Aufforderung zum Tanz: Die Balletmusik-Einspielungen des Dirigenten Richard Bonynge auf DECCA
Am 29. September 2020 beging der aus einem Vorort von Sydney stammende Dirigent Richard Bonynge seinen 90. Geburtstag. Aus diesem Anlass präsentiert Universal Music die komplette Ausgabe seiner Balletmusik-Aufnahmen für das Decca-Label in einem besonders ansehnlich geratenen, umfangreichen Box-Set.
Der Jubilar ist durch seine langjährige Ehe mit der ebenfalls aus Australien stammenden Sopranistin Joan Sutherland († 2010) in ganz besonderem Maße den Opernfreunden geläufig. Aus dieser künstlerisch überaus fruchtbaren Zeit stammen rund 50 Operngesamtaufnahmen auf Decca, unter denen sich diverse Raritäten befinden. So zählt Bonynge zu den ersten, die sich für eine Renaissance des vernachlässigten Opernschaffens von Giacomo Meyerbeer und Jules Massenet eingesetzt haben. Ein zweites, etwas kleineres Standbein zeigt sich in seinen ebenfalls mit Herzblut realisierten Ballettmusikeinspielungen wiederum für die Decca, bei denen er sich wiederum als außerordentlicher Wiederentdecker betätigt hat, was letztlich sicher auch ein Resultat seines leidenschaftlichen Sammelns von Originalpartituren gewesen ist.
Die Wiege des Balletts steht in Frankreich, wo frühe Vorläufer der klassischen Ballettkultur, bereits zur Zeit des Sonnenkönigs Ludwigs XIV. etabliert wurden. Zuerst tanzten allerdings ausschließlich Vertreter des männlichen Geschlechts. Das romantische Ballett mit seinem von den choreografischen Stilen und Techniken des „klassischen Balletts“ geprägten Bühnentanz inklusive der unverzichtbaren Primaballerinen und damit auch das, was uns heutzutage als Ballettmusik unmittelbar in den Sinn kommt, entstammt dem 19. Jahrhundert. Es entwickelte sich nach 1830 als eigenständige Kunstform des Theaters ausgehend von den ausgiebigen Balletteinlagen der Pariser „Grand Opera“, eines Operntypus’, der mit dem aus Berlin stammenden Jakob Liebmann Meyer Beer, bekannter unter dem Namen Giacomo Meyerbeer (1791–1864), in ganz besonderem Maße verbunden ist. Dessen außergewöhnlich spektakuläre, effektreiche Inszenierungen hat der Musikwissenschaftler Kurt Pahlen in einem seiner musikalischen Standardwerke so treffend mit den Kinoblockbustern unserer Tage verglichen.
Musikalisch steht hier durchweg leicht Zugängliches auf dem Programm, durchsetzt von eingängigen Themen und oftmals farbenreich instrumentiert. Man kann auch einfach mal blind ins Box-Set hineingreifen und gerät dabei trotzdem stets an Stücke, die mit ihrer charmanten Art unmittelbar ansprechen. Es handelt sich meist um Musik tänzerischen Charakters, welche sich sowohl zum genaueren Hinhören als auch vorzüglich zum Entspannen und Abschalten eignet.
Kompositionstechnisch geht es hier sicher nicht um hochgradig intellektuelle Kunst, sondern vielmehr in erster Linie um oftmals elegant ausgeführte, klangsüffige Programmmusik, die das adressierte Publikum nicht herausfordern, sondern direkt mitnehmen und gekonnt unterhalten will. Deren Hauptaufgabe besteht natürlich in der Untermalung der Ballettchoreographie, wobei neben diversen Tänzen durchaus auch kleinere Handlungssituationen tonmalerisch illustriert sind. Dabei steht manches der klassischen Tonfilmmusik schon sehr nahe. Ansatzweise finden sich darunter auch das Gezeigte akustisch verdoppelnde Passagen als eine kleine Vorahnung späteren „Mickey-Mousings“. In der Melodik finden sich zudem mehr als nur einmal Teile, die einem Hollywood-Love-Theme des Golden Age als Vorbild gedient haben könnten. Einem sehr schönen Beispiel dafür begegnet man bereits auf der ersten CD der Box: in der Eröffnung von Franco Leonis (1864–1949) „The Prayer and the Sword“ (Track 5, „The Cloister“) besitzt das nach rund 1 : 15 Minuten breit ausschwingende, üppige Thema durchaus einen gewissen Max-Steiner-Charme. Und auch „Szene 3: Sturm und Schiffswrack“ (Track 13, CD 7) aus Adolphe Adams „Le Corsaire“ verweist mit seiner tonmalerischen Plastizität nicht nur auf Wagners vom Sturm durchtosten fliegenden Holländer, sondern lässt auch die Musik zu ähnlich gelagerten Filmszenen erahnen.
