The True Story of Jesse James — The Last Wagon

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
25. Juni 2009
Abgelegt unter:
CD

Score

(4.5/6)

Die Musiken zu zwei grundsoliden Fox-Western der 1950er, The Last Wagon • Der letzte Wagen (1956, Regie: Delmer Daves) und The True Story of Jesse James • Rächer der Enterbten (1957, Regie: Nicholas Ray), vereinigt die „Intrada Special Collection Volume 101“. Die 1950er waren eine Glanzzeit für den US-Kinowestern und markieren zugleich die Ära, aus der eine beträchtliche Anzahl Produktionen dieses Genres die Zeitläufe besonders gut überstanden haben. Die in den Western der Fifties erzählten Geschichten sind in der Regel merklich nüchterner und in der Geschichtsbetrachtung deutlich weniger verklärend als ihre Pendants aus der Dekade zuvor. Entsprechend erscheinen auch die Charaktere der Protagonisten kantiger und weniger idealisiert gezeichnet.

Die der Südstaatenguerilla entstammenden Brüder Frank und Jesse James sind wohl die „American Outlaws“ des Westerns schlechthin — siehe auch das US-Bürgerkriegs-Special. Entsprechend erhielt das Duo seit den 1920ern bis ins neue Jahrtausend nahezu unzählige Leinwandauftritte. Der deutsche Verleihtitel Rächer der Enterbten zum Nicholas-Ray-Western klingt dabei eher irreführend nach Mantel und Degen, Robin Hood inklusive. Man erwartet arg romantisch-naive Heldenfolklore, wie sie z. B. Henry Kings 1939er Jesse James — Mann ohne Gesetz recht bieder präsentiert. Das passt nicht wirklich zu Nicholas Rays Interpretation, deren im Originaltitel The True Story of Jesse James enthaltenes Versprechen allerdings, nämlich die Wahrheit über Jesse James zu berichten, nicht eingehalten wird. Der hierzulande wenig bekannte Western interessiert sich vielmehr für die psychologischen Aspekte der Geschehnisse um die James-Brüder und versucht zu ergründen, wie aus deren (Un-)Taten ein berühmter Mythos werden konnte. Rays eigenwillige Interpretation ist zeittypisch merklich nüchterner als die o. g. Henry-King-Version. Diese Portion Realismus unterstreicht auch der Score, wenn am Schluss — quasi von der Straße — ein hörbar wenig sangeserprobter Schauspieler (auf das Hauptthema) eine Jesse-James-Ballade anstimmt.

Aufgrund nachträglicher, massiver Eingriffe von Seiten der Produktion entspricht der endgültige Film allerdings nicht den ursprünglichen Intentionen seines Regisseurs. 20th Century Fox wollte The True Story of Jesse James offenbar als offizielles Remake der bereits erwähnten 1939er Tyrone-Power/Henry-Fonda-Version von Henry King vermarkten. So wurde wohl nicht allein Rays komplexe, auf unchronologischen Rückblenden fußende Erzählweise praktisch komplett zerstört. Vermutlich hat man auch versucht, den als zu unsympathisch monierten Eindruck der Titelfigur (Robert Wagner) ein wenig zu korrigieren.

Leigh Harline hat zu The True Story of Jesse James eine robuste, in der Ausführung gediegene Westernmusik komponiert, die in der Anlage mit Broken Lance durchaus vergleichbar ist. Besonders die lyrischen Passagen in Track Nr. 2 „Jesse“ inkl. das auf die Western John Fords verweisende Gospel-Zitat, „Shall We Gather at the River“ zeigen sowohl die Verbindung zur Tradition als auch die punktuell modernere Handschrift des Komponisten. In den turbulenten Teilen des ersten Tracks erwartet den Hörer in der Behandlung der Bläser mitunter ein Hauch von Alex North. Alfred Newman’sche Wärme in der lyrischen Americana (z. B. dem eingängigen Hauptthema) sowie Friedhofer’sche Strenge in den Actionpassagen und Suspensemomenten prägen eine tadellose Westernmusik, die, auch wenn sie insgesamt nicht ganz so markant ausgefallen ist, wie die genannte Harline-Western-Referenz, besonders nach mehrfachem Hören beträchtlichen Charme entwickelt.

