Micky Maus, der wohl berühmteste Mäuserich der Kinogeschichte erblickte im Frühjahr 1928 in Walt Disneys Zeichentrickwerkstatt das Licht der Welt — er hieß übrigens ursprünglich „Mortimer“. Mit Plane Crazy und The Gallopin‘ Gaucho lieferte das noch farblose und stumme Mäuschen — in optisch heutzutage etwas ungewohnt erscheinender Form — sein Leinwanddebüt. Der 18. November 1928 hat in der Story um Micky allerdings ganz besondere Bedeutung. An diesem Tag hatte nämlich im Colony Theater in New York Steamboat Willie, der erste vollständig synchronisierte Sound-Cartoon mit besagter Maus Premiere. Das war der Anfang von Mickys steiler Karriere: Im Januar 1930 trat dieser erstmalig abseits der Kinoleinwand, als Comic-Figur in Zeitungen, ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und trat so seinen Siegeszug rund um die ganze Welt an. So nennen ihn die Italiener Topolino, die Spanier Raton Mickey, die Schweden Musse Pigg und selbst die Chinesen konnten nicht widerstehen: sie kennen ihn als Mi Lao Shu.
Mickys 75-jähriges Jubiläum hat Disney zum Anlass genommen, nicht allein den klassischen Micky-Maus-Kurzfilmen auf DVD („Micky Maus — im Glanz der Farbe“) ein Denkmal zu setzen. Vielmehr ist parallel ein eigenes Doppel-DVD-Set („Lustige Melodien“), den für die Entwicklung des Genres Zeichentrick- bzw. Animationsfilm besonders bedeutsamen „Silly Symphonies“ gewidmet.
„Ein satter Fang Cartoons!“ Diesem Werbespruch aus dem Hause Buena Vista für die beiden unter dem Oberbegriff „Walt Disney Kostbarkeiten“ firmierenden beiden Doppel-DVD-Sets kann man bedenkenlos zustimmen. Immerhin gibt’s 4 Stunden und 15 Minuten lang Micky Maus (26 Kurzfilme) sowie sogar 5 Stunden und 40 Minuten lang Ausflüge in die Welt der „Silly Symphonies“ (31 Kurzfilme).
Beide Sets laden ein zu einer nostalgisch-lustigen und zugleich aufschlussreichen Zeitreise, bei der sowohl Kiddies, als auch Film- und Filmmusikfreunde nicht zu kurz kommen. Immerhin stammt die Konzeption der „Silly Symphonies“ von niemand geringerem als Carl Stalling — der später mit seinen Vertonungen von Warner-Cartoons besondere Berühmtheit erlangte. Und nicht zuletzt waren die Experimente in der Kombination von Musik und Animation wegbereitend für Fantasia. Stalling schrieb übrigens höchstpersönlich die Musik zu Mickys Tonfilmdebut Steamboat Willie und ebenso zu The Skeleton Dance • Tanz der Skelette (1929), der ersten Silly Symphony überhaupt. Trotz (noch) recht einfacher Umsetzung und entsprechend schlichter Effekte ist besagter Tanz der Knochenmänner keineswegs primitiv geraten, sondern ein auch heutzutage noch raffiniert, frisch und sehr fantasievoll wirkender Kurzfilm.
Gerade die besonders markanten Cartoons dieser Serie zeigen, wie die Animationstechniken kontinuierlich weiterentwickelt und damit auch deren Natürlichkeit (Realismus) Stück für Stück perfektioniert worden ist. Etwas, das die grundlegende Voraussetzung für die großen abendfüllenden Zeichentrickfilme bildete, wie Snow White and the Seven Dwarfs • Schneewittchen und die sieben Zwerge (1937), Fantasia (1940), Pinocchio (1940), Bambi (1942) und Sleeping Beauty • Dornröschen (1959).
