Wenn John-Williams-Fans nach ihren Lieblingsscores gefragt werden, fallen fast immer die gleichen Namen: die Star-Wars– und Indiana-Jones-Filme, E.T., Schindler’s List, Jaws. Eher selten werden die Musiken zu den drei Oliver-Stone-Filmen genannt, die Williams vertont hat. Im Fall des eher mauen JFK (1991) ist das auch verständlich, bezüglich Nixon (1995) und Born on the Fourth of July • Geboren am 4. Juli (1989) jedoch nicht. Nixon ist ein äußerst kraftvoller düsterer Score, und seine Musik zum Vietnam-Trauma-Drama Born on the Fourth of July, die hier rezensiert wird, gehört zum anspruchsvollsten und gelungensten, das Williams komponiert hat.
Der Film mit Tom Cruise in der Hauptrolle basiert auf den Erinnerungen des Vietnam-Veteranen Ron Kovic und bescherte Oliver Stone einen Oscar für seine Regieleistung. John Williams’ Score wurde ebenfalls für einen Academy Award nominiert, doch er verlor gegen Alan Menken (Little Mermaid). Nun denn.
Den Orchestersatz hat Williams in dieser Partitur größtenteils auf Streicher und Solotrompete reduziert. Er liefert intensive Adagio-Sätze, zurückhaltende Americana, aber auch modernistische Ausbrüche, wie sie im Gesamtwerk dieses Komponisten nur selten zu hören sind. Formal ist die Musik auf höchstem Niveau, effektiv, nicht effekthascherisch. Sie weiß auch ohne Filmbilder als eigenständiges musikalisches Werk zu überzeugen: Ein Werk der Kontraste – und doch aus einem Guss.
Die MCA-CD enthält acht Songs und sechs Score-Tracks. Songs sind in Oliver Stones Filmen oft mehr als nur Hintergrundgedudel: Sie haben durchaus dramatische Funktion, werden erzählerisch eingesetzt, deswegen ist ihr Erscheinen auf den CDs auch legitim. Die Poplieder bilden auf dem Born .-Album einen abgeschlossenen Block, der Score den zweiten Teil der CD. Wer also Williams’ Musik am Stück hören mag, muss sich die Tracks nicht wie bei JFK einzeln herauspicken und den Player programmieren.
Der Score beginnt mit Track neun, dem „Prologue“: ein Trompeten-Solo (meisterhaft gespielt von Tim Morrison) über einer tiefen Streicherlinie (Bässe und Celli), ein Bläserruf quasi als Nachruf auf Kriegsopfer, der Assoziationen an Einsamkeit und Trauer weckt. Originell ist das natürlich nicht, aber enorm wirkungsvoll. Das Trompetensignal stellt eine motivische Klammer für den gesamten Score dar und dient als musikalische Keimzelle.
Im zweiten Scoretrack, „The Early Days, Massapequa, 1957“, führt Williams sein Hauptthema ein: ein Streicheradagio mit enormer innerer Spannung. In Gestus und auch im Aufbau erinnert es an Samuel Barbers „Adagio for Strings“ – wohl kein Zufall, wenn man bedenkt, wie sehr Regisseur Stone die Barber-Komposition schätzt und wie häufig er sie in seinem Opus Platoon (1984) eingesetzt hat. Doch Williams’ Thema ist kein plumpes Plagiat. Ihm ist eine eigenständige Komposition gelungen, ein ernstes Thema, das in Teilen zurückgenommen wirkt, doch emotionale Wucht besitzt, zwischen Schmerz und Erlösung pendelt. Es wirkt tief empfunden, sehr authentisch – im Gegensatz zu ähnlichen Passagen in The Patriot (1999), die zwar gut gearbeitet sind, aber die Intensität von Born on the Fourth of July vermissen lassen (auch wenn das zugegebenermaßen eine sehr subjektive, nur schwer zu verifizierende Wertung ist). Williams führt in diesem Track noch ein zweites Thema ein: eine warme Americana-Melodie mit optimistischer Ausstrahlung, dabei übernimmt wieder die Trompete die Führung.
In „The Shooting of Wilson“ verdichten sich die Klänge, Williams verwendet Cluster und Streicherfiguren, die an Ligetis und Pendereckis Avantgarde-Kompositionen denken lassen. Ein für Williams erstaunlich modernistischer Cue, bis am Ende die Trompete wieder ihr mahnendes Motiv aufgreift. Das Adagio-Thema erscheint erneut in „Cua Viet River, Vietnam, 1968“, verliert sich dann in komplexen Klangcollagen (Streicher, Klavier, Synthesizer, Stimmen), bis sich wieder Fragmente des Hauptthemas herausschälen. Ein faszinierender Cue.
„Homecoming“ stellt das Americana-Thema in den Mittelpunkt: über einem schlichten, fast schalen Schlagzeug-Rhythmus gespielt, wirkt es wie eine Karikatur oberflächlicher Propaganda- und Wohlfühlmusik – vor allem im Kontrast mit dem Ernst des einsamen Trompetenmotifs. Williams’ Musik ist hier viel mehr als bloße Illustration oder Klangteppich; sie fungiert als kritischer Kommentar, als entlarvende Stimme.
Der Schluss-Cue „Born on the Fourth of July“ bündelt das gesamte thematische Material zu einer Sechs-Minuten-Suite, handwerklich grandios gemacht. Der Score endet, wie er begonnen hat: mit dem mahnenden Ruf der Trompete.
Der Score-Teil der MCA-CD beträgt lediglich 25 Minuten, doch ist er gekonnt zusammengestellt: Er hat einen dramatisch gelungenen Spannungsaufbau, beinhaltet wesentliche Passagen der Partitur und wirkt wie eine abgeschlossene Komposition. Eine gelungene Suite der Musik findet sich auf der Sony-CD „Music for Stage and Screen“, leicht umorchestriert, ohne Synthesizer (außerdem gibt es auf dieser schönen CD Williams’ The Reivers und wunderbare Americana von Aaron Copland). Eine etwas dumpf klingende Bootleg-CD mit der kompletten Musik aus Born on the Fourth of July enthält 17 Tracks (51 Minuten), dazu 13 „alternate & unused cues“ (27 Minuten). Diese Fassung zeigt, dass der Score durchaus noch einige interessante Variationen des thematischen Materials enthält, die nicht in der MCA-Fassung enthalten sind. Eine längere offizielle Edition des Scores wäre also wünschenswert.
Emotionale Tiefe, prägnantes Themenmaterial, handwerklich glänzende konventionelle (Streich-)Orchestermusik im Kontrast mit moderneren Kompositionstechniken und die formale Geschlossenheit machen Born on the Fourth of July zu einem der besten Scores von John Williams überhaupt.