3342In The Last Wagon verkörpert Richard Widmark den bei den Indianern aufgewachsenen Komantschen-Todd. Todd wurde von Sheriff Bull Harper, dessen drei Brüder er wegen des Mordes an seiner Frau getötet hatte, gefangen genommen und in Ketten gelegt. Harper schließt sich mit seinem Gefangenen einem Siedlertreck an. Die Siedler sind von Harpers Brutalität im Umgang mit seinem Gefangenen entsetzt und abgestoßen.

Bei einem nächtlichen Indianerüberfall überleben neben dem an ein Wagenrad gefesselten Todd nur einige Jugendliche, die sich vom Treck entfernt hatten, um im nahen Fluss zu schwimmen. So wird Komantschen-Todd, der Mörder, ihre einzige Chance zu überleben. Todd führt die Überlebenden souverän durchs Indianergebiet und bewahrt sie vor diversen, in der Wildnis lauernden Gefahren. Dadurch gewinnt er nach und nach das Vertrauen der Gruppe. Dabei stoßen sie schließlich auf einen kleinen Trupp Kavallerie, Bedeckung eines Versorgungstransports. Dank Todds List wird die in den vom Militär mitgeführten Wagen befindliche Munition zum Rettungsanker in der finalen Konfrontation mit den Indianern, welche die hoffnungslos unterlegene Kavallerieabteilung natürlich bereits im Visier haben. Im Rahmen einer kleinen, aber feinen Actionsequenz werden die Indianer in eine Falle gelockt, durch die fulminant explodierende Munition dezimiert und so verwirrt, dass die Weißen entkommen können. Todd wird in einem Gerichtsverfahren unter Vorsitz des bibelfesten General Howard rehabilitiert und kann ein neues Leben beginnen.

Der letzte Wagen ist ein linear erzählter, gut fotografierter und spannender Western, der sein Publikum vorzüglich unterhält. Die letztere Aussage gilt auch für die jetzt erstmalig auf Tonträger zugängliche Musik. Man bekommt eine hollywoodtypische Indianer-Western-Filmmusik zu hören, die in weiten Teilen der Tradition der lyrischen Americana eines Max Steiner oder Alfred Newman eng verbunden bleibt. Die auch in diesem Western der 50er enthaltene Portion Realismus spiegelt sich im gelegentlich hervortretenden herberen, dissonanteren Friedhofer-Touch.

Dass Indianer eine offenbar entscheidende Rolle spielen, bemerkt der Zuhörer bereits unmittelbar durch die so charakteristische archaisierende Eröffnung, wobei die (mitunter auch unterschwellige) Präsenz der Rothäute musikalisch im weiteren Verlauf auch durch den zugehörigen Tom-Tom-Rhythmus ausgedrückt wird. Kontrast zur Bedrohung durch die amerikanischen Ureinwohner schafft ein zweiteiliges, lyrisches Americana-Thema, das beträchtlichen Ohrwurmcharakter besitzt.

Der unmittelbar besonders markante und eingängige zweite Teil des Americana-Themas (der erste Teil fungiert späterhin als Liebesthema) ist direkt nach der bereits auf die Indianer hindeutenden Eröffnungsphrase zu hören. Besagter zweiter Teil des Themas ist mit dem im Zentrum der Filmhandlung stehenden Protagonisten, Komantschen-Todd, besonders eng assoziiert. Dieser Teil des Themas bildet u. a. gegen Ende (Track 8) mit der Indianermusik einen feinen Kontrapunkt. Insgesamt funktioniert gerade das zweifellos völlig Klischeehafte, die Indianermusik, so perfekt.

Bemerkenswert ist auch der wiederum klar auf Steiner-Newman verweisende enge Bildbezug der Komposition. Die Musik erzeugt fortlaufend eine klar konturierte akustische Spiegelung dessen, was man auf der Leinwand sieht. Wobei hier nicht etwa fortlaufende Mickey-Mousing-Einlagen gemeint sind, sondern vielmehr primär eine musikalische Reflexion der wechselnden Stimmungen der Filmhandlung. Der etwas erfahrene Westerner weiß daher bereits beim Hören der Musik, auch ohne den Film zu sehen, (weitgehend) was sich gerade abspielt.

