Ben-Hur (Tadlow)

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
6. April 2018
Abgelegt unter:
CD

Score

(6/6)

Tadlow auf dem Rózsa-Olymp mit der kompletten Neueinspielung von Ben-Hur (1959)

Wohl über keine zweite Filmmusik des Golden Age ist derart viel geschrieben worden, wie über Miklós Rózsas filmmusikalisches Opus Magnum, seine Vertonung zu William Wylers 1959er Version von Ben-Hur. Und ein Stück dieser Musik hat es nicht nur früh in die Populärkultur geschafft. Selbst heutzutage, immerhin fast 60 Jahre nach der Uraufführung des Films, wird besagter „Hit“ immer noch gespielt: Gemeint ist die mit machtvoll-prächtigen Fanfaren eingeleitete „Wagenlenkerparade“ (Parade of the Charioteers).

Eindrucksvoll ist schon die bisherige umfangreiche Ben-Hur-Diskografie, die mit den bereits im Umfeld der Uraufführung des Films veröffentlichten insgesamt drei MGM-Filmmusik-LPs beginnt, welche mit Nachspielungen bestückt sind. Dabei existiert das Programm der ersten LP interessanterweise sogar in zwei Einspielungen, aufgenommen in Rom bzw. in Nürnberg. Hinzu kommen x-fache Suitenfassungen, eingespielt über die Jahre von diversen Interpreten auf unterschiedlichen Labels.

Die praktisch vollständige Originaleinspielung erschien erstmalig überhaupt im Jahr 1996 als Deluxe-Edition des Rhino-Labels. Sie ist ausgestattet mit zwei CDs sowie einem recht umfangreichen, mit vielen Filmbildern durchsetzten, großformatigen (doppelte CD-Höhe) Begleitheft, welches den Sammler begeistert, auch wenn es mehr auf den Film als die Musik fokussiert. Inzwischen ist diese Liebhaberausgabe allerdings nur noch antiquarisch zu eher happigen Preisen erhältlich und hat abgesehen von der besonders eleganten Präsentation deutlich an Bedeutung verloren. Im Jahr 2012 hat sich nämlich Lukas Kendall nochmals des Falls Ben-Hur angenommen und im Rahmen eines konkurrenzlos umfangreichen 5er-CD-Sets alles dazu im Archiv von MGM noch Vorhandene veröffentlicht: Das sind neben den bereits erwähnten drei MGM-LP-Nachspielungen, wiederum die komplette Originaleinspielung der im Film verwendeten Musik und zusätzlich sämtliche noch vorhandenen Alternativ-Versionen (Alternates) diverser Stücke. Dies alles ist nun klangtechnisch gegenüber der qualitativ schon sehr beachtlichen 1996er Rhino-Ausgabe nochmals deutlich verbessert, klingt jetzt merklich frischer und durchsichtiger. Das Spezielle dieser prachtvollen FSM-Ben-Hur-Edition sind die über das beiliegende kleine Begleitheft, welches nur eine Übersicht über das auf den einzelnen CDs versammelte Musikmaterial bietet, hinausgehenden, geradezu ausladend mit Informationen aufwartenden Online-Notes. Diese enthalten vielfältig in Details gehende, tiefere Einsichten in den komplexen Entstehungsprozess der Ben-Hur-Musik, ihrer LP-Inkarnationen und natürlich der vielen ebenfalls enthaltenen Alternativversionen diverser Tracks.

Als Nummero drei des Ben-Hur-Triumvirates hat sich nun noch die aktuelle Neueinspielung der kompletten Filmmusik als Tadlow-Doppel-CD-Album hinzugesellt. Und direkt gesagt: Es handelt sich dabei um ein ausgezeichnetes Produkt, welches nicht allein im Kanon der übrigen, ebenfalls edel geratenen Rózsa-Einspielungen Tadlows eine Topfigur macht. Tadlows Ben-Hur ist m. E. ohne wenn und aber in jeder Miklós-Rózsa-Kollektion im Allgemein oder derjenigen zur Ben-Hur-Filmmusik im Besonderen absolut unverzichtbar.

Dabei fehlt natürlich auch die Tadlow-typische, inzwischen bereits ein kleines Markenzeichen bildende Zugabe des Love-Themes nicht. Auch hier arrangiert als sehr ansprechende kleine Konzertrhapsodie für Violine und Orchester, wiederum gekonnt interpretiert von der Konzertmeisterin der Prager Philharmoniker, Lucie Švehlová. Auf das Einspielen von Alternates, welches mindestens einen dritten Datenträger erfordert hätte, hat Produzent James Fitzpatrick verzichtet. Dazu hat er im FSM-Forum einmal angemerkt, dass Alternates in aller Regel nur für einmaliges Anhören interessant sind, etwas, dem man weitgehend zustimmen kann.

Bei der insgesamt rund 153 Minuten Spieldauer ergebenden Tadlow-Neueinspielung handelt es sich allerdings nicht um eine Rekonstruktion der (s. o.) bereits veröffentlichten Original-Filmeinspielung, d. h. es wurden längst nicht ausschließlich die im Film verwendeten Fassungen eingespielt. Es handelt sich vielmehr um eine vom Tadlow-Team anhand eingehender Quellenstudien des überlieferten Partiturmaterials produzierte „idealisierte Fassung“ des kompletten Scores, bei der mal mehr mal weniger deutliche Abweichungen von den im Film verwendeten Fassungen resultieren. Zum Beispiel finden sich einige kleinere, im Film weder verwendete noch während der Postproduktionsphase überhaupt eingespielte Stücke (etwa „The Dungeon“). Die reizende, im Film ebenfalls nicht verwendete, folkloristische Tanzeinlage für die Szene in Scheich Ilderims Zelt, drolligerweise betitelt als „Harun al Rozsad“, ist hingegen auch im FSM-Set vertreten. In der Tadlow-Version wird dieses (nicht exakt chronologisch platzierte) Stück aber nicht nur merklich schneller gespielt, es ist zugleich auch noch etwas verlängert. Deutlich länger gegenüber der geläufigen Filmversion sind auch die meisten der Fanfaren, z. B. „Salute for Messala“. Dies gilt auch für die Fanfare, welche erklingt wenn der Oberbefehlshaber der Flotte, Quintus Arrius, in „Salute for Arrius“ die römische Galeere betritt. Kurz darauf  erscheint allerdings die Chronologie nicht ganz korrekt. Es erklingt nämlich eine Musikpassage, die in der Filmversion erst deutlich später auftaucht. Der in vier Geschwindigkeiten erfolgende Rudertest der Galeerensklaven (Normal-, Gefechts-, Angriffs- sowie Rammgeschwindigkeit) erfolgt in Annäherung an die LP-Version, nämlich durch hinzugefügte Schläge einer Solopauke, welche dem Stück zudem über einige Takte vorangestellt sind. Auch im weiteren Verlauf tritt so das rhythmische Fundament der Musik prominenter hervor, was dem nur Hörenden die Anspannung der Ruderer ohne die Filmbilder deutlich eindringlicher macht. Dass die gewählten Tempi sich fast durchweg an den im Film verwendeten orientieren, sei angemerkt. Entsprechend fällt auch der „Main-Title“ erheblich schneller gespielt aus als von der ersten MGM-LP geläufig, in deren Konzertversion er für meinen Geschmack sogar besser, nämlich nicht so „gehetzt“ wirkt.

Bereits im „Anno-Domini“-Prolog fällt auf, dass die kurze sakrale Chorpassage, wenn der Erzähler nach dem Symbol der römischen Macht (der Festung Antonia) vom jüdischen Tempel spricht, bei Tadlow fehlt. Ein weiteres bemerkenswertes, noch dazu besonders auffälliges Beispiel für Änderungen gegenüber dem von der Filmeinspielung Vertrauten ist der zum Einzug von Gratus in Jerusalem erklingende römische Marsch. Im Film bricht dieser zwangsläufig schlagartig ab. Entsprechend ist der Marsch im FSM-Set (wie auch der Rhino-Edition) auch nur in einer unvollständigen Kurzfassung vertreten – von FSM mit einem eher notdürftigen Schlussanhängsel versehen. Die von Rózsa ursprünglich jedoch komplett auskomponierte, rund eine Minute längere Fassung des Stücks findet sich bereits auf der zweiten MGM-LP. Dort ist es allerdings in einer um zusätzlich eingefügte Streicher gegenüber der Filmversion klanglich weicher, weniger archaisierend wirkenden Konzertfassung enthalten. Tadlows Ben-Hur-Gesamteinspielung verwendet hier nun folgerichtig die auskomponierte Urversion des Gratus-Marsches, freilich ohne die für die MGM-LP mit Rücksicht auf die Gewohnheiten des damaligen Klassikpublikums hinzugefügten Streicher. Damit ist der Gratus-Marsch jetzt nicht nur komplett, sondern zugleich wie im Film als reine Bläserversion zu hören. Durch die Loslösung von den Filmbildern erhält er einen erheblich stimmigeren, runden Abschluss.

Ähnliches gilt auch für die jetzt erstmalig ungekürzt, in ihrer originalen, besonders prachtvollen Gestalt zu hörende „Victory Parade“. Rózsa hatte dieses Stück komponieren und einspielen müssen, ohne exakte Informationen zu Timings und Ausgestaltung der zugehörigen Filmszene zu haben. Aus Zeitgründen konnte für den finalen Schnitt die Komposition nicht nachbearbeitet und neu eingespielt werden, sondern wurde am Schneidetisch (etwas notdürftig) passend gemacht. Tadlows Version verzichtet auf einige redundante Wiederholungen der Filmversion und bringt dafür für die Öffentlichkeit erstmalig die geschnittenen kaiserlichen Fanfaren zum erklingen und ebenso den originalen Schluss.

Und noch ein Stück ist besonders leicht einzuordnen: Tadlow hat sich bei der Pausenmusik („Entr’Acte“) für die ursprünglich vom Komponisten vorgesehene Version entschieden, welche sich deutlich von der eingesetzten Kurzfassung der Filmouvertüre unterscheidet. Der originale „Entr’Acte“ ist ebenfalls bereits auf der zweiten MGM-LP als sogenannte „Overture“ vertreten und befindet sich übrigens auch im FSM-Set – bis zu dessen Veröffentlichung dieser LP-Track übrigens ein kleines Mysterium war.

Da jedoch zu den allermeisten der im Tadlow-Set eingespielten, vom Film-Original abweichenden Materialien im FSM-Set keine entsprechenden Alternates vorhanden sind, legt dies zumindest die Vermutung nahe, dass in den betreffenden Teilen wohl ebenfalls auf Urtext-Versionen zurückgegriffen worden ist, über welche die Zeit der turbulenten Nachproduktionsphase offenbar derart schnell hinwegging, dass sinnvollerweise ausschließlich die zügig abgeänderten Fassungen noch während der Aufnahmesitzungen berücksichtigt worden sind. Dies betrifft z. B. das den Abschluss bildende „Miracle/Finale“, bei dem etwa der Chor wesentlich früher als in der Filmversion zum Einsatz kommt. Diese Fassung hat übrigens bereits Miklós Rózsa in seiner 1977er Suiteneinspielung für Decca verwendet. Und auch die im Vergleich zur Filmversion erheblich präsenter abgemischten Einsätze der Orgel, verweisen auf die klangliche Ästhetik von Rózsas 1977er Einspielung. Zusätzlich werden aber auch eigene Akzente gesetzt. So sind etwa die Einsätze der Harfe in „The House of Hur“ jetzt viel weniger prominent abgemischt als in der Filmeinspielung. Daher erscheinen diese jetzt wesentlich dezenter als gewohnt.

Im zwar zweifellos soliden, aber angesichts des gigantischen Projekts in Umfang und Ausstattung zwangsläufig (!) etwas unzulänglich erscheinenden – nur 16-seitigen – Begleitheft (Texte von Jon Burlingame) finden sich zu diesem interessanten Themenkomplex nur einzelne Erläuterungen. Auch wenn sowohl in FSMs Online-Notes als auch auf den ebenfalls Online abrufbaren, besonders ausführlichen, mehrteiligen Artikel auf Pro Musica Sana, „Ben Hur: A Tale of the Score“ von Ralph Erkelenz verwiesen wird, bleibt für uns, die wir den Dingen möglichst erschöpfend auf den Grund gehen möchten dennoch (zu) vieles in der Schwebe. Hier wäre es natürlich sehr zu begrüßen, falls sich Produzent James Fitzpatrick oder einer seiner Mitstreiter mittelfristig vielleicht doch noch zu einem die Hintergründe und das Zustandekommen der einzelnen editorischen Entscheidungen der Tadlow-Neueinspielung im Detail erhellenden Online-Artikel durchringen könnte.

Die hier nur grob angerissenen Unterschiede zwischen Tadlows Version und den im Film verwendeten Fassungen mögen zwar den einen oder anderen zunächst etwas irritieren. Sie stellen in meinen Augen aber eine klare Bereicherung dar. Wie einer der Teilnehmer im Forum von Film Score Monthly hierzu sinngemäß treffend bemerkt hat, ist man dadurch in der Lage, die Ben-Hur-Musik in Teilen mehr oder weniger nuanciert anders und damit neu zu erleben. Mit einer Gesamtspielzeit von fast 160 Minuten ist das Doppel-CD-Album auch spielzeitmäßig in der Top-Kategorie.

Fazit: Tadlows Ben-Hur-Album ist absolut vorzüglich geraten. Von den erwähnten Unterschieden zur Filmversion sollten sich auch Golden-Age-Einsteiger keinesfalls verunsichern lassen. Sie erhalten in jedem Fall ein erstklassiges Produkt, das nicht nur dank seines vorzüglichen Klanges zu begeistern vermag. Und wer anschließend eventuell neugierig geworden ist und mehr in die Tiefe dieser grandiosen Filmmusik eindringen möchte, der wird späterhin nicht umhin kommen, zumindest auch noch zum brillanten FSM-Ben-Hur-Set zu greifen. Dieses ist im Vergleich ja keinesfalls eine einfache Dublette, sondern bildet vielmehr eine ausführliche, vergleichende Studien ermöglichende und damit außerordentlich wertvolle Ergänzung.

Hier finden Sie einen Überblick über alle bei Cinemusic.de besprochenen CDs des Labels Tadlow Music.

© aller Logos und Abbildungen bei Tadlow Music. (All pictures, trademarks and logos are protected by Tadlow Music.)

Komponist:
Rózsa, Miklós

Erschienen:
2017
Gesamtspielzeit:
156:49 Minuten
Sampler:
Tadlow Music
Kennung:
TADLOW 026
Zusatzinformationen:
City of Prague Philharmonic Orchestra & Chorus, Dirigent: Nic Raine

Weitere interessante Beiträge:

Singin’ in the Rain

Singin’ in the Rain

Frederick Fennell conducts Music by Leroy Anderson

Frederick Fennell conducts Music by Leroy Anderson

In the Bedroom

In the Bedroom

Sibelius: Finnland erwacht

Sibelius: Finnland erwacht

Cinemusic.de