Oliver Twist

The Film Music of Arnold Bax
Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
23. Dezember 2004
Abgelegt unter:
CD

Score

(5/6)

Die Filmmusik auf CD

Bislang waren von der vorzüglichen Filmmusik von Arnold Bax (1883-1953) nur Auszüge auf Tonträger erhältlich. So mancher Sammler dürfte sich an die von Bernard Herrmann im Rahmen seiner Londoner Einspielungen, nur wenige Monate vor seinem Tod 1975, aufgenommenen beiden Stücke „Fagins Romp“ und „Finale“ erinnern – die auf dem zugehörigen LP-Album „Bernard Herrmann conducts Great British Film Music“ als „Two Lyrical Pieces“ ausgewisen sind. Entsprechendes gilt für die von Kenneth Alwyn 1986 mit dem Royal Philharmonic Orchestra eingespielte, rund 25-minütige Suitenfassung. Alwyn hatte hierfür die vom legendären britischen Filmmusik-Dirigenten Muir Mathieson (der auch diese Filmeinspielungen dirigierte) eingerichtete siebensätzige Konzertsuite noch um drei zusätzliche Fragmente erweitert.

Infolge einiger glücklicher Zufälle und mühevoller Restaurationsbemühungen von Graham Parlett konnte Rumon Gamba mit der BBC Philharmonic jetzt nicht allein erstmalig die vollständige Filmmusik zu Oliver Twist einspielen. Darüber hinaus können einige in der finalen Filmfassung gekürzte oder gar vollständig verworfene Musikteile sowie alternative Cues (wie zwei Versionen des Finales) erstmalig überhaupt gehört werden.

Parlett zeichnet auch für den sehr informativen Begleithefttext verantwortlich, den es – vorbildlich international – dreisprachig: in Englisch, Deutsch und Französisch gibt. Ein umfassender Artikel des Restaurators zur Rekonstruktion der Filmpartitur, „Reconstructing Oliver Twist“, findet sich unter www.musicweb.uk.net/bax/twistrecon.htm.

Die Filmmusik besteht aus zwei wichtigen musikalischen Gedanken, die in der Vorspannmusik vorgestellt werden. Da ist das zuerst in den Trompeten aufscheinende, fanfarenähnliche Thema, das dem goldenen Medaillon von Olivers Mutter zugeordnet ist, welches sich schließlich als alleiniger Schlüssel zu Olivers Herkunft erweist. Der Titelfigur ist eine besonders liebliche Melodie in den hohen Streichern zugeordnet, wobei Olivers Thema mit dem stärker dunklen, schicksalhaften für das Medaillon wirkungsvoll kontrastiert. Mit diesen beiden Themen wird der Score stimmungsvoll und zugleich abwechslungsreich gestaltet, wobei beide Themen zwangsläufig miteinander vergesellschaftet sind und entsprechend oftmals (zumindest in Bruchstücken) zusammen auftreten.

Neben der auch als reines Höralbum wirkungsvollen thematischen Verarbeitung gibt es im Score eine Reihe von Highlights, von denen hier nur die wichtigsten genannt seien: Die im Film nicht verwendete tonmalerisch gestaltete Musik zur Eröffnungsszene (s. o.) „The Storm“; der für den zwielichtigen, dicken Mr. Bumble stehende groteske Marsch (Track 6); natürlich das ausgelassene Scherzo in „Fagins Romp“, wo Fagin dem Neuen (Oliver) witzig vorführt, wie raffiniert er anderen die Taschen zu leeren weiß; und ebenso das lyrisch-warme, von Klavier und Orchester getragene Stück in „Oliver at Mr. Brownlow’s House“ (Track 20). („Fagins Romp“ zählt übrigens zum in der deutschen Fassung komplett (!) Entfernten!) Wobei auch die drei darauf folgenden Tracks – „Oliver at Play“, „The Portrait“ und „Oliver’s Abduction“ verstärkt anmutig-lyrischen Kontrast zur oftmals bedrohlich-düsteren Welt der Bettler und Diebe setzen. Auch die sorgfältige thematische Arbeit ist hierbei nachvollziehbar. So erklingt in „The Portrait“ – Oliver betrachtet, ohne es zu wissen, ein Bild von seiner Mutter, Mr. Brownlows Tochter – das Medallion-Thema. Es erscheint hier weniger dramatisch, aber doch bedeutsam, vermittelt dem aufmerksamen Zuhörer einen wichtigen Zusammenhang.

Wie schon seinerzeit der britische Komponisten-Kollege Percy Grainger in Briefen an Arnold Bax dessen Oliver-Twist-Musik attestierte, weist diese eine Fülle erinnerungswürdiger Teile und gekonnt umgesetzter musikalischer Ideen auf. Und dies, obwohl der Komponist nicht allein unter hohem Zeitdruck arbeiten musste, sondern sich außerdem dem Medium Film eher wenig zugeneigt zeigte. Wer die Musik anhand der vorliegenden Gesamteinspielung in Ruhe studiert, der dürfte dabei kaum auf die Idee kommen, dass hier ein Komponist mit wenig Begeisterung fürs Metier Film, geschweige denn, dass er lieblos zu Werke gegangen sei.

Neben Oliver Twist vertonte Bax allein noch zwei weitere (Dokumentar-)Filme. So, die 1942er War-Documentary über den tapferen Widerstand der unter britischem Protektorat stehenden Insel Malta in Malta, GC – wobei mit GC das der Insel und ihren Bewohnern verliehene Georgs-Kreuz gemeint ist.

Als Füller präsentiert das Chandos-Album aus Malta, GC die Musik zur zweiten (Film-)Rolle. Bax bezeichnete seine Musik als aus sich selbst unstimulierte, mühevolle Arbeit und war (wie auch sein o. g. Kollege Percy Grainger) mit der Art und Weise wie seine Komposition dem Film unterlegt worden ist recht unzufrieden. Allerdings, auch diese eher illustrative, hinter dem Bild agierende Komposition ist mehr als nur anhörbar. Lyrisches steht neben Kraftvollem und ein in strahlender Elgar-Tradition stehender finaler Marsch bildet den krönenden Abschluss.

Im Jahr 1951 entstand noch Journey Into History, eine aus musikalischen Porträts wichtiger britischer Zeitgenossen – wie Kapitän Cook –, die für das 18. Jahrhundert prägend gewesen sind, bestehende Komposition. Sowohl diese Filmvertonung als auch die Musik zur ersten (Film-)Rolle von Malta, GC dürften auf einem weiteren Album der Reihe nachgereicht werden.

Das Übergreifende und zugleich Brückenbildende zwischen Musik für den Konzertsaal und „nur“ Filmmusik zeigt sich (nicht allein) bei Arnold Bax sehr deutlich. Das Marschthema aus Malta, GC hat Bax sowohl in seinem 1945er „Victory March“ als auch im 1952 entstandenen „Krönungsmarsch“ wieder verwendet. In Oliver Twist hat der Komponist nicht allein auf Material seiner im Jahr 1916, anlässlich des irischen Aufstands komponierten sinfonischen Dichtung „In Memoriam“ entnommen. Und überhaupt finden sich in Oliver Twist breite Passagen, besonders die mit Klavier und Orchester, die stark autonom, wie ein Klavierkonzert anmuten.

Im Rahmen der insgesamt sehr beachtenswerten Reihe Chandos-Movies liegt das vorliegende CD-Album nicht ganz auf gleich hervorragendem Level wie beispielsweise die zu William Alwyn, Malcolm Arnold, Arthur Bliss oder auch zu