Leidenschaft statt Leinwand – Maestro Morricone in München

Geschrieben von:
Magdi Aboul-Kheir
Veröffentlicht am:
23. Oktober 2004
Abgelegt unter:
Special

Eigentlich ist Ennio Morricone der Meinung, Filmmusik gehöre in den Film, und nur dorthin. Er betrachtet Soundtrack-CDs als reines Nebenprodukt, veröffentlicht keine Partituren, und gegen Konzerte hat er sich jahrzehntelang gesträubt. Nun neigt sich die Karriere des bald 76-Jährigen dem Ende zu, hunderte Morricone-CDs stapeln sich in den Regalen der Fans (arme Komplettisten), und der Maestro, wie er von allen genannt werden will, gibt dem Drängen seiner Liebhaber nach und daher immer mehr Konzerte. Nun griff die italienische Filmmusik-Ikone erstmals in Deutschland zum Taktstock: Im Münchner Gasteig nahm er die Zuhörer auf eine Drei-Stunden-Reise durch vier Jahrzehnte Filmgeschichte mit, die er mit seinen Ohrwürmern und kauzigen Einfällen so geprägt hat wie kaum ein anderer Komponist.

Morricone weiß um das Kompromisbehaftete, oft Fragmentarische und Zerrissene vieler Filmmusiken — daher hat er für den Konzertsaal Suiten zusammengestellt: sich fast organisch entwickelnde Satzfolgen statt Stückwerk und Nummernrevuen. Allein schon daran lässt sich ablesen, wie integer Morricone auch mit seiner Filmmusik umgeht; da ist er unbestechlich, und ganz passend blickt er den ganzen Abend ziemlich humorlos durch die großen, dicken Brillengläser. Musik ist eine ernste Angelegenheit — zumindest in dieser Beziehung macht Morricone keinerlei Unterschied zwischen seinen seriösen Konzertkompositionen und seiner Filmmusik.

1317Morricone kann aus reichlich Material schöpfen, mit seinen mehr als 400 Film- und TV-Musiken. Auch wenn er gern betont, im Vergleich zu Mozart und Bach sei er arbeitslos. „Leben und Legenden“ nennt er die erste Suite: Der Abend beginnt mit Musik aus The Untouchables, aber nicht etwa mit dem heroischen Polizei-Thema, das Morricone selbst gar nicht mag und nur auf Drängen Brian De Palmas geschrieben hat, sondern mit dem rhythmischen Titelthema; es folgen drei Tracks aus Es war einmal in Amerika (Deborahs Thema, „Armut“, Titelmusik) und Die Legende vom Ozeanpianisten, das live vor allem durch seine reizvollen Jazz-Ausbrüche der Trompete überzeugt.

Er habe sein Programm sorgsam ausgewählt, schreibt Morricone im Programmheft. Die Zuhörer sollten sich „an bereits Vertrautem erfreuen, aber ebenso einen Ennio Morricone erleben, den sie vielleicht noch nicht kennen“. Da kommt die zweite Suite, „Lose Blätter“, gerade recht: Kompositionen aus den 60ern, als Morricone, der Workaholic, jedes Bild vertonte, das sich bewegte, manchmal zwei Dutzend Filme pro Jahr. Nicht nur die legendären Italowestern, auch Mafia-Schlachtplatten, obskure Horrorstreifen, alberne Softsexfilmchen. Zu hören sind Auszüge aus H2s, Clan der Sizilianer, Metti una sera a cena und Come Maddalena. Die beiden letztgenannten Titel spielt er erstmals in einem Konzert. Die Sixties und Morricones profundes Können als Schlagerarrangeur (mehr als 500 Titel hat er produziert) sind dieser Musik anzuhören: Das Schlagzeug pocht auf sein Recht, der E-Bass marschiert, das Münchner Rundfunkorchester liefert samtenen Streicherklang und Blechbläserglanz, der Chor des BR swingt. Natürlich besteht ein Teil des Reizes dieser Stücke in ihrer Orginal-Fassung in ihrer transparenten Instrumentierung, im solistischen Zusammenspiel, davon geht in diesem breiten Klanggewand natürlich ewas verloren. Und doch ist es ein seltener Genuss: Orchester-Easy-Listening ohne Peinlichkeit.

Dann die „Modernen Filmmythen“: selbst zum Mythos gewordene Evergreens der Popkultur. Das Panflöten-Thema aus Leones Es war einmal in Amerika (Panflöter Ulrich Herkenhoff macht seine Sache als Gheorghe-Zamfir-Ersatz gut), das Titelstück aus Zwei glorreiche Halunken und, unvermeidlich, unwiderstehlich, das unsterbliche Spiel mir das Lied vom Tod — allerdings nicht das Harmonika-Thema. Morricones sinfonischen Konzertfassungen seiner Westernmusik fehlt das Grobe, Archaische, Ungestüme der Originale, das Peitschenknallen, die Maultrommel, die stilisierten Kojotenrufe. Doch das Finale aus Zwei glorreiche Halunken birst im Münchner Gasteig fast vor Energie, mit seinem Bläsereinwürfen, Chorkaskaden und der entfesselten Sopran-Vokalise (Susanna Rigacci macht Edda dell’Orso nicht vergessen, aber bewältigt den Part dennoch überzeugend). Ironisch-reizend, bestens dargeboten dann noch die Todesmelodie, ein Score, der Spiel mir das Lied vom Tod fast schon wieder zu ironisieren scheint.

Nach der Pause ist zunächst Canone Inverso zu hören, das Morricone quasi zu einem Mini-Violinkonzert umgestaltet hat; entzückende und eingängige zehn Minuten mit einem modernistischen Zwischenspiel, das im Kontrast die reizenden melodischen Einfälle nur noch deutlicher hervortreten lässt.

Eine andere Schaffensseite kommt in der Suite „Engagierter Film“ zu Gehör. Grelles, Groteskes, Garstiges aus den 70ern, verzerrter Pop, satirische Märsche, Avantgarde-Einsprengsel des Pierre-Boulez- und Luigi-Nono-Fans Morricone. Dem Rundfunkorchester wird rhythmische Disziplin und pointiertes Spiel abverlangt: Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger, Erklärt Pereira, Der Weg der Arbeiterklasse ins Paradies, das tieftraurige Die Verdammten des Krieges mit sattem Chorsatz und das schwungvoll-mitreißende „Abolicao“ aus Queimada. Zum Abschluss des Polit-Teils „Here’s to You“ aus Sacco und Vanzetti, auch diese Songbearbeitung (im Original: Joan Baez) überzeugt im orchestralen Gewand. Gerade diese Suite liefert in wenigen Tracks einen erstaunlichen Eindruck von des Maestros Abwechslungreichtum, obwohl es doch stets nach Morricone klingt.

Überhaupt ist eine enorme Vielfalt in den drei Stunden zu hören, doch wird alles durch eine klare kompositorische Handschrift zusammengehalten: da sind die Staccato-Figuren und die mal manischen, mal hypnotischen Drei- und Vier-Noten-Ostinati (am Klavier mit einem nicht immer beneidenswerten Part: Gilda Buttà), polyrhythmische Verschachtelungen, die eleganten Melodiebögen über oft chromatischer Harmonik, der Hang zur Toncollage, ja zu Geräuschkomposition — und immer wieder lässt Morricone Raum für herrliche Soli. Bach, Belcanto und Beat, so viele Bezugsquellen, und doch ist der Italiener ein Original. Und kein Konzertbesucher kommt auf die Idee, zu dieser Musik fehle das Bild.

„Cine tragisch, lyrisch, episch“ heißt der letzte Block. Die Tartarenwüste und die Stummfilmmusik zu Richard III. halten die Spannung nicht, stellen einen kleinen Bruch in der ansonsten so gelungenen Dramaturgie des Abends da. Dann aber, gegen Ende, der epische Höhepunkt: The Mission, die Musik, bei der der sonst so bescheidene Morricone selbst — zu Recht — sagt, er sei um den Oscar betrogen worden. Klangschicht legt sich über Klangschicht, ein Barock-Satz mit himmlischem Oboen-Solo, ein liturgischer Chor, Indio-Trommeln. Wildheit, Wucht, Kinomagie ohne Leinwand.

Jubel, standing ovations, als Zugabe Cinema Paradiso, ein Appell Morricones für den Erhalt des vom öffentlich-rechtlichen Spargeist bedrohten Rundfunkorchesters, das fast leidenschaftlich und doch präzise aufspielt; schließlich „Die Ekstase des Goldes“. In der Tat Ekstase: Das so verwöhnte Münchner Publikum ist aus dem Häuschen. Minutenlange standing ovations. Morricone zeigt die Andeutung eines Lächelns. Er weiß wohl doch, dass diese Musik auch einen Platz im Konzertsaal hat.

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