Hollywood in Canne$: Die Geschichte einer Hassliebe

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
10. Mai 2010
Abgelegt unter:
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Auch am französischen Cannes ist die Krise nicht ganz spurlos vorübergegangen. Aber trotzdem dürfte auch 2010 das berühmte und zwischenzeitlich auch bedeutendste Filmfestival an der malerischen Côte d’Azur mit dem üblichen glamourösen Theater — zum 63. Mal — eröffnet werden. Präsident der Jury ist dieses Mal Regisseur Tim Burton. Am 12. Mai wird Ridley Scotts neues Blockbusterspektakel Robin Hood das bis zum 23. Mai angesetzte Rennen um die „Goldene Palme“ und weitere zu vergebende Preise einleiten.

Christian Jungen (•1973), Filmkritiker mit dem Spezialgebiet Filmmarketing ist letztlich dank dieses Buches — seiner Dissertationsschrift — promovierter Filmwissenschaftler. Als Journalist (derzeit Redakteur bei der Neuen Zürcher Zeitung „NZZ am Sonntag“) berichtet er seit Jahren von verschiedenen Festivals wie Cannes, Berlin und Venedig. Jungen ist außerdem Mitglied der Schweizer Filmakademie und Jurypräsident der „Schweizer Filmperle“. Mit dem vorliegenden Band hat er eine, sich für einen wissenschaftlichen Text, unerwartet flüssig lesbare Bestandsaufnahme des mittlerweile größten Filmfestivals der Welt vorgelegt. Jungen wirkt dabei erfreulich bodenständig, wohl auch, da er keineswegs ein fanatischer Verächter des Unterhaltungskinos mit Breitenwirkung ist. In einem Interview im Zürcher „Tages Anzeiger“ (s. u.) gab er Interessantes zum offenbar äußerst hierarchisch organisierten Cannes-Festival zum Besten. Dort zählt Jungen keineswegs zur Top-Riege derjenigen, welche die besonders begehrten weißen Pressebadges (das sind kleine Brustbeutel für Presseausweise, Akkreditierungen etc.) erhalten, diese bleiben den mitunter berüchtigten Kritikerpäpsten vorbehalten. Alle niederen Normalsterblichen werden offenbar streng nach Farben rosa, blau, orange etc. eingestuft und haben dann auch entsprechend abgestufte (Zutritts-)Rechte. Ob diese Buntheit auch beim Essen von Bedeutung ist, darüber ist leider nichts zu lesen.

Einen dezenten Hinweis auf das keineswegs Trockene, ja häufiger Augenzwinkernde in der insgesamt sehr frischen Lektüre gibt bereits das $-Zeichen im Buchtitel. Hier wird darauf angespielt, dass Cannes schon frühzeitig nicht nur der Ort des gehätschelten elitären Autorenkinos und sonstiger Cineasten gewesen ist, sondern eben auch eine Werbe- und Geschäftsstelle der internationalen Filmcompanies.

Beginnend mit dem Gründungsjahr 1939 in dem Disneys Schneewittchen und die sieben Zwerge eine gewichtige Rolle spielte, schlüsselt der Autor die wechselvolle Geschichte des Festivals und seine Ambivalenz gegenüber Hollywood bis zur Gegenwart auf. In sechs Kapiteln, von „Das Festival als Förderstätte der Nationalkulturen, 1939-1968“, über die Bedeutung der Stars und des Autorenkinos, von New Hollywood zum modernen Blockbusterkino bis hin zu „Veni, Vidi ‚Vinci’: The Da Vinci Code knackt die Kritik“ präsentiert Christian Jungen seine aufschlussreiche Analyse. Sorgfältiges Quellenstudium und Auswertung bislang unveröffentlichten Archivmaterials sowie diverse Interviews lieferten ihm dafür die Basis.

Der Autor präsentiert zum Teil originelle Anekdoten zusammen mit Sachverhalten und unterzieht diese einer eingehenden Betrachtung unter dem Aspekt des Filmmarketings. Dabei passieren auch wichtige Teile der Filmgeschichte auf ungewöhnliche Art gespiegelt nochmals Revue. Neben dem Eindruck vom Auf und Ab der kulturell konfliktreichen Beziehung zwischen den USA und Europa infolge der letztlich fruchtbaren Kontroverse „Kunst-versus-Kommerz“, entsteht so zugleich eine beeindruckende Ökonomiegeschichte Hollywoods. Dabei tritt auch die aus dem 2. Weltkrieg resultierende Dominanz der Hollywoodstudios geschärft ins Bewusstsein. (Wie bereits Kevin Brownlow in seinem Standardwerk „Pioniere des Films: Vom Stummfilm bis Hollywood“ schreibt, hatte Europa mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus in Deutschland endgültig die Chance verspielt, eine Konkurrenz zu Hollywood zu werden.)

