hinzu: der ungewöhnliche, als ein Film im Buch, anzusehende Roman „Die Entdeckung des Hugo Cabret“ und das, für den echten Liebhaber des Films wohl kaum verzichtbare, überaus liebevoll produzierte und zugleich sehr informative „Hugo — Der neue Film von Martin Scorsese“.
Wer sich jemals gefragt hat, wo die Kino-Träume herkommen, der schaue sich Martin Scorseses neuesten Film in 3D an: Denn dort werden sie gemacht!
Zur Erläuterung der Wertungen lesen Sie bitte unseren Hinweis zum Thema „Blu-ray-Disc versus DVD“.
© aller Logos und Abbildungen bei Paramount Pictures. (All pictures, trademarks and logos are protected.)
Mehrteilige Rezension:
Folgende Beiträge gehören ebenfalls dazu: