Der Klassik-Tipp: Leonard Bernstein zum 100sten, Nr. 1

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
20. November 2018
Abgelegt unter:
Klassik

Das luxuriöse DG-Universal-Music-Box-Set inkl. zwei Ergänzungen

Geht es um Leonard Bernstein (1918–1990) als Komponist, dann greift im kollektiven Gedächtnis schon der Begriff des Ein-Werk-Komponisten. Sein Name ist nämlich in erster Linie mit dem berühmten Musical „West Side Story“ verknüpft. Daran ändert sich auch kaum etwas, wenn man ergänzend hinzufügt, dass über etwa das letzte Vierteljahrhundert noch ein kurzes, zündendes Orchesterstück, die Ouvertüre zu „Candide“ ebenfalls in den hiesigen Konzerten heimisch geworden ist. Ansonsten ist der Name Leonard Bernstein in erster Linie mit der Position des Dirigenten in vergleichbarem Maße verknüpft wie der Herbert von Karajans. Die Karrieren dieser beiden Vollblutmusiker haben einiges gemeinsam, sie wären nämlich ohne die modernen Massenmedien – neben Radio und Fernsehen auch die Tonträger – kaum denkbar. So gibt es von Bernstein (wie auch von Karajan) eine Fülle von Einspielungen, mit denen auch Interpretationsgeschichte geschrieben worden ist. Darüber hinaus hat Bernstein im englischen Sprachraum insbesondere mit seiner TV-Reihe „Young People’s Concerts“ als Musikpädagoge gewirkt und mehreren Generationen klassische Musik auf unverwechselbare Art und Weise, amüsant und lehrreich zugleich, näher gebracht.

Der Sohn jüdischer Einwanderer aus der heutigen Ukraine, der 1918 in Lawrence, Massachusetts, geboren wurde, inszenierte sich als umgängliche, charismatisch strahlende Persönlichkeit. Zugleich war er jedoch zutiefst zerrissen zwischen seiner geradezu phänomenalen Karriere als Dirigent, dem Komponistendasein und beruflichen wie privaten Krisen. Bernstein war zudem niemand, der von sich selbst allzu überzeugt war, sondern wurde vielmehr häufig von Selbstzweifeln geplagt.

Neben einer Reihe von Frühwerken für kleine Besetzungen hatte er auch die erste seiner drei Sinfonien „Jeremiah“ bereits fertiggestellt, als ein grippaler Infekt Bruno Walters dazu führte, dass der junge Bernstein im Jahr 1943 für ihn einspringen musste und in der Carnegie Hall einen geradezu phänomenalen Debuterfolg hinlegte – der noch dazu live im Radio übertragen wurde. Das war seinerzeit nicht nur völlig unerwartet, sondern zugleich geradezu unerhört. Die New Yorker Philharmoniker sind nicht nur das älteste (im Jahr 1843 gegründete) Sinfonieorchester der USA, sondern das amerikanische Musikleben befand sich damals noch fest in der Hand erfahrener europäischer Taktstockmaestri, sämtlich in schon eher gesetzterem Alter befindlich, wie Fritz Reiner oder Bruno Walter. Und dann kommt ein amerikanischer (!) Jungspund und vermag ein anfänglich eher etwas enttäuschtes/reserviertes Publikum unmittelbar mitzureißen und zu begeistern. Damit war der Weg Bernsteins zur amerikanischen Ikone geebnet. Im Jahr 1958 wurde er Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker, und, da er auch berühmte alte Herren vom Fach wie Wilhelm Furtwängler oder Arturo Toscanini stark beeindruckte, trug dies auch beträchtlich zur Stärkung des musikalischen Selbstbewusstseins der USA bei. Dieser Posten ließ ihm in den Folgejahren allerdings kaum mehr Zeit, seinem Bestreben als Komponist bedeutender Werke nachzugehen. Um diesem Mangel abzuhelfen, trat er im Jahr 1969 für die Fachwelt überraschend von diesem Amt zurück. Bis dahin hatte er bereits rund 200 LPs für CBS (heute Sony) eingespielt, u.a. einen inzwischen legendären Mahler-Sinfonien-Zyklus. Ab der zweiten Hälfte der 1970er engagierte er sich dann in zunehmendem Maße in Europa und spielte ab 1975 viele auch seiner eigenen Werke nochmals in erster Linie für die Deutsche Grammophon und in aller Regel mit dem Israel Philharmonic Orchestra ein. Dass er live oder im Studio vor dem jeweiligen Orchester regelmäßig geradezu exzentrisch, nämlich im Übermaß wild gestikulierend und mit akrobatischen Körperverrenkungen den Takt geschlagen haben soll, ist zumindest maßlos übersteigert, aber zugleich ein wohl nur schwer ausrottbarer Teil der Bernstein-Legende.