Wie sehr Bonynge insbesondere an einer Wiederbelebung der Pariser Ballettmusik des 19. Jahrhunderts gelegen war, belegen die im aktuellen Box-Set versammelten Einspielungen von Auszügen wie auch vollständigen Ballettkompositionen in ganz besonderem Maße. Natürlich dürfen dabei auch die heutzutage immer noch besonders geläufigen Vertreter nicht fehlen: Dabei stehen an herausgehobener Stelle „Giselle“, die siebte Ballettkomposition von Adolphe Adam (1803–1856), und „Coppélia“ von Léo Délibes (1836–1891), der zeitweilig ein Schüler Adams war und mit dem 1870 uraufgeführten Stück triumphalen Erfolg feierte. Bonynge hat sowohl „Giselle“ als auch „Coppélia“ nicht nur einmal, sondern sogar zweimal (jeweils in der 2. Hälfte der 1960er und Mitte der 1980er) in jeweils nuanciert unterschiedlich gelagerten Interpretationen vorgelegt. Die 1969 mit dem in Genf beheimateten Orchestre de la Suisse Romande aufgenommene „Coppélia“ belegt zudem, wie eindeutig seinerzeit der Klang dieses renommierten Klangkörpers der spezifischen französischen Klangtradition verpflichtet war, herrührend von unterschiedlichen Spieltechniken bei den Holzblasinstrumenten und in der Bogenführung der Streicher.
„Giselle“, uraufgeführt am 28. Juni 1841 in Paris, ist nicht nur die früheste musikalische Balletkomposition, welche sich im Repertoire halten konnte, sondern ist zugleich auch der besonders prägende Vertreter des romantischen Balletts schlechthin. Adam, der auch ein tüchtiger Opernkomponist war, schuf insgesamt 14 Ballettkompositionen, welche bis auf „Giselle“ längst in der Raritäten-Ecke gelandet sind. Nicht unbedingt verdient, wie die von Richard Bonynge davon wieder zugänglich gemachten zwei Ausgrabungen belegen: „Le Diable á quatre“ wurde 1964 mit dem London Symphony Orchestra eingespielt und Adams letzte Ballettkomposition, „Le Corsaire“, 1990 mit dem English Chamber Orchestra. Der Komponist zeigt sich auch hier als äußerst solider Handwerker und stellt darüber hinaus sein offenbar nahezu unerschöpfliches melodisches Talent bestechend unter Beweis. Auch Délibes’ von seinem Kollegen Peter Tschaikowski (1840–1893) hoch geschätzte „Sylvia“ (mit dem National Philharmonic Orchestra) darf natürlich nicht fehlen. Und das gilt auch für die das Genre des romantischen Balletts krönenden drei berühmten Tschaikowski-Ballette, „Schwanensee“, „Dornröschen“ und „Der Nussknacker“, wobei Einspielungen der beiden erstgenannten nicht selten Kürzungen aufweisen. Bei Bonynge hingegen sind sowohl „Schwanensee“ als auch „Dornröschen“ komplett.
Auch der Italiener Riccardo Drigo (1846–1930) komponierte für das russische Ballett in St. Petersburg – u.a. das von Bonynge 1987 mit dem Orchestra of the Royal Opera House Covent Garden eingespielte „La Flûte magique“. Drigo war nicht nur mit Alexander Glasunow eng befreundet, er dirigierte auch die Uraufführungen von Tschaikowskis „Dornröschen“ (1890) und „Der Nussknacker“ (1892). Vor Drigo wirkte als Komponist des Kaiserlichen Russischen Balletts auch der nur noch eingefleischten Ballettkennern geläufige Österreicher Ludwig (Léon) Minkus (1826–1917). Von ihm finden sich Auszüge aus „Paquita“ und „Don Quixote“. Jeweils komplett enthalten sind „La Bayadère“ (bearbeitet von John Lanchbery) sowie das zusammen mit Délibes für die Pariser Oper komponierte „La Source“.
