Der Klassik-Tipp: Leonard Bernstein zum 100sten, Nr. 2

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
11. Dezember 2018
Abgelegt unter:
Klassik

Der Klassik-Tip: Leonard Bernstein zum 100sten, Nr. 2

Zwei Jubiläumsgaben von Warner Classics

Im Jahr des ganz großen Bernstein-Jubiläums lassen sich neben Universal Music auch andere Anbieter nicht lumpen. So hat Warner Classics dazu zwei interessante Sets im Angebot. Da ist die Neueinspielung der drei Sinfonien unter Claudio Pappano (trotz des italienisch klingenden Namens gebürtiger Brite, aufgewachsenen im amerikanischen Connecticut) mit dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia im Doppel-CD-Set. Hinzu kommt eine 7 CDs umfassende Box welche sich dem legendären Interpreten widmet und sämtliche französischen Aufnahmen Bernsteins zusammenfasst.

„Symphonien 1–3, Prelude, Fugue and Riffs

In den Jahren, nachdem er seinen Chefdirigentenposten bei den New Yorker Philharmonikern aufgegeben hatte, begann sich Bernstein in zunehmendem Maße für die europäischen Zentren der klassischen Musik zu begeistern. Zu den von ihm besonders geschätzten Klangformationen gehört auch das Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia, welches er diverse Male dirigierte und dessen Ehrenpräsident er von 1983–1990 war. Für Claudio Pappano, seit 2005 Chefdirigent des römischen Orchesters, war es daher eine Verpflichtung, im Bernstein Jubiläumsjahr die drei groß angelegten Sinfonien des Amerikaners aufzuführen. Das Doppel-CD-Album entstand aus den Mitschnitten dieser Live-Konzerte.

Die drei Sinfonien zählen zweifellos zum Persönlichsten im Œuvre Bernsteins. Neben Reflexionen auf die jeweilige Entstehungszeit sind seine jüdische Identität und auch die Herkunft als Spross einer Familie, die auf eine lange Rabbiner-Tradition zurückblickte, besonders prägend. Das Trauma des 2. Weltkriegs spiegelt sich indirekt im sinfonischen Erstling „Jeremiah“ in den Klagen des jüdischen Propheten. Aus diesen wird im Finale in überaus bemerkenswerter Weise, nämlich völlig abseits der strengen orthodoxen jüdischen Tradition, von einer Frau vorgetragen. In der 3. Sinfonie „Kaddish“ bildet das bekannteste der jüdischen Gebete den Hintergrund. Eher indirekt ist es ein Totengebet, welches in Bernsteins Sinfonie sogar, geradezu paradoxerweise, zur teilweise heftigen Auseinandersetzung mit dem Allmächtigen wird. Die 2. Sinfonie, betitelt „The Age of Anxiety“, ist nur auf den ersten Blick ein Stimmungsbild ihrer Zeit, inspiriert von einem romanhaften Gedicht W. H. Audens, bei dem das Klavier die tragende Rolle spielt. Aber selbst sie findet im Epilog zur Religiosität zurück in den einführenden Worten Bernsteins: „So viel wird deutlich: Nur der Glaube bleibt.“

Im Ausdruck ist man hier weitab von der Unmittelbarkeit der „West Side Story“. Entsprechend etwas mühsamer gestaltet sich der Einstieg in diese Kompositionen. Am schwierigsten bleibt dabei die 3. Sinfonie, bei welcher bereits der Einsatz eines Sprechers zuerst viele Hörer irritiert, wobei bereits der Text an sich Bernstein nie richtig befriedigt hat – siehe hierzu auch die bemerkenswerte Einspielung vom Lucerne Festival mit der neuen Textfassung von Samuel Pisar. Dem Geduldigen offenbart sich neben der Bandbreite des handwerklich äußerst versiert verarbeiteten Materials zugleich das Meisterliche, welches letztlich auch in der eleganten stilistischen Gratwanderung auf faszinierende Weise deutlich wird.

Pappano und das römische Orchester liefern souveräne und zugleich sehr leidenschaftliche, mit viel Elan ausgespielte Interpretationen und werden dabei auch von den Solisten vollauf unterstützt. Die junge Pianistin Beatrice Rana brilliert auch in den schwierigsten Passagen der 2. Sinfonie. Josephine Barstow geht in „Kaddish“ in der Zwiesprache mit dem Allmächtigen außergewöhnlich heftig und zornig zur Sache. Die Mezzosopranistin Marie-Nicole Lemieux deklamiert die Klagen des Propheten Jeremiah in glaubhaft verzweifeltem Tonfall. Ihr Gesang ist dabei allerdings teilweise in den Höhen etwas sehr scharf, fast schon rauh und dezent überschnappend. „Prelude, Fugue and Riffs“ für Klarinette und Jazz-Combo bilden eine kurze, aber schmissig musizierte Zugabe mit Alessandro Carbonare als kompetentem Solisten.

Die Tontechnik hat sowohl die transparent gehaltenen Passagen als auch die mitunter wuchtig ausfallenden Steigerungen überzeugend plastisch und natürlich klingend eingefangen. Live-Geräusche bleiben dabei erfreulicherweise marginal.

 „An American in Paris“ (7-CD-Set)

Auf sieben CDs sind die Einspielungen (Live- sowie Studioaufnahmen) versammelt, welche Bernstein in den Jahren 1975–79 mit dem in Paris beheimateten Orchestre National de France realisiert hat. Untergebracht sind die Datenträger in einfachen, aber soliden Papptaschen, versehen mit, soweit machbar, Original-Front-Cover-Motiv, Tracklisting auf der Rückseite und aufbewahrt in einer klappbaren Pappkassette, welche außerdem noch mit einem netten 24-seitigen Begleitheft aufwartet. Davon sind viereinhalb CDs mit dem Material von fünf LPs aus dem EMI-Katalog bestückt, wobei das gesamte Bandmaterial für diese Neuveröffentlichung vom Art & Son Studio, Annecy, mit 24 Bit/96 kHz-Technik aufpoliert worden ist. Hier gibt’s Bernsteins letzte Hector-Berlioz-Einspielungen, die „Symphonie fantastique“ sowie „Harold in Italien“ (mit Donald McInnes, Viola) in mitreißenden Einspielungen zu hören. Relative Bernstein-Raritäten bilden dabei die ebenso überzeugend, nämlich mit ausgeprägtem Sinn für Klangfarben und Rhythmik dargebotenen Aufnahmen von Werken von Darius Milhaud. Das besonders farbige „Saudades do Brasil“ ist leider nur in Auszügen vertreten. Bei „La création du monde“ handelt es sich sogar um Bernsteins einzige verfügbare Stereoeinspielung des Stücks.

Die Hauptattraktion bilden allerdings die auf den übrigen zweieinhalb CDs befindlichen, vom öffentlich-rechtlichen französischen Rundfunk-Archiv INA klangtechnisch ebenfalls sehr sorgfältig aufbereiteten Rundfunkmitschnitte, welche erfreulicherweise den vorzüglichen Studioeinspielungen qualitativ kaum unterlegen sind. Davon hinterlassen gerade die Ravel-Stücke, nicht zuletzt die ausdruckstark interpretierte „Shéhérazade“ mit der unvergesslichen Marilyn Horne einen besonders nachhaltigen Eindruck, etwas, das sicher auch durch die zusätzlich vorhandenen, insgesamt rund 33 Minuten umfassenden Probenausschnitte mit unterstrichen wird. Selbst wenn man, wie der Rezensent, Französisch kaum versteht, so überträgt sich doch auch so die von Bernstein erzeugte Atmosphäre und nimmt positiv mit. Darüber hinaus sprechen die zur Konzertaufführung immer unüberhörbar begeisterten, zum Bolero sogar frenetisch jubelnden Ovationen des Publikums für sich. Hier und da hört man dabei auch mal die eine oder andere im Vergleich mit vielen anderen Interpretationen ungewöhnlich akzentuierte Passage, aber dieses bernsteintypische Phänomen ist schlichtweg interessant und tut dem vorzüglichen Gesamtergebnis keinen Abbruch.

Fazit: Auch Warner Classics hat zum großen Bernstein-Jubiläum zwei willkommene Sets im Angebot. Das besonders preiswerte 7-CD-Set mit dem originellen Titel „Ein Amerikaner in Paris“ gibt Gelegenheit, den legendären Dirigenten als Gast in der französischen Metropole in den Jahren 1975–79 zu studieren. Wer bei Lennys Kompositionen erst einmal schnuppern möchte, der sollte sich die Neueinspielung der drei Sinfonien unter Pappano gönnen. Wer anschließend überlegt vielleicht doch noch zum Universal-Box-Set zu greifen, für den kann das Doppel-CD-Set zur interessanten Ergänzung werden. Pappano, der zweifellos Bernsteins Darstellungen im Ohr hat, geht in seinen ebenfalls leidenschaftlichen und spielfreudigen Interpretationen nämlich in diversen Details spürbar anders, etwa im gewichtigeren Duktus europäisierter an die Dinge heran.

Lesen Sie hierzu auch „Der Klassik-Tipp: Leonard Bernstein zum 100sten, Nr. 1“.

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