Bernsteins Welterfolg: „West Side Story“

Bernstein besaß den Ehrgeiz, als Schöpfer ernsthafter Musik und nicht zuletzt einer großen dramatischen amerikanischen Oper in Erinnerung zu bleiben. „Wissen Sie, was mich wirklich fertigmacht? Man wird sich meiner nur erinnern als des Mannes, der die ‚West Side Story‘ schrieb!“, so hat sich Leonard Bernstein in seinen späten Jahren mal auf einer Party geäußert. Dabei ragt „West Side Story“ als eine bis dahin unerhört drastisch-lebensnahe Zeit- und Milieuschilderung weit aus der Masse des bis dahin Üblichen heraus und bildet in der Entwicklung des amerikanischen Musicals einen großen Meilenstein. Während die Musicals traditionell fast ausschließlich leichte Komödien, gelegentlich auch mal mit ironischen Untertönen versehen waren, ragt „West Side Story“ geradezu als ein „Broadway-Musikdrama“ heraus, auch wenn Jerome Kerns „Show Boat“ (1927) als das erste „ernste“ Musical (Musical Play) angesehen wird und beispielsweise „South Pacific“ (1948) bereits Rassendiskriminierung thematisiert. Am Schluss gibt es kein Happy End, sondern vielmehr drei Tote: das war im Jahre der Uraufführung gelinde gesagt außergewöhnlich. Hier ist eine Tragödie nach klassischem Vorbild, eine Variante des Shakespeare’schen Romeo-und-Julia-Stoffes in ein amerikanisches Setting verlegt. Die vertraute dramatische Geschichte um das berühmte Liebespaar aus zwei miteinander verfeindeten Familien wurde geschickt aktualisiert und reflektiert zeitkritisch die Auseinandersetzungen rivalisierender New Yorker Jugendgangs jener Jahre. Dabei wird im Konflikt der puerto-ricanischen „Sharks“ mit den weißen „Jets“ zugleich dem alltäglichen US-Rassismus Gesicht verliehen.

Die Dialogpassagen korrespondieren bei „West Side Story“ mit den Song- und Tanzeinlagen derart elegant, dass man von bruchlos ineinander übergehen sprechen kann. Unter ihrer unmittelbar mitreißend swingenden und rhythmisch scharf und feurig gehaltenen Oberfläche ist die Musik darüber hinaus äußerst raffiniert mit Stilelementen klassischer Konzertmusik durchsetzt und aufgepeppt. Neben einer Fuge inklusive Zwölftonreihe im Free-Jazz-Gewand in „Cool“ findet sich Kontrapunktik in den Ensembles, und im Finale (auch in der ausgekoppelten Orchestersuite „Sinfonische Tänze“) werden „Maria“ und „Somewhere“ zusammengeführt und mit der auf das Wort Somewhere gesungenen Zweiton-Phrase verlischt einfühlsam die Musik und entlässt den Zuschauer wieder in die Realität. Insbesondere durch die Verfilmung von Robert Wise und Jerome Robbins aus dem Jahr 1961 mit ihren 10 eingeheimsten Oscars ist West Side Story endgültig zum Welterfolg mit Klassikerstatus avanciert.

Wirklich nur ein Ein-Werk-Komponist?

Doch hat Leonard Bernsteins Schaffen als Komponist darüber hinaus wirklich nichts Wesentliches mehr zu bieten? Auf nahezu perfekte Art und Weise hilfreich bei der Beantwortung dieser Frage ist das seit dem Wonnemonat Mai erhältliche, besonders liebevoll und ambitioniert konzeptionierte Jubiläums-Box-Set von Universal Music, welches neben 26 CDs auch noch mit 3 DVDs aufwartet. Als Führer durch das sehr ansprechend aufgemachte Set dient das 140-seitige, dreisprachige Begleitheft. Darin finden sich neben detaillierten Infos zu sämtlichen Datenträgern ein Vorwort von Craig Urquhardt (langjähriger Assistent Bernsteins) sowie ein die Hauptwerke des Komponisten anreißender Text über siebeneinhalb Seiten von Nigel Simeone, der immerhin als Orientierungshilfe dienlich ist. Dabei ist man auch so ehrlich einzuräumen, dass das Box-Set nicht jede von Bernstein komponierte Note enthält, sich das „complete“ vielmehr auf die verlegten also publizierten Werke bezieht. Um diesem Anspruch zu genügen, wurden bereits im Vorfeld des Bernstein-Jubiläums einzelne Einspielungen angegangen, etwa der „Mass“ (2015 unter Yannick Nézet-Séguin) oder der Werke für Klaviersolo (2017, interpretiert von Katie Mahan, Maki Namekawa, Dennis Russell Davies & Andrew Cooperstock). Darüber hinaus hat man in der Tiefe des riesigen, unter dem Universal-Logo zusammengefassten Label-Archivs nach zu hebenden Schätzen geforscht. Eine Reihe von Produktionen ist von anderen Labels hinzugekauft worden, z.B. die vom Dirigenten Alexander Frey rekonstruierte, praktisch unbekannte Bühnenmusik zu „Peter Pan“ – erschienen erstmalig 2005 bei Koch-Media.

In einem stabilen Karton mit abnehmbarem Deckel befinden sich sämtliche Datenträger in soliden Papptaschen, deren Frontseite erfreulicherweise jeweils die originale Coverabbildung ziert. Einen guten Eindruck von der edlen Aufmachung vermittelt der Werbe-Trailer. Das hierzu konkurrierende Sony-Columbia-Set „Bernstein the Composer“ ist bereits zuvor, im August 2017, erschienen. Im Umfang des Gebotenen belegt es klar den zweiten Platz, fehlen doch insbesondere die späteren Kompositionen. Dafür bekommt man bei Sony alles vom jungen Komponisten/Dirigenten selbst interpretiert. Zweifellos ist es interessant, die frühen mit den späten Dirigaten Bernsteins miteinander zu vergleichen. Allerdings halte ich gelegentlich zu lesende allzu pauschal abwertende Äußerungen zu seinen späteren Dirigaten für maßlos übertrieben und daher unhaltbar. In den späteren Interpretationen ist manches zwar schon etwas abgeklärter dargestellt, allerdings kann hier weder von fehlender Tiefe im Ausdruck noch von mangelndem Elan die Rede sein.

Wenn es um Bernsteins Musik geht, dann ist auch immer wieder (meist zumindest dezent naserümpfend)  vom unüberhörbaren Eklektizismus die Rede. Dies ist ein Thema, welches auch dem, der sich eingehender mit Filmmusik beschäftigt, gut geläufig ist und welches durch den oftmals mitschwingenden elitären Konservativismus abendländischer Musikbetrachtung durchaus das Zeug zum Reizthema besitzt. Bernstein hat dazu m.E. sehr treffend bemerkt: „Jeder, der sein Ohr am Puls seines Landes hat, reflektiert dieses Land. Und wenn man aus so einem bunt gemischten und pluralistischen Land kommt, dann ist die Reflektion entsprechend selbst eklektisch. Was es dann bei jedem Komponisten zusammenhält, ist seine persönliche Stimme, die es immer gibt. Sie macht aus dem Wort „eklektisch“ ein wunderschönes Wort.“ Auf den Punkt gebracht gehört damit Eklektizismus geradezu zur DNA des amerikanischen Komponisten – und auf etwas andere Art auch zum Handwerk des Filmkomponisten. Wenn sich stilistische Vorbilder so originell und in versierter Machart in den Werken spiegeln, dass daraus eine originelle Synthese resultiert, wie zumeist bei Leonard Bernstein, dann hat das doch etwas. Ich plädiere daher dafür, Leonard Bernstein, der im Übrigen die zeitgenössische Musik doch weder verachtet noch in seinen Konzertprogrammen ausgeklammert hat (z.B. Edgar Varèse), mit seinem inspirierten Eklektizismus als einen Wegbereiter der Postmoderne aufzufassen.

„West Side Story“ zwischen Oper und Musical

Bernstein, der in seiner „West Side Story“ immer mehr sah als „bloß“ ein Musical, unterstreicht mit der im Set vertretenen 1985er Studioproduktion, realisiert mit Opernstars wie Kiri Te Kanawa (Maria) und José Carreras (Tony), wie opernnah diese Musik zu interpretiert werden verträgt, auch wenn José Carreras durch seinen spanischen Akzent die Rolle des Anführers der „Jets“ schon ein wenig konterkariert. Um eines vollendeten dramatischen Ausdrucks willen werden in der Oper Teenager-Figuren (z. B. Madame Butterfly) ja generell mit erfahrenen und daher rein altersmäßig unpassenden Kräften besetzt. Nach meinem Empfinden funktioniert dies auch beim Sonderfall „West Side Story“. Auffällig ist in der 1985er DG-Einspielung aber auch der sattere Klang der deutlich größer besetzten Streichersektion. Bernstein, der übrigens keines seiner Musicals am Broadway selbst dirigierte, sah sich bei der Studioproduktion eben auch von den Einschränkungen des Musicalbetriebs und damit den für nur ca. 30 Instrumentalisten ausgelegten Orchestergräben der Broadwaytheater befreit. Die daraus gegenüber der Broadway- wie auch der Filmversion resultierenden Akzentverschiebungen machen Bernsteins Studioeinspielung auf ihre Art letztlich ähnlich reizvoll wie etwa die von jugendlichen Kräften mit viel Esprit interpretierte, weltweit besonders geläufige 1961er Filmversion.

Ehedem auf zwei CDs verteilt, präsentiert sich die trotz diverser negativer Kritiken beim Publikum besonders erfolgreiche Einspielung des Musicals jetzt komplett auf einer einzelnen CD. Eine zweite CD gibt’s aber trotzdem dazu, und diese wartet mit feinen orchestralen Zugaben auf: einer Suite aus dem Musical für Bläserensemble sowie zweimal die „Sinfonischen Tänze“, dirigiert vom Komponisten bzw. von Michael Tilson Thomas. Nicht zu vergessen das bemerkenswerte „Making of“, welches als DVD ebenfalls im Set enthalten ist. Dies ist das erste Beispiel für die zu diversen Werken zu findenden Beigaben, welche das Universal-Bernstein-Jubiläums-Set zusätzlich attraktiv machen.

Bernsteins weitere Musicals und seine Opern

Auch die frühen Musicals „On The Town“ (1944) und „Wonderful Town“ (1953), beides rasante komödiantische Liebeserklärungen an New York, sind in jedem Fall eine Entdeckung wert. Auch hier gibt’s nämlich elegant swingende US-Großstadtsounds in Kombination mit diversen unmittelbar eingängig süffigen Melodien, wobei einige Nummern im Stil an die britischen Operetten von Gilbert & Sullivan angelehnt sind. Hitpotential besitzt dabei aus „On The Town“ der Song „New York, New York“ (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Song aus dem wiederum gleichnamigen Martin-Scorsese-Film New York, New York aus dem Jahr 1977), welcher insbesondere durch Frank Sinatras Interpretation in Stanley Donens charmanter MGM-Verfilmung On the Town * Heute geh’n wir bummeln (1949) unter Kennern geläufig ist.

„On the Town“ ist sogar in zwei Versionen im Set enthalten: Zum einen in den aus dem Uraufführungsjahr stammenden Auszügen (rund 20 Minuten), veröffentlicht ehedem auf Decca, und zum anderen in der von Michael Tilson Thomas 1978 für DG eingespielten musikalisch kompletten Version. Das kurze, aber schmissig-jazzige Ballett „Fancy Free“ (ebenfalls von 1944) – das wenig später als Grundlage für „On the Town“ diente – gibt’s interessanterweise in zwei Versionen: einmal in Bernsteins übrigens erster Plattenaufnahme als Dirigent aus dem Uraufführungs-Jahr (wiederum auf Decca) und zum Vergleich seine 1978er DG-Einspielung mit dem Israel Philharmonic. In der Decca-Version interpretiert Billie Holiday den Eröffnungssong „Big Stuff“, den Bernstein in seiner ebenfalls sehr knackig wirkenden Neueinspielung drolligerweise sogar höchstselbst singt. Die beiden zuvor genannten historischen Mono-Decca-Schätzchen aus dem Universal-Archiv klingen übrigens trotz ihrer Zugehörigkeit zur 78er-Schellack-Ära durchaus beachtlich. Diese Feststellung gilt in noch ausgeprägterem Maße für das Original-Cast-Querschnitt-Album zu „Wonderful Town“ (1953), welches im besonders klaren typischen Decca-High-Fidelity-Monosound der frühen Fifties vorliegt.

„1600 Pennsylvania Avenue“ (die Adresse des Weißen Hauses in Washington D.C.) war Bernsteins letztes Musical, welches er in den Jahren 1972–1976 komponierte. Die Show mit klarer Botschaft gegen den US-amerikanischen Rassismus kam wohl auch wg des damals begangenen 200. Jahrestags der Unabhängigkeitserklärung überhaupt nicht gut an. Das Stück wurde gar nach nur sieben Vorstellungen abgesetzt. Für Bernstein war dieser Totalflop im Verbund mit den Verrissen in der Presse besonders schmerzlich, denn in der turbulenten Vorbereitungsphase musste er Nummern zum Teil x-fach umschreiben oder auch komplett neu komponieren. Erst nach Bernsteins Tod autorisierten seine Erben eine überarbeitete, gekürzte Version unter dem Titel „A White House Cantata“, welche unter Kent Nagano vorliegt und in der in jedem Fall eine Reihe sehr schöner Nummern zu finden sind, eben nicht nur das verschiedentlich gegebene „Take Care of This House“.

„Candide“, „Trouble in Tahiti“ und ganz besonders „A Quiet Place“ zeigen letztlich nur einmal mehr, das in der Betrachtung von Bernsteins Werk die europäischen Kategorisierungen Oper und Operette nur sehr begrenzt hilfreich sind. Dabei passt Oper auf „Candide“, diese brillant komponierte Liebeserklärung des Komponisten an die europäische Musik, noch am besten. Interessanterweise entstand parallel „West Side Story“, und einzelne Nummern sind definitiv zwischen beiden Werken ausgetauscht worden. Abgesehen davon, dass es auch im Fall der meist als Operette bezeichneten „Candide“ mehrere, darunter eben auch eine Broadway-Fassung gibt, zeigt sich hieran eben auch, wie fließend im amerikanischen Musikbetrieb die Grenzen sind. Von der schmissigen Candide-Ouvertüre war ja bereits eingangs die Rede. Auch in diesem Falle wäre die „Oper zur Ouvertüre“ etwas, das man sich, trotz der auf den ersten Blick arg skurril anmutenden Handlung, auch auf den Spielplänen hiesiger Bühnen häufiger wünschen würde. Im Jubiläums-Set ist das Stück in der geradezu exemplarischen 1989er Fassung zu hören, welche der Komponist noch selbst mit exzellenter Besetzung in London realisieren konnte. Und auch dazu findet sich wiederum eine besonders feine Zugabe: Der Live-Mitschnitt einer Aufführung mit identischer Besetzung auf DVD.

Die Bezeichnung schräg trifft (zumindest auf den ersten Blick) auch auf „A Quiet Place“ zu, ein Stück, das in Pultstars wie Kent Nagano gewichtige Fürsprecher besitzt (s.u.). Hier bildet die US-Vorstadtidylle den Hintergrund für die Traumata einer amerikanischen Familie aus dem Mittelstand. Im Rahmen einer Trauerfeier brechen alte Wunden auf und lange Verdrängtes kommt an die Oberfläche, wobei Homo- bzw. Bisexualität und Inzest für das prüde amerikanische Premieren-Publikum besonders schwer zu verdauen waren. Bemerkenswerterweise ist das Stück eine Fortsetzung von Bernsteins erster „Oper“, dem satirischen Einakter „Trouble in Tahiti“ aus dem Jahr 1952, welche ausgeprägt Nähe zum Broadwaymusical und zugleich zu Hollywood aufweist.

In der ersten Version, der „Houstoner Fassung“ aus dem Jahr 1983, wurden übrigens „A Quiet Place“ und „Trouble in Tahiti“ zusammen am selben Abend aufgeführt. Im Set findet sich dazu ein Live-Mitschnitt der dritten, „Wiener Fassung“ von 1986, in welcher „Trouble in Tahiti“ als Rückblende in den zweiten Akt integriert ist. („Trouble in Tahiti“ ist darüber hinaus im Set noch zusätzlich in einer Einspielung des Labels MGM-Records und mit dem MGM-Sinfonieorchester vertreten.) Auch hier ist behutsames Einhören hilfreich dabei sich die nicht unmittelbar klar hervortretenden Reize dieses außergewöhnlichen, sehr modernen und experimentellen Stücks zu erschließen, in dem mitunter harsche, ruppige Klangballungen, feinst nuanciert vorüberhuschende Klangmuster und verblüffend lyrisch auskomponierte Teile scharfe Kontraste bilden. Dazu bildet die rund 20-minütige Orchestersuite aus der Oper, gespielt vom London Symphony Orchestra unter Michael Tilson Thomas, an dieser Stelle eine weitere hochwillkommene Zugabe, die sich zugleich als vorzügliche Hilfestellung zum Einstieg in dieses komplexe Werk erweist. Die äußerst expressive und zugleich temperamentvolle Musik ist punktuell mit 12-Ton-Passagen durchsetzt, vor allem aber rhythmisch äußerst komplex gehalten und vermag es nach etwas Eingewöhnung durchaus, stark zu beeindrucken.

Die drei Sinfonien, das Ballet „Dybbuck“ und „Mass“

Die Sinfonie Nr. 1 (1942) „Jeremiah“ reflektiert sowohl auf die Katastrophe des 2. Weltkriegs als auch auf Bernsteins jüdische Religiosität und Identität. Im Ausdruck erinnert sie in Teilen an Gustav Mahler, welchen Bernstein ganz besonders verehrt hat. Im Finale stimmt ein Mezzosopran ein, mit Texten, die an die alttestamentarischen Klagelieder des Propheten Jeremia angelehnt sind. Bernsteins Äußerung, dass „jedes meiner Stücke – ganz gleich für welches Medium – in gewisser Hinsicht Theatermusik ist“ gilt in ganz besonderem Maße für seine dritte Sinfonie, „Kaddish“, was so viel heißt wie „Gebet“. Das großangelegte Werk für Solisten, Chöre und Orchester entstand unter dem Eindruck der Ermordung von Präsident Kennedy. Es kombiniert drei rein sinfonische Teile mit drei Sätzen, in denen ein Sprecher rezitierend auftritt. Letzteres ist sicher zuerst etwas gewöhnungsbedürftig und auch die in der ersten Hälfte betont komplex, dissonant und partiell auch 12-tönig angelegte Musik erfordert mehrfaches Hören. Die zweite Sinfonie, deren Titel „The Age of Anxiety“ sich auf ein eher sperriges Gedicht gewaltigen, buchlangen Umfanges des berühmten britischen Dichters Wystan Hugh Auden bezieht, ist keine Programmmusik im herkömmlichen Sinne. Sie reflektiert vielmehr auf die wechselnden Stimmungen in Form eines ungewöhnlich anmutenden Werks, das sich mehr wie ein gemäßigt modernes Klavierkonzert anfühlt denn wie eine Sinfonie. Unter den insgesamt sechs Sätzen bildet der fünfte, der wie Audens fünftes Kapitel als “The Masque“ bezeichnet ist, ein typisch bernsteinhaftes, energiegeladenes, jazziges Scherzo. Einhören ist ebenso angesagt beim sich besonders rau und dissonant stachelig gebenden Ballett „Dybbuk“, welches beträchtliche Einflüsse aus Strawinskys „Le sacre du printemps“ für sich verbucht.

„Mass“, uraufgeführt 1971, geht über das, was man bei uns unter liturgischer Musik versteht, weit hinaus. Dieses im Aufwand fast schon monströse, in Teilen ein wenig an Mahlers 8. Sinfonie erinnernde, aber zugleich auch zahllose weitere Stilelemente von der Gregorianik bis zum Pop einbindende Werk verdient es, dass man sich ihm in Ruhe widmet. Erst wenn man sich auf dieses in Teilen allzu heterogen erscheinende „Theaterstück für Sänger, Spieler und Tänzer“ eingehend einlässt, vermag es seine ihm innewohnende kraftvolle Wirkung voll zu entfalten. Auch zur „Mass“ gibt es nicht nur eine, sondern sogar zwei edle Zugaben. Auch diese können wiederum sehr hilfreich dabei sein, sich die Musik zu erschließen: die rund 16-minütigen „Three Meditations“ für Cello und Orchester mit Mstislav Rostropovich sowie eine rund halbstündige Orchestersuite, dargeboten vom Boston Pops Orchestra unter der Leitung des legendären Arthur Fiedler.

Die zum vorstehenden Abschnitt mehrfach angemerkte Einhörarbeit ist wirklich lohnend: Sie weist den Weg zu insgesamt eindringlichen Kompositionen, denen auch in hiesigen Konzertprogrammen mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte, auch wenn sich darunter keine zweite „West Side Story“ befindet.

Darüber hinaus ist aber noch viel mehr Bernstein im Universal- Jubiläums-Box-Set …

Auf jedes der im in großer Fülle vertretenen kleineren Werke genauer einzugehen, etwa dem reizenden kleinen Kinderliederzyklus „I hate Musik“, die so charmanten wie kurzen „Anniversaries“ oder auch Bernsteins interessantes Arrangement für Solo-Piano von Coplands „El Salón México“, würde den Rahmen dieses Artikels komplett sprengen. Drum seien an dieser Stelle nur noch einige der umfangreicheren Stücke zumindest genannt, um einen Eindruck der insgesamt gebotenen Vielschichtigkeit zu vermitteln: „Chichester Psalms“, „Songfest“, „Missa Brevis“, Nocturne for Solo Flute, String Orchestra and Percussion: „Halil“, Concerto for Orchestra: „Jubilee Games“, „Prelude, Fugue and Riffs for Clarinet and Jazz Ensemble“, die Konzertsuite aus  Lennies einziger Filmkomposition On the Waterfront *  Die Faust im Nacken (1954) sowie das Violinkonzert (Serenade After Plato’s Symposium). Ebenfalls noch erwähnt zu werden, verdient die bei uns wohl eher in die Kategorie „weitgehend chancenloser Kuriositäten“ gehörende, allerdings sehr feinsinnig, kindgerecht und feenhaft auskomponierte Bühnenmusik (kein Musical) „Peter Pan“ (1950) – Infos zur interessanten Entstehungsgeschichte des Werkes finden sich im Anhang. Neben überraschend schönen Nummern, etwa dem fast schon hitverdächtigen Song „Dream With Me“, finden sich filmmusiknahe, tonmalerisch angehauchte Stücke, versehen mit einzelnen ansprechenden Mickey-Mousing-Effekten, und ebenso filmmusikalisch und balletthaft anmutende instrumentale Intermezzi. Im Song „Plank Round“ zitiert Bernstein sogar drollig die Eröffnungsphrase aus Bachs Brandenburgischem Konzert Nr. 3.