Die vertretenen Kompositionen von Jules Massenet zählen zu den absoluten Highlights der Box. Das im Finale durch den eingesetzten Mezzo-Sopran nebst Chor geradezu sanft opernhaft ausklingende „Cigale“, und auch „Le Carillon“ enthalten erstklassige Musik von außergewöhnlicher Frische und Vitalität. Das Ballett „Manon“, hat allerdings mit der gleichnamigen Oper des Franzosen nichts zu tun. Es handelt sich hierbei vielmehr um eine von Leighton Lucas (1903–1983), der übrigens auch Filmmusik komponierte, stammende Bearbeitung, welche viele der besonders schönen Melodien aus Massenets Œuvre geschickt vereint. Bonynge ging aber (nicht bloß bei Massenet) auch über das Thema Ballett hinaus, indem er zwei der seinerzeit nahezu vergessenen Orchestersuiten einspielte, die „Scènes Dramatiques“ und – zum besonderen Geheimtipp tauglich (!) – das ungemein nostalgisch-warm anmutendes Porträt des Elsass in „Scènes alsaciennes“. Ebenfalls über den Tellerrand hinaus ragen als weitere beachtliche musikalische Perlen die Cellokonzerte von Massenet, Daniel-François-Esprit Auber (1782–1871) und des böhmischen Komponisten und Cellisten David Popper (1843–1913).
Weitere unbedingt noch zu nennende, wertvolle Ausgrabungen Bonynges sind „Le Papillon“, das einzige Ballett von Jacques Offenbach, und „La Peri“, das vom wenig geläufigen Regensburger Tonsetzer Friedrich Burgmüller (1806–1874) stammt, der wie sein ungleich berühmter gewordener Kollege sein Brot im Paris der Mitte des 19. Jahrhunderts verdient hat; Aubers „Marco Spada“ ist nicht zu verwechseln mit seiner gleichnamigen Opéra-comique, sondern ist vielmehr vom Komponisten aus Versatzstücken seiner früheren Werke höchstpersönlich geschickt montiert worden; „Les Deux pigeons“ stammt von einem der letzten Meister der französischen Operette und des romantischen Balletts: André Messager (1853–1929). Charles Lecocq (1832–1918) war ein französischer Operettenkomponist, dessen besonders melodienreiche „La Fille de Madame Angot“ den Komponisten und Arrangeur Gordon Jacobs zu einer Ballettbearbeitung anregte. „Mam’zelle Angot“ ist das hübsche Ergebnis, das von Bonynge 1983 mit dem National Philharmonic Orchestra erstmalig komplett eingespielt worden ist.
Einige delikat zusammengestellte LP-Sampler finden sich ebenso, etwa die aus Bonynges Frühphase stammenden „Art of the Prima Ballerina, Vol. 1 & 2“, die beiden Alben „Homage to Pavlova, I + II“ und auch das aus den 1970er-Jahren stammende „Ballet Music & Entr’actes From French Opera“. Auf dem Programm stehen dabei auch diverse reizvolle Ouvertüren und Opern-Ballettvertonungen: beispielsweise Meyerbeers „Les Patineurs“ (aus „Der Prophet“), aus Massenets „Le Cid“ oder auch aus Guiseppe Verdis (1813–1901) „Der Troubadour“. Mit darunter sind die das entscheidende Vorbild für die großen Konzertwalzer bildende „Aufforderung zum Tanz“ (Carl Maria von Weber, 1786–1826) und ebenso der Massenet-Ohrwurm „Meditation aus Thais“. In dieselbe Richtung verweist die das Set stimmungsvoll und abwechslungsreich beschließende Doppel-CD „Ballet Gala“. Diese wurde 1988 eingespielt, ist erstmalig 1990 erschienen und ganz vorzüglich zum Einstieg in das Gesamtprogramm dieser Box geeignet.
Ebenfalls vertreten sind eine Reihe ehedem auf LPs veröffentlichter Stücke, die erstmalig in den 2010er Jahren von der australischen Decca (in der Reihe ‘Eloquenz’) auf CD herausgebracht worden sind. Eine kleine CD-Premiere bleibt aber doch dem jetzigen Box-Set noch vorbehalten: Die Fledermaus-Ouvertüre, veröffentlicht zusammen mit den von Bonynge vorgelegten Ballett-Kompositionen und -Arrangements des Walzerkönigs Johann Strauß Sohn (1825–1899), sämtlich vereint auf zwei prallgefüllten CDs. Darunter verdient das reizende, von Josef Beyer posthum vollendete Ballett „Aschenbrödel“ besonders erwähnt zu werden, welches Bonynge 1980 mit dem National Philharmonic Orchestra realisiert hat.
Im Kanon des hier üppig Gebotenen stört letztlich nicht allein wegen des konkurrenzlos günstigen Preises von weniger als 2.50 € pro CD auch die eine oder andere resultierende Repertoire-Dublette keineswegs. Wenn Richard Bonynge dirigiert, dann ist das Resultat nämlich stets eine den Hörer mitnehmende, in aller Regel sogar eine mitreißend interpretierte Offenbarung. Man kann Ballettmusik natürlich ein Stück anders, aber sicherlich nicht wirklich besser interpretieren. So wird selbst in der heimischen Kollektion bereits mindestens einmal Vertretenes zur willkommenen Ergänzung, ja Bereicherung. Dank der bereits in den 1950ern stets auf hohem bis höchstem technischen Niveau der Zeit befindlichen Decca-Tontechnik kommt noch der ausgeprägt audiophile Touch der hier vereinten Aufnahmen hinzu. Betreut von renommierten Decca-Toningenieuren wie Kenneth Wilkinson oder James Lock müssen sich auch die ältesten der insgesamt drei Jahrzehnte DECCA-Audiogeschichte (1962 bis 1992) repräsentierenden Audio-Schätzchen keineswegs verstecken.
Das aktuelle Bonynge-Box-Set: „Complete Ballet Recordings“
Bereits im Jahr 2001 veröffentlichte Universal mit „Fête du Ballet“ einen mit 10 CDs bestückten Vorläufer. Gegenüber diesem ist das aktuelle Complete-Box-Set mit seinen 45 Silberlingen geradezu schwelgerisch üppig ausgestattet und macht auch so manchen seit Jahren vergriffenen Katalogtitel wieder zugänglich.
Das Box-Set besteht aus einem stabilen Karton mit abnehmbarem Deckel, in dem sich neben dem Begleitheft sämtliche Datenträger in soliden Papptaschen untergebracht befinden. Deren Frontseite ziert erfreulicherweise jeweils eine Abbildung des Originalcovers und das jeweilige Backcover wartet neben dem zugehörigen Tracklisting noch mit den betreffenden Aufnahme- und Veröffentlichungsdaten auf. Da gibt’s nichts zu meckern. Hinzu kommt das recht edel gemachte, 144-seitige Begleitheft, das neben kurzen Inhaltsangaben der eingespielten Ballette einen durchaus feinen, sehr informativen Einführungsartikel zu Richard Bonynges Ballettmusikschaffen enthält.
So schön sie sind, bleibt bei derartigen Box-Zusammenstellungen zwangsläufig immer vieles an wertvollen textlichen Informationen der Erstveröffentlichungen auf der Strecke. Das ist häufiger und auch an dieser Stelle schon ein wenig schmerzlich, da gerade zu den eingespielten Raritäten der Interessierte auch andernorts nur schwierig zuverlässige Hintergrundinformationen zu finden vermag. Da wäre es schon ein besonders wünschenswerter zusätzlicher Service, wenn Universal online auch noch die umfangreicheren Begleittexte der Erstausgaben gesammelt zugänglich machen würde.
Abschließend bleibt noch positiv zu bewerten, dass der Käufer kein eher unnötig mit Datenträgern aufgeblasenes, nur scheinbar besonders gehaltvolles Box-Set erhält. Die enthaltenen CDs warten nämlich überwiegend mit Laufzeiten von 60+ Minuten, bis hin zu 80+ Minuten auf. Nur in wenigen Einzelfällen wird bei der Spieldauer die 50-Minutenmarke dezent unterschritten.
Fazit: Das Decca-Bonynge-Set „Complete Ballet Recordings“, ist eine sehr überzeugende Hommage an einen Könner des Metiers und zugleich eine liebevoll editierte klingende Schatztruhe. Eine, die durchweg inspiriert musizierte Aufnahmen versammelt, darunter vielfach geradezu exemplarische Einspielungen von Musik aus dem Goldenen Zeitalter des romantischen Balletts. Darunter befinden sich diverse wertvolle Ausgrabungen inklusive einiger attraktiver Boni. Gerade in dieser häufiger „nur“ sinfonischen Light-Music gibt es neben so manchem Ohrwurm viel spritzig Dargebotenes und darüber hinaus auch noch manche musikalische Delikatesse zu entdecken. Wer hier erst einmal eingehender hinein gehört hat der ahnt, dass sich in den Archiven noch so manch Schönes an längst vergessenen Ballettkompositionen finden lässt, das es verdient hätte dem Dornröschenschlaf entrissen zu werden.
In seiner kaum überbietbaren Fülle kombiniert mit einem Schnäppchenpreis wird das Box-Set so geradezu zu einem „must have“, aber gewiss nicht ausschließlich für eingefleischte Freunde des romantischen Balletts. Wer es im weiten Feld der Klassik auch immer wieder mal eher unbeschwert und unterhaltsam mag, wer sich etwa auch bei den Wiener Neujahrskonzerten wohlfühlt, der liegt hier goldrichtig.
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