Leopold Stokowski’s Symphonic Bach

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
28. September 2000
Abgelegt unter:
CD, Hören, Klassik, Sampler

Score

(5/6)

Leopold Stokowski

Leopold Stokowski gehört, obwohl nicht unumstritten, sicherlich zu den faszinierenden Musiker-Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Mich haben schon als Halbwüchsiger einige seiner schmissigen und kraftvollen Dirigate geradezu begeistert. Stokowski war zeitlebens auch für das Zeitgenössische aufgeschlossen und hat viele Amerika- und Weltpremieren heute berühmter Werke dirigiert, z.B. die amerikanische Erstaufführung von Mahlers „Sinfonie der Tausend“. Seine Liebe zur Musik versuchte er gekonnt in populären Konzerten einem breiten Publikum zu vermitteln. Dadurch war sein Name für zwei Generationen Amerikaner gleichbedeutend mit klassischer Musik. Seine ausgeprägte Technik-Begeisterung führte bereits ab 1931 zu frühen stereofonischen Aufnahme-Experimenten und damit auch zur Zusammenarbeit mit Disney bei Fantasia (siehe hierzu Fantasia 2000 sowie das erste Telarc-Special).

Der in Großbritannien geborene Leopold Stokowski starb 1977, im Alter von 95 Jahren. Bis kurz vor seinem Tode hatte der rüstige Greis seine Dirigententätigkeit inne, und selbst die Aufnahmen der letzten Jahre belegen eindrucksvoll das Feuer, das in dem Großen Alten immer noch steckte. Sein herausragender Sinn für Klang und Effekt zeigen sich nicht zuletzt in seinen etwa 200 Orchester-Transkriptionen von Werken der Klavier-, Orgel-, Chor- und Kammermusik. Bei den meisten dieser Stücke schafft er die Musik in gewissen Sinne neu und schwelgt äußerst gekonnt in den üppigen, vielfältigen Klang-Farben des modernen Sinfonie-Orchesters – was ihm neben Anerkennung auch mancherlei Kritik eintrug.

Orchester-Transkriptionen sind grundsätzlich nicht neu, sondern in der Musikliteratur schon des Barocks häufiger vertreten, als vielen Musikfreunden bewusst ist. Die Arbeiten Leopold Stokowskis stehen dank ihrer Brillanz in dieser Tradition an exponierter Stelle. Die hier vorgestellten CDs präsentieren eine Auswahl dieses faszinierenden Œuvres. Der Dirigent Matthias Bamert war in den letzten Lebensjahren dem Maestro als Dirigent zugeordnet und ist mit dessen Arbeitsweise daher besonders gut vertraut. Bis heute hat er insgesamt vier CDs mit Stokowskis Orchesterbearbeitungen mit dem BBC Philharmonic Orchestra für das Chandos-Label eingespielt.

Leopold Stokowskis Laufbahn begann in London und New York, wo er zuerst als Organist hauptsächlich mit den Solowerken von J. S. Bach in Berührung kam. Als er mit 27 Jahren ein Engagement beim Philadelphia Orchestra antrat, machte er sich daran, Teile der ihm vertrauten Orgelwerke Bachs für Orchester zu bearbeiten. Inzwischen haben auch jüngere Dirigenten die Faszination entdeckt, Bach’sche Musik aus der Ecke der speziellen Barockensembles herauszuholen und auf eine sehr individuelle moderne Art niveauvoll zu präsentieren. Die CD „Stokowski’s Symphonic Bach“ widmet sich schwerpunktmäßig dieser Musik. Es werden insgesamt 14 Bach-Bearbeitungen präsentiert, von denen die „Toccata und Fuge BWV 565“ durch Stokowskis Fantasia-Engagement besonders bekannt ist – dieses faszinierende Stück gab es bereits in den vierziger Jahren auf einer Schellack-Platte zu kaufen. Wie es Stokowski gelingt, die faszinierende Orgel-Polyphonie in rauschend sinnliche und farbige Klänge der großen Orchesterorgel umzusetzen, hat schon große Klasse. Vergleichbares gilt auch für die übrigen Bach-Adaptationen, die vielleicht weniger spektakulär als das Eingangsstück, aber zweifellos nicht weniger wertvoll, geschweige denn langweilig sind.