Abschließend sei aber denn doch noch auf einen besonders schmissigen Appetizer, „Slava! – A Political Overture“, hingewiesen, der sich, vergleichbar mit der ebenso unmittelbar für sich einnehmenden Candide-Ouvertüre, sowohl zur Eröffnung eines Bernstein-Konzertabends eignet, aber ebenso als Zugabe oder auch zum Einstieg in das vorliegende edle Universal-Bernstein-Jubiläums-Set. Das kurze Stück entstand 1977 für den berühmten Cellisten Mstislaw Rostropowitsch (Spitzname: Slava!), anlässlich seines ersten Konzerts als neuer musikalischer Leiter des National Symphony Orchestra of Washington. Bernstein verarbeitete darin übrigens Material seines Musical-Total-Flops aus dem Vorjahr, „1600 Pennsylvania Avenue“ (s.o.).

Und last but not least soll auch eine letzte, zum Einstimmen auf Bernstein gedachte, feine Zugabe im Set nicht unterschlagen werden: die 1993er Dokumentation „The Gift of Music“ auf DVD. Diese wartet über knapp eineinhalb Stunden mit wichtigen Informationen zu Leonard Bernsteins Werdegang und den wichtigen Stationen dieses hochinteressanten Künstlerlebens auf. Darunter befinden sich echte Raritäten in Form von Outtakes aus seinen TV-Shows und ebenso die anrührende Begegnung Bernsteins mit Dmitri Schostakowitsch auf Tournee mit den New Yorker Philharmonikern in Moskau im August des Jahres 1959.

Fazit: Das prächtig zusammengestellte und insgesamt vorzüglich klingende Universal-Jubiläums-Box-Set erweist sich nicht zuletzt auch wegen einer Reihe wertvoller Zugaben als eine geradezu perfekte und faszinierende Fundgrube für Entdeckungsfreudige. Wer hier einsteigt, dem wird rasch klar, dass der Werkkatalog des Komponisten Leonard Bernstein deutlich mehr an Gehaltvollem zu bieten hat als seinen alles Übrige gnadenlos überschattenden Klassiker, die so zeitlose wie mitreißende „West Side Story“.

weiterführende LINKs:

 

Anhang: Zwei wertvolle Ergänzungen zum Universal-Bernstein-Jubiläums-Set

„Wonderful Town“

Wer beim bereits sehr ansprechenden Original-Cast-Querschnitt zum Musical „Wonderful Town“, präsentiert in beachtlichem High-Fidelity-Decca-Mono der frühen Fifties (s.o.), auf den Geschmack gekommen ist, für den ist die erst jüngst beim Label des London Symphony Orchestras (LSO) erschienene musikalisch vollständige, rund 70 minütige Neueinspielung eine Überlegung wert. Simon Rattle und das hervorragend disponierte LSO inkl. Chor, unterstützt durch die Solisten Danielle de Niese, Alysha Umphress, Nathan Gunn und Duncan Rock, präsentierten sich in Top-Form als dieser auch technisch brillant eingefangene Live-Mitschnitt im Dezember 2017 in der Barbican Hall entstand. Das Resultat ist ein in allen von der SACD abrufbaren Tonformaten vorzüglich, jedoch in der mehrkanaligen Surround-Version ganz besonders prächtig klingendes, dabei ungemein präzise und kultiviert ausmusiziertes und zugleich vitales wie spritziges Highlight zum Bernstein-Jubiläums Jahr 2018. An Ohrwürmen wie „Ohio“, „One Hundred Easy Ways“, „A Little Bit in Love“ oder dem charmant irisch gefärbten „My Darlin’ Eileen“ kann man sich kaum satt hören.

„A Quiet Place“, (Berliner) Fassung für Kammerorchester

Mit der insbesondere für die Entstehungszeit recht radikal ausgeloteten Beziehungsthematik, gesungen in mitunter auch mal drastischem, als Operntext sehr gewöhnungsbedürftigem Umgangsenglisch, wird sicher nicht jeder auf Anhieb warm werden. Doch es ist auch in diesem Fall wiederum lohnend, sich behutsam in dieses außergewöhnliche, keineswegs rückwärtsgewandte, sondern vielmehr sehr moderne und experimentelle Stück Bernsteins hineinzufinden. Im Schaffen des Komponisten ist dies nicht nur eindeutig sein ernsthaftester Versuch eine typisch amerikanische Oper zu schaffen, sondern zugleich auch ein zutiefst persönliches, ja vielleicht sogar sein persönlichstes Werk überhaupt, da es auch bekenntnishafte Züge trägt.

Und wie verschiedene seiner Werke ist auch dieses ein in mehreren Fassungen existierendes „work in progress“ geblieben. Nach der 1983er Houstoner Premieren-Version, der europäischen (Mailänder) Erstaufführungs-Version (1984) und der im Universal-Bernstein-Jubiläums-Set vertreten Wiener-Fassung des Jahres 1986 (s.o.) ist die aktuelle Fassung für Kammerorchester jetzt die vierte, im Jahr 2013 in Berlin uraufgeführte Fassung. Deren Grundidee geht noch auf Bernstein zurück, der bereits über eine weitere Neufassung des Werkes mit stark reduziertem Orchesterensemble nachgedacht hatte. Kent Nagano war bereits bei den Proben zur Wiener Aufführung als Schüler Bernsteins beteiligt. Seiner Initiative verdanken wir nun die posthume Umsetzung von Bernsteins Grund-Idee durch Garth Edwin Sunderland (Senior Music Editor des Leonard Bernstein Office), der diese Fassung, unter Berücksichtigung aller vorherigen Versionen zugleich sehr sorgfältig neu konzipiert hat. Der seit Juni 2018 auf dem Markt befindliche Live-Mitschnitt entstand im Mai 2017 mit dem Montreal Symphony Orchestra unter Naganos Leitung.

Gegenüber der Wiener Fassung sind vom dort mit 72 Spielern sehr groß besetzten Klangkörper, inklusive vielfältigem Schlagwerk, elektrischer Gitarre und einem DX-7-Synthesizer, jetzt nur noch 18 Instrumentalisten, also ein Viertel übrig geblieben. Erfreulicherweise klingt das im Ergebnis zwar schlank und transparent, jedoch keineswegs dünn. Nagano agiert mit etwas zupackenderen Tempi als Bernstein in seiner 1986er Einspielung. Die musikalischen Linien treten jetzt deutlicher hervor, wobei das kleine Ensemble zugleich die Verwendung von jüngeren, leichteren Stimmen ermöglichte. Auch das Sängerensemble ist insgesamt beachtlich: Lucas Meachem, John Tessier, Gordon Bintner, Joseph Kaiser, Rupert Charlesworth sowie Annie Rosen und Claudia Boyle. Auch aufnahmetechnisch gibt es keinerlei Beanstandungen. Im äußerst transparenten Klangbild ist die Balance zwischen Singstimmen und Orchester vorbildlich. Live-, also Bühnen- und Publikumsgeräusche sind zudem kaum wahrnehmbar, d.h. in keinem Fall störend.

Allerdings kommt „Trouble in Tahiti“ in der nunmehr nur noch gut 90 Minuten langen neuen Version der Oper nicht mehr vor, und auch einige Passagen des ersten Aktes wurden gekürzt. Dafür sind insbesondere im dritten Akt einige Teile aus der US-Premierenversion wieder eingefügt, die in sämtlichen anderen Fassungen fehlen. Das Ergebnis ist eine sehr beachtliche Neufassung, welche das Geschehen dramaturgisch verdichtet und so einige Aspekte deutlicher macht als zuvor. Trotz ihrer unleugbaren Qualitäten geht dieser Version aber eben auch der epischere Atem des erheblich voluminöseren Klangeindrucks der Wiener Fassung ab, welcher nicht allein vom groß besetzten Orchester herrührt, sondern auch von den Chorpassagen, die es in der Kammerorchester-Version nicht gibt. Hinzu kommt, dass Fehlen von „Trouble in Tahiti“, dessen unmittelbar zugängliche Musik sich nur auf den ersten Hör-Blick allzu stark vom 30 Jahre danach anknüpfenden „A Quiet Place“ abhebt, mit diesem aber eben doch zusammengehört.

Kent Naganos Einspielung der (Berliner) Fassung für Kammerorchester ist in Summe zweifellos ein besonders wichtiger Beitrag zum Bernstein-Jubiläumsjahr, wobei jedoch auch die 1986er Wiener Fasssung im Universal-Complete-Bernstein-Set starke individuelle Reize besitzt. In der Bilanz aus Stärken und Schwachpunkten gibt es zwischen beiden derzeit auf Tonträger verfügbaren Fassungen m.E. keinen eindeutigen Verlierer, so dass man schließlich auf keine von beiden wird verzichten wollen, oder?

Lesen Sie hierzu auch „Der Klassik-Tipp: Leonard Bernstein zum 100sten, Nr. 2“.

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