3344Die Frage jedoch, wer’s denn nun komponiert habe, ist weder knapp noch einfach zu beantworten. Das Auftauchen von Lionel Newman — Bruder vom legendären Alfred — in den Credits, steht erfahrungsgemäß in erster Linie für den Dirigenten, aber nur selten für den Komponisten. Dass zumindest kleinere Teile einer Filmmusik von Dritten beigesteuert wurden, war in der gut geölten Maschinerie der Studiodepartments absolut keine Seltenheit. Im Rahmen des massenhaften Vertonens von Filmen in den alten Tagen der Hollywooder Traumfabrik wurde darüber hinaus eine Vielzahl von Filmmusiken im Rahmen von Teamarbeit erstellt. (Das überraschend große Ausmaß der Teamarbeit bereits im Hollywood des Golden Age ist durch die verdienstvollen Veröffentlichungen von FSM, Intrada und SAE der letzten rund 10 Jahre überhaupt erst bewusst gemacht worden.) Dabei war es durchaus geläufige Praxis, im Rollentitel den Namen des Dirigenten stellvertretend für ein Komponistenkollektiv anzuführen. Das gilt nicht nur für Lionel Newman bei Fox, sondern in vergleichbarem Maße für Joseph Gershenson bei Universal oder Morris Stoloff bei Columbia.

In The Last Wagon verfügt das Americana-Thema über ausgeprägten Alfred-Newman-Touch. Das Indianer-Thema steht zwar ebenfalls in der Steiner-Newman-Tradition. Es wird aber besonders gegen Ende ausgeprägt in herberer Hugo-Friedhofer-Manier gehandhabt. Das betrifft besonders einen größeren Abschnitt im letzten Track. Dort findet sich darüber hinaus übrigens eine Passage des Stückes („Tucson and Cochise“ auf BYU FMA-105), das bereits Alfred Newman für Hugo Friedhofers Broken Arrow • Der gebrochene Pfeil (1950, Regie: Delmer Davis) beigesteuert hat (s. o.). Aber auch die beim Auftauchen des Militärtransports, anhand signalartiger Phrasen des gestopften Blechs, musikalisch eher dezent charakterisierte Kavallerie erinnert sehr stark an Broken Arrow und dürfte, wie auch die zuvor erwähnte Passage, daraus entlehnt worden sein. (In Steiners They Died with Their Boots On (1942) geht es zeittypisch noch deutlich romantisierter und damit heldenhafter zur Sache, aber auch im 1952er Springfield Rifle • Gegenspionage werden die Blauröcke gemäß dem Thema des Films im Sinne der alten Schule musikalisch betonter heroisiert.)

In der kleinen, aber feinen finalen Actionsequenz erinnern die auf militärische Signale verweisenden Fanfarenstöße wiederum merklich an Alfred Newmans Captain from Castile • Der Hauptmann von Kastilien (1947), und im sich anschließenden knappen marschartigen Abschnitt scheint sogar kurz das Hauptthema aus Newmans The President’s Lady • Gefährtin seines Lebens (1953) auf.

Das alles deutet stark darauf hin, dass bei derartigen Patchwork-Vertonungen (zwar sicherlich nicht nur, aber auch) das gesamte Musikarchiv als Steinbruch genutzt worden ist und anhand passend gemachter, gegebenenfalls leicht veränderter Bruchstücke Scores — im wahrsten Wortsinn von „komponiert“ — zusammengefügt worden sind. Dass selbst die Großen des Geschäfts häufiger Bruchstücke aus ihrem eigenen Œuvre (auch mehrfach) wieder verwendet haben, passt dazu perfekt ins Bild. Das ist eine Praxis, die zugleich schmunzeln lässt, erinnert sie doch so frappant an die Stummfilmtage mit ihren in speziellen Kinotheken (Handbüchern) zusammengetragenen, nach Filmsituationen sortierten Versatzstücken, aus denen bereits der Kinokapellmeister zum jeweiligen Film eine passende Vertonung kompilierte.

Die Vertonungen zu The True Story of Jesse James sowie The Last Wagon sind beide weder ungewöhnlich oder gar experimentell angelegt. Es handelt sich in beiden Fällen also nicht um Filmmusik, die Maßstäbe gesetzt hat, sondern vielmehr um typische Genre-Produkte der Gattung Western. Es sind daher Kompositionen, wo die Filmhandlung mit Musik, gefertigt nach bewährten Standards, versorgt wird. Dabei gehört allerdings gerade The Last Wagon eindeutig in die Kategorie der in Serie, dabei zwar routiniert, aber zugleich von spürbar versierten Händen ausgeführten, Filmmusiken im Hollywooder Kinogeschäft jener Jahre. Der hohe Standard, aber auch die Bruchlosigkeit des vorliegenden, wie aus einem Guss wirkenden Endresultates kollektiver Filmvertonung, gemeinhin auch als „Fließbandproduktion“ bezeichnet, ist beachtlich und erstaunlich zugleich.