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür liefert The Old Mill • Die alte Mühle (1937). Erstmalig kam hier die neuentwickelte Multiplantechnik zum Einsatz, um dem Cartoon ein bislang noch nicht da gewesenes überzeugendes Gefühl von Raumtiefe zu verleihen. Die Gestaltung des Sturms wurde Vorbild für Vergleichbares in Schneewittchen und die sieben Zwerge, und die außergewöhnlich sorgfältige Art und Weise, wie bereits hier Regentropfen und Lichtspiegelungen auf der Wasseroberfläche zeichnerisch umgesetzt worden sind, markiert einen wichtigen Schritt nicht nur auf dem Weg zu Fantasia, Pinocchio und Bambi, sondern darüber hinaus bis zum bislang neuesten Produkt der Pixar-Werkstatt: Finding Nemo.
Aber die Welt der Disney-Cartoons ist auch wichtiger Teil der Technicolor-Story. Anfang der 30er Jahre begann die entscheidende Weiterentwicklung des ursprünglich zweifarbigen Technicolor-Prozesses. Erst durch die Innovation zum mit drei Farben (mit drei separaten Filmstreifen) arbeitenden Verfahren konnte der späterhin legendäre Ruf überhaupt begründet werden — hierzu siehe auch Robin Hood (1938).
Walt Disney war von einer Testvorführung des damals noch nicht für Realaufnahmen taugenden, zuerst ausschließlich für Cartoons einsetzbaren Three-Strip-Technicolor-Process im Jahr 1932 derart fasziniert, dass er einen dreijährigen Exklusiv-Vertrag unterzeichnete — obwohl sein Bruder Roy davon abriet. Aber damit nicht genug: Disney entschied den bereits in Schwarz-Weiß begonnen Kurzfilm Flowers and Trees • Von Blumen und Bäumen (1931-1932) komplett neu in 3-Farben-Technicolor zu produzieren. Heutzutage erscheint dies alles allzu selbstverständlich; welch großes, unkalkulierbares Risiko Walt Disney damals einging, wird dabei aber leicht übersehen. Die Produktion farbiger Zeichentrickfilme war nicht nur extrem teuer, auch die dafür erforderlichen Arbeitstechniken mussten erst entwickelt und optimiert werden. Der Erfolg gab ihm (nicht nur in diesem Fall) recht: Flowers and Trees avancierte zur landesweiten Sensation und erhielt als erster Zeichentrickfilm überhaupt einen Oscar. Wer hier aufmerksam hinschaut, der kann bereits manches des späteren phänomenalen Fantasia vorausahnen.
Und natürlich darf in der Kollektion die Begegnung mit dem Großen Bösen Wolf und den Drei Kleinen Schweinchen nicht fehlen. Three Little Pigs • Die drei kleinen Schweinchen (1932-1933) ist zweifellos der bekannteste Vertreter der Silly Symphonies überhaupt geworden; und der berühmte Liedrefrain „Wer hat Angst vorm bösen Wolf?“ (mit der Musik von Frank Churchill) ist ein Gassenhauer unter den klassischen Cartoon-Songs.
Eindrucksvoll ist auch der Vergleich der beiden Versionen von The Ugly Duckling • Das hässliche Entlein aus den Jahren 1931 und 1939. Schon der schwarz-weiße Erstling ist ein durchaus unterhaltsamer Zeichentrickfilm; aber mit dem Charme der späteren Technicolor-Fassung kann er doch nicht mithalten. Sieht man beide Filme nacheinander, ist die farbige Version nicht einfach „schöner“, da bunt, vielmehr haben die Tierprotagonisten deutlich an Ausdruck und Charakter gewonnen. Hier ist der berühmte, typische Disney-Touch der in Mimik und Gefühlen „vermenschlichten“ Tiere klar zu spüren. In der 1931er Version hingegen ist dieser allein erahnbar. Es handelt sich übrigens um den einzigen Vertreter der Silly Symphonies, der zweimal produziert worden ist. Das 1939er Remake von Das hässliche Entlein war übrigens das 77. und zugleich letzte Silly-Symphony-Cartoon.