Die CD „Stokowski Encores“ enthält ein buntes Programm aus eingängigen „Zugabe-Stücken“ vielfältiger Musikrichtungen. Von der Gregorianik eines Giovanni Gabrielli, dem Georg Friedrich Händel des Barock, dem der Renaissance zuzuordnenden Jeremiah Clarke über Beethoven und Mozart als Vertreter der Wiener Klassik spannt sich der große Bogen weiter über die Romantik eines Franz Schubert, Frederic Chopin und Peter Tschaikowski zum Impressionismus Claude Debussys bis zur Musik von Dimitri Schostakowitsch, einem der großen Komponisten des 20. Jahrhunderts.

Wohl die meisten dieser Stücke dürfte der selbst wenig Klassik-versierte Hörer irgendwann schon einmal gehört haben – nicht zuletzt bei einem Kinofilm. Auf dieser CD bekommt er sie in glanzvollen Versionen und Interpretationen und außerdem in neuem, äußerst farbigem und raffiniertem klanglichen Gewand zu hören. Wer den gekonnten Effekt liebt, dürfte bereits beim ersten Hördurchgang besonders von Mozarts exotischem „Türkischem Marsch“, aber auch dem besinnlich-melancholischen Adagio aus der berühmten Mondscheinsonate Beethovens, dem berühmten romantischen „Ständchen“ von Schubert, dem prächtigen „Festival in Seville“ von Albeniz und am schmissigen, besonders glanzvollen Arrangement von Sousas berühmtem Marsch „The Stars and Stripes forever“ gefallen finden – nach und nach wohl auch an allen übrigen Stücken.

Die übrigen beiden CDs sind wieder jeweils nur einem Komponisten gewidmet. „Stokowski’s Mussorgsky“ und „Stokowski’s Wagner“ präsentieren keinesfalls ein monotones Programm, sondern erstklassige Musik.

Von Modest Mussorgskis Tonschöpfungen sind besonders zwei Werke bekannt: die Klaviersuite „Bilder einer Ausstellung“ und die ebenfalls in Fantasia 1940 verwendete Tondichtung „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“. Von den „Bildern einer Ausstellung“ gibt es nicht nur eine Vielzahl von Orchesterfassungen, von denen die von Maurice Ravel die bekannteste ist, sondern auch Arrangements für Jazzbands, Rockgruppen, Synthesizer usw. Leopold Stokowskis leicht gekürzte Fassung gehört sicher zu den lebhaftesten Bearbeitungen dieses Werkes. Hier gibt es neben glanzvollen Momenten auch Besinnliches zu hören und natürlich ein Finale im gewohnt brillanten „Big-Sound“ des Maestros.

Mussorgskis „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“ ist in der Originalfassung selten zu hören und zählt zu den stark atmosphärischen und zugleich äußerst wilden Stücken der Musikliteratur. Stokowskis Bearbeitung reintegriert Teile der originalen Barbarismen, die Rimsky-Korsakoff in seiner berühmten Orchesterfassung geglättet hat – natürlich diente Stokowskis Fassung für Disneys Schilderung eines Hexensabbats im vorletzten Segment von Fantasia. Eine faszinierende „sinfonische Synthese“ erstellte Leopold Stokowski aus Mussorgskis Oper „Boris Godunow“. Die rund 25-minütige Suite ist ein beeindruckendes Beispiel für seinen außerordentlichen Klangsinn und die hervorragende Leistung als Arrangeur – die farbige und stimmungsvolle Musik hat dazu fast schon einen Hauch von Kino.