3343Die von Julie Kirgo im Begleitheft vermittelten Infos zu den Filmen sind okay, jedoch zur Musik, wie üblich, äußerst knapp. Erfreulicherweise ergeht sich die Autorin dieses Mal nicht in eher abstrus-gewagten Spekulationen. Ebenso positiv: Die komplette Orchesterbesetzung sowie die Daten der Aufnahmesitzungen sind verzeichnet. Leider wird nicht verraten, ob die beiden vertretenen Scores vollständig sind. An dieser Stelle geht es nicht um Komplettheitsfanatismus, sondern schlichtweg um sorgfältige Dokumentation, etwas, das eine über das reine Konsumieren hinausgehende Beschäftigung mit dem Material erst befriedigend ermöglicht. Haben doch die Produzenten derartiger CDs die Möglichkeit, in die noch existierenden Unterlagen des betreffenden Studios Einsicht zu nehmen. Das ist späterhin kaum wiederholbar. Das betrifft auch das hier nicht optimal transparent präsentierte Musikmaterial: Anstelle bevorzugt einzelner, dem Leinwandgeschehen leicht zuordenbarer Cues, sind diese hier generell, offenbar chronologisch, zu längeren (Track-)Suiten zusammengefasst.

Nun, weitestgehend komplett sind die beiden Scores in jedem Fall. In vielen Filmen (nicht nur der Fox), gerade aus den 1950er Jahren, ist Filmmusik eher sparsam vertreten — zum Vergleich siehe auch Broken LanceBroken Arrow oder All About Eve. (Wer kann, der nehme sich dazu auch mal die beiden FSM-Western-CD-Boxen vor.) Also selbst, wenn vielleicht doch ein paar Minuten fehlen sollten, ist auch diese Veröffentlichung mit etwa 30 Minuten bei The True Story of Jesse James und ca. 33 Minuten für The Last Wagon (für 92 bzw. 98 Minuten Film) erneut handfester Beleg dafür, dass im Hollywood jener Zeit das gern beschworene „Wall-to-Wall-Scoring“ keineswegs Usus gewesen ist.

Und noch etwas zeigt die vorliegende Kopplung eindrucksvoll: Nämlich, wie merklich unterschiedlich mitunter der Erhaltungszustand selbst zeitlich dicht beieinander zu datierender Tonmaterialien (hier 35-mm-Magnettonfilm) sein kann. Beide Musiken sind erfreulicherweise in sauberem Stereo erhalten geblieben. Dabei klingt es beim sogar etwas älteren Last Wagon besonders klar und frisch — qualitativ vergleichbar mit dem exquisiten Boy on a Dolphin. Der für Materialien aus dem Foxarchiv so typische Schleier über dem Klangbild ist hier kaum zu spüren. Beim etwas jugendlicheren Jesse James hingegen ist besagter ausgeprägt vorhanden.

Fazit: Intradas wiederum äußerst kurzlebige „Special Collection 101“ (beim Anbieter bereits rund 15 Stunden nach VÖ ausverkauft) vereint gelungen zwei tadellose Westernmusiken der Fifties. Beide Filmmusiken funktionieren ohne Durchhänger und bieten darüber hinaus interessante Einblicke. Neben dem zweifellos besonders feinen Harline-Score zu The True Story of Jesse James ist gerade der aus kollektiver Musikproduktion und damit eindeutig vom „Fließband“ stammende The Last Wagon eine sehr aufschlussreiche, wertvolle Fundsache, noch dazu eine, die unmittelbar besonders gut ins Ohr geht. Von derartig fein ausgeführten „reinen“ Routineprodukten der Hollywooder Score-Factory jener Tage könnte wohl nicht nur meine Kollektion noch ein paar mehr vertragen, oder?

© aller Logos und Abbildungen bei den Rechteinhabern.

Erschienen:
2009
Gesamtspielzeit:
61:39 Minuten
Sampler:
Intrada Special Collection
Kennung:
Vol. 101

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