Dass Jungens Text nun keine hochgestochene, ausschließlich für Spezialisten geeignete Studie ist, hat der aufmerksame Leser bereits aus dem vorstehend Geschriebenen registriert. Im Gegenteil: Die Mischung aus sich unterhaltsam lesendem Insiderwissen und vielschichtig ausgeleuchteter analytischer Betrachtung funktioniert insgesamt sehr gut, auch weil es dabei nie zu abstrakt wird. So liest man unter anderem mit Schmunzeln von manchem Skandal der frühen Jahre oder auch von den legendären feuchtfröhlichen Partys, welche die Russen während des Kalten Krieges ganz gezielt steigen ließen, um der US-Konkurrenz zu schaden. Wodka und Kaviar warf man in die ideologische Schlacht, um möglichst große Publikumsteile vom Besuch der parallel gezeigten US-Filme abzuwerben.

Ein kleiner Dämpfer im Kanon des grundsätzlich Positiven sei allerdings nicht verschwiegen: Sämtliche eingestreuten Zitate sind etwas unglücklich, nämlich ausschließlich in der jeweiligen Sprache wiedergegeben. Wer also nicht über gerüttelte Kenntnisse in Französisch und auch Italienisch verfügt, steht zwischendrin immer mal wieder kurzzeitig auf dem Schlauch.

Davon abgesehen liefert der Band höchst interessanten und zugleich weitgehend kurzweiligen Lesestoff. Wie funktionieren Filmfestivals? Was macht ihre Bedeutung für Filmschaffende, Medien und Konsumenten eigentlich aus? Dass es hierbei letztendlich ums Geschäft geht, ist zwar eine Binsenweisheit, aber die vorliegende Publikation macht hierzu am Beispiel von Cannes vieles greif- und damit begreifbarer. Es wird aber ebenso deutlich, wie sehr sich die Betrachtung von Filmen und damit die Art und Weise ihrer Rezeption und Interpretation im Laufe der Zeit verändert haben. Was wiederum zeigt, dass der Kontext entscheidend dazu beiträgt, wie der Text verstanden wird. Das ist zwar keine grundsätzlich neue, aber eine besonders wichtige Erkenntnis. Überhaupt erscheinen bei der Lektüre weitere eher geläufige Fakten zur Psychologie beim Thema Marketing in teilweise anderem Licht. Es zeigt sich (einmal mehr), wie wenig objektiv die über Emotionen so leicht manipulierbare Spezies Mensch letztlich ist.

Cannes erweist sich daher für das Hollywood unserer Tage als die geradezu perfekte PR-Bühne. Hier werden die heutzutage in ganz besonderem Maße ins Rampenlicht gerückten Stars „gemacht“ oder auch demontiert, können bislang weitgehend Erfolglose aufgepäppelt werden. Die dafür erforderliche Journaille ist mit über 4000 Akkreditierten bereits komplett vertreten. Nur Fußball-WMs oder Olympische Spiele vermögen eine derartig massive Medienpräsenz noch zu toppen. Dies erspart den Studios nicht nur die erheblichen Kosten, die eigene PR-Veranstaltungen verursachen würden. Das Festival bildet darüber hinaus eine geradezu optimale Werbeplattform. Alles, was in einem derartigen Rahmen stattfindet, erscheint ja (zumindest auf den ersten Blick) als in einem objektiveren und damit seriöseren Rahmen ablaufend. Ihm haftet nicht in vergleichbarem Maße der Geruch einer PR-Veranstaltung an, bei der die geladenen Medienvertreter mit üppigen Buffets und sonstigen Belustigungen „bei Laune gehalten“ werden.

Der am Schluss breit ausgeleuchtete Fall von The DaVinci Code unterstreicht dies besonders eindrucksvoll. Zwar spielten beim inszenierten Rummel um den an sich eher uninspiriert umgesetzten Religionsthriller im Vorfeld der Premiere ein großes Werbebudget und ebenso die Bestseller-Buchvorlage eine zweifellos wichtige Rolle. Allerdings gelang Sony zusätzlich das bislang so noch nicht da gewesene Kunststück, die Weltpremiere in Cannes vom „inszenierten Ereignis“ zum „Ereignis der medialen Darstellung“ zu steigern. Das Resultat: Ein Kassenerfolg erster Güte, dem auch die durchweg eher verrisshaften Kritiken (übrigens auch an der PR-Präsentation) nichts mehr anhaben konnten (!) — was wiederum die alte Weisheit so überzeugend belegt, dass der Tageserfolg über den Wert einer Sache wenig bis gar nichts aussagt.

Eine perfekte Show, für welche gerade das mittlerweile zur Mammutveranstaltung gewordene „Festival von Cannes“ mit seinem zugehörigen Brimborium eine ideale Plattform bietet, ist also offenbar bereits das halbe Leben. Auch das wiederum ist zwar nun keinesfalls grundsätzlich neu, aber ist es nicht immer wieder sowohl erfrischend wie auch lehrreich dies aufs Neue bestätigt zu finden?

Ergänzender Link:

Christian Jungen im Interview des Zürcher „Tages-Anzeiger(s)“, 2009: „Wie Sharon Stone in Cannes zur Sexbombe wurde“

Erschienen
2009
Seiten:
368
Verlag:
Schüren Verlag, Marburg
Kennung:
978-3-89472-521-0
Zusatzinfomationen:
€ 29,90 (D)

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