Sehr originell und fantasievoll umgesetzt ist der Wettlauf zwischen Hase und Schildkröte in The Tortoise and the Hare • Die Schildkröte und der Hase (1934). Hier wird erstmalig wirbelnder „Speed“ in Form von Geschwindigkeitsstreifen eingeführt. Disney lieferte damit ein heutzutage geradezu typisches Cartoon-Symbol und zugleich ein Synonym für den Abstand des in Cartoons Gezeigten zur Realität.
Wie liebevoll und profiliert zugleich die Charaktere von Hase und Schildkröte umgesetzt sind, ist für das Alter des Films schon erstaunlich. Max Hase ist ein recht aufschneiderischer Strahlemann, der insbesondere vor der holden Weiblichkeit gern seine Show abzieht — was am Beispiel der Zöglinge einer Schule für junge Häsinnen originell in Szene gesetzt wird. Auf seinem blauen Umhang steht „The Blue Streak“ und entsprechend erhält er in seinen flinken Aktionen Geschwindigkeitsstreifen in Blau.
Auf dem Umhang von Toby Schildkröte hingegen steht geschrieben: „slow but sure“. Der gute Toby ist zwar schon (arttypisch) etwas lahm, aber letztlich doch deutlich sympathischer und liebenswerter als sein etwas arrogant-frecher Gegner. Ironischerweise wird Max Hase denn auch Opfer seiner allzu selbstherrlichen Inszenierung. Gerade bei Max zeigt sich im Habitus der Figur bereits merklich das später besonders Disney-typisch Vermenschlichte.
Die Speed-Novität beeindruckte aber auch nachhaltig die Konkurrenz. Max Hase inspirierte (nicht auschließlich) Tex Avery zur berühmten Warner-Cartoonfigur Bugs Bunny. Offenbar war seinerzeit der Wettkampf von Max und Toby so erfolgreich, dass das Duell wiederholt werden musste. Im 1935er The Tortoise Returns • Toby Schildkröte schlägt sie alle tragen die beiden einen Boxkampf aus, bei dem auch Toby ungeahnten Speed erhält. Hier wird sogar ein wenig der Anarcho-Touch der späteren Tex-Avery-Cartoons vorweggenommen.
Als Zusatzmaterial gibt es in „Das Lied der Silly Symphonies“ ein Interview mit Richard M. Sherman — der übrigens zusammen mit seinem Bruder Robert B. Mary Poppins komponierte —, Infos zu den Cartoon-Kompositionen und das zweite Segment, „Silly Symphonies Souvenirs“ präsentiert Originelles zum Thema Merchandising.
Das zweite DVD-Set „Micky Maus — im Glanz der Farbe“ enthält die vollständige Produktion an Micky-Maus-Cartoons aus den Jahren 1935 bis 1938. Mit von der Partie sind neben Micky auch seine Freunde. Wobei hier neben der Freundin Minnie Maus besonders Goofy, Pluto, Klarabella zu nennen sind. Natürlich darf an dieser Stelle ein ebenso berühmt gewordener Enterich namens Donald Duck nicht vergessen werden, der im Jahr 1934 zum Erfolgsteam stieß.
Der Titel „im Glanz der Farbe“ ist Programm. Buntes und Unterhaltsames wird in großer Fülle geboten. Besonders lustig ist hierbei Mickys originelle Interpretation der Wilhelm-Tell-Ouvertüre in The Band Concert • Mickys Platzkonzert (1935), die zugleich Anlass für ein witziges Duell mit Donald wird. Drei Zeichentrickfilme können auch in Form ihrer noch nicht colorierten, aber bereits animierten „Bleistiftzeichnungen“ studiert werden. Ein weiteres Schmankerl ist hierbei, dass per Fernbedienung zwischen der fertigen, farbigen Endfassung und dem schwarz-weißen Entwurf synchron hin und her geschaltet werden kann.