Die Transkriptionen von Musik aus Wagner-Opern (wie auch die vorgenannte Boris-Godunow- Bearbeitung) sind ausgezeichnete Belege für Stokowskis Bemühungen, komplexe „edle“ Musik breitesten Schichten durch ein fantasievoll gestaltetes Klanggewand näher zu bringen. Im Bereich der Oper haben viele Hörer zu Anfang Probleme mit der Singstimme, die sich in etwa in folgender Aussage spiegeln lassen: Die Musik ist zwar schön, aber warum müssen „die“ denn singen? Die „Sinfonischen Synthesen“ des großen Arrangeurs können damit für viele Hörer ein erstklassiger Einstieg in die Welt der Oper sein. Stokowski hat darauf geachtet, zugleich ein Gefühl für die Singstimmen zu vermitteln, indem er die Gesangslinie dem Instrument zugeordnet hat, das dem Ausdruck der jeweiligen Stimmen des Originals am nächsten liegt. Die auf der CD „Stokowski’s Wagner“ vorgelegten Einspielungen sind Beleg für diese Aussage. Durch die Maßgabe der „freie Bogenführung“, einer speziellen Spielweise für die Streichinstrumente, resultiert bei „Tristan und Isolde“ durch die zum Großteil den Celli und Violinen zugeordneten Vokalparts ein besonders wollüstiger Klang. Matthias Bamert realisierte hier eine Idee seines Lehrers, bei der das gewohnte, bei Konzertbesuchen visuell eindrucksvolle Prinzip der „kollektiven Bogenführung“ – alle Aufstrich, alle Abstrich – zugunsten eines individuell perfektionierten Klanges abschafft wird. Dadurch ist es jedem Spieler freigestellt, einen bestimmten Ton und die geforderte Art der Phrasierung bestmöglich auf beliebigem Wege zu erreichen: Der eine streicht auf, der andere ab …

Nicht ausschließlich demjenigen, der jetzt zwar auf den Geschmack gekommen ist, aber vielleicht doch lieber erst einmal „reinschnuppern“ möchte, sei die Telarc-CD „The Fantastic Stokowski“ empfohlen. Erich Kunzel präsentiert hier auf gewohnt effektvolle und spieltechnisch tadellose Weise elf Orchester-Transkriptionen, die zu zwei Dritteln auch in der vorgestellten Chandos-Kollektion vertreten sind. Auch wer die Chandos-Einspielungen hat, sollte auf den Charme von Boccherinis bekanntem „Menuett“, dem „Ungarischen Tanz Nr. 6 von Brahms“, Debussys „Claire de Lune“ und besonders auf die klanglich prachtvolle „La cathédrale engloutie“ von Claude Debussy nicht leichtfertig verzichten. Die Interpretation und die Tonqualität sämtlicher CDs sind tadellos, die ansprechenden Booklets enthalten ausnahmslos gute deutsche Texte.

Fazit: Vier Chandos-CDs dirigiert vom Stokowski-Schüler Matthias Bamert geben äußerst farbige und klanglich faszinierende Einblicke in eine bei manchen Musikpuristen verpönte Werkgattung, nämlich Orchester-Transkriptionen von Werken der Klavier-, Orgel-, Chor- und Kammermusik. Außerdem ist die CD „The Fantastic Stokowski“ geleitet von Erich Kunzel empfehlenswert, deren Programm sich allerdings mit Teilen der Bamert-Einspielungen überschneidet – trotzdem ist diese CD mehr als nur die „Sparversion“ für Vorsichtige. Sämtliche Einspielungen belegen den außerordentlichen Sinn für Klang des nicht nur vorzüglichen Arrangeurs, sondern auch großen Dirigenten Leopold Stokowski und haben des Öfteren einen deutlichen Kino-Touch.

Während manche Barockpuristen wohl besonders bei Stokowskis Bach-Bearbeitungen auch heute noch förmlich rot sehen, war der berühmte Komponist Arnold Schönberg von Stokowskis Fassung von Debussys „Claire de Lune“ derart überzeugt, dass er die Orchestertranskription anfänglich sogar für ein Original Debussys gehalten hat. Ich bin hier der Meinung, es sollte eigentlich gleichgültig sein, auf welchem Weg man sich den Einstieg zu einer bestimmten Art von Musik verschafft, vorausgesetzt, dass eine irgendwie gestaltete Bearbeitung von vergleichbarer Klasse ist, wie die vorliegenden Arbeiten Leopold Stokowskis.

Erschienen:
1993
Gesamtspielzeit:
70:20 Minuten
Sampler:
CHANDOS
Kennung:
9259
Zusatzinformationen:
BBC Philharmonic, Ltg.: M. Bamert

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