Zwei Klassiker der angelsächsischen Kinderbuchliteratur sind in liebevoller, aufwändig gestalteter Ausgabe im Europa Verlag erschienen. Beide Märchenstoffe dürften hierzulande nicht zuletzt durch die Filmadaptionen bekannt sein: Walt Disneys Alice in Wonderland • Alice im Wunderland (1951) und The Wizard of Oz • Der Zauberer von Oz (1939), auch unter dem Alternativtitel Das zauberhafte Land gezeigt.
Hochwürden Charles Lutwidge Dodgson (1832-1898) verbirgt sich hinter dem Pseudonym Lewis Carroll. Martin Gardner, geboren 1914, ehemaliger Fachredakteur des Scientific American, gilt international als einer der besten Kenner von Carrolls Werken. Bereits 1960 erschien sein vielbeachtetes Buch „Annotated Alice“, in dem viele der Wortspiele und mathematischen Rätsel der beiden Alice-Klassiker, „Alice im Wunderland“ und „Durch den Spiegel und was Alice dort fand“, entschlüsselt sind. Dreißig Jahre danach erschien 1990 sein Ergänzungsband „More Annotated Alice“, in dem der Autor neben Korrekturen und weiteren Materialien auch die lange verschollene Episode aus dem zweiten Alice-Buch „Der Wesperich mit der Perücke“ einfügen konnte.
Zur Jahrtausendwende hat Gardner beide Bände in nochmals ergänzter Form vereint und jetzt steht wahrlich „Alles über Alice“ in Form einer adäquaten Übersetzung auch für die interessierte deutsche Leserschaft zur Verfügung. Die deutsche Ausgabe ist außerdem mit Texten deutscher Schriftsteller wie Joachim Ringelnatz sowie durch deutsche Titel in Biblio- und Filmografie ergänzt worden. In der jetzt vorliegenden Fassung dürfte damit wohl eine langfristig gültige, wenn nicht gar „definitive“ Fassung dieses viktorianischen Kinderbuchklassikers vorliegen.
Alices aus verwirrenden Einzelepisoden bestehende Abenteuer erschienen erstmals 1865 und sind ein in der Viktorianischen Ära verankerter Scherz voller Fantasie, Witz und doppeltem Boden. Die Lektüre ist gewöhnungs- und erklärungsbedürftig, einem heutigen Leserpublikum in vielem nicht mehr ohne weiteres verständlich. Vieles erscheint anfänglich als reiner Nonsens und ist dazu sehr episodenhaft, präsentiert sich als ein allzu fantastisch, exzentrisch-absurdes Kaleidoskop und ist außerdem ein mitunter albtraumhaft und überhaupt ungewöhnliches Märchen.
„Alles über Alice“ bereitet dem gekonnt ein Ende. Parallel angeordnet zum Text finden sich eine Fülle von Anmerkungen und Erklärungen, die dem Leser die zunächst verwirrende Märchenwelt des Lewis Carroll näher bringen und ebenso dabei behilflich sind, die immerhin etwa 80 Charaktere der Story besser zu verstehen. Dabei ist sehr erfreulich, dass Gardner es beim Hineininterpretieren in Symbolisches nicht übertreibt, also bei allem analytischen Blick nicht übertrieben ernst zur Sache geht.
Carroll dürfte ein eher etwas linkischer, verschroben gutmütiger Kauz gewesen sein, in dessen ausgeprägter Neigung zu kleinen Mädchen – und in manch anderem seines Wesens – liegen zweifellos Ansatzmöglichkeiten für psychoanalytische Deutungen. Dem an den diversen (sich einander mitunter auch widersprechenden) Interpretationen Interessierten gibt die sorgfältig erstellte Bibliografie weiterführende Hinweise. Ein zusätzlicher Leckerbissen des liebevoll ausgestatteten, qualitativ hochwertigen Bandes sind die vollständig enthaltenen Original-Illustrationen John Tenniels.
Für den Kinofreund ist das beschließende Kapitel „Alice auf Leinwand und Bildschirm“ sehr aufschlussreich. Belegt es doch, dass die hierzulande wohl geläufigste Filmversion des Stoffes – Walt Disneys oben genannter Zeichentrickfilm – nur eine von 15 Verfilmungen ist.
Mehrteilige Rezension:
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