Insgesamt erhält der Käufer hier eine schöne und in erstklassiger Farbqualität (wie auch die Silly Symphonies) erstrahlende Cartoon-Kollektion. Das Micky-Maus-Set enthält sogar eine originelle kleine Überraschung in Parade of the Nominees. In diesem speziell für die Oscar-Verleihung 1932 angefertigten Kurzfilm präsentiert Micky die in jenem Jahr nominierten Schauspieler in karikierter Form, beispielsweise Fredric March — in Rouben Mamoulians Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Es handelt sich dabei zugleich um Mickys ersten farbigen Leinwandauftritt.
Ein paar Wünsche bleiben aber dennoch offen. Warum nicht wenigstens Steamboat Willie als Beispiel für die allerersten Cartoons der Serie enthalten ist, ist unverständlich. Da die Micky-Kollektion rund 90 Minuten weniger Filmmaterial bietet als das Zwillings-Set mit den Silly Symphonies wäre dafür zweifellos mehr als ausreichend Platz vorhanden gewesen. Beim Bonusmaterial gibts neben einer Bildergalerie und ein paar kurzen Ausschnitten aus den TV-Produktionen Walt Disneys noch einen rund 8-minütigen Exkurs des auf Disney spezialisierten Filmhistorikers Leonard Maltin in „Micky Maus Live und in Farbe“. Dass hier nicht noch ein paar selten gezeigte Cartoon-Shorts aufgenommen worden sind, wie der zu Propagandazwecken produzierte The Fuehrers Face (1943) mit Donald Duck, ist ebenfalls etwas schade.
Ein leichtes Manko beider Sets ist das Fehlen eines soliden und informativen Booklets, das sämtliche Filme auflistet und dazu jeweils zumindest mit einigen Basis-Infos aufwartet. Eine derartige Hilfestellung zum Zurechtfinden ist im Interesse eines guten Überblicks gerade bei derartigen Kurzfilmsammlungen eigentlich unerlässlich. In Zeiten der guten alten LP und auch der Laser-Disc war ein derartiges Begleitheft bei (den allerdings teuren) Mehrfach-Sets selbstverständlich. Im Falle der beiden vorgestellten Boxen kann man sich allein anhand der DVD-Menüs über das was und wo Vertretene informieren.
Beide Cartoon-Sammlungen sind mit einer sehr knappen (rund zweiminütigen) Einführung von Leonard Maltin versehen und nur beim Set mit den Silly Symphonies, „Lustige Melodien“, gibt dieser bei einer handvoll ausgewählter Filme zuvor einige Informationen. Damit ist z. B. das Produktionsjahr des einzelnen Kurzfilms häufig nicht unmittelbar ersichtlich. Worüber junge Disney-Freunde leicht hinwegsehen mögen, ist für den versierteren Filmfreund ein doch etwas ärgerlicher Komfortverlust. In diesem Punkt möge sich Disney in Zukunft bessern.
Ansonsten gibt es nur Positives zu vermelden. Die Bildqualität ist durchweg sehr gut bis erstklassig: sowohl Schärfe, Farbe, Kontrast und Detailliertheit sind durchweg tadellos, wobei zwangsläufig die farbigen Cartoons dank ihrer satten, brillanten Technicolor-Farben besonders viel hermachen. Ebenso tadellos, sauber und auch bei den ältesten Filmen sehr frisch ist der Mono-Ton.
Bei einem Marktpreis von jeweils nur etwa 15 – pro Doppel-DVD-Set (!) fallen die erhobenen kleineren Einwände und Defizite nicht mehr ernsthaft ins Gewicht. Der Interessierte wird mit insgesamt rund 10 Stunden Programm nicht allein sehr gut, sondern außerdem echt preiswert bedient, kann also unbesorgt zugreifen.
Noch mehr zu Micky Maus und auch zum berühmten Enterich Donald Duck finden Sie „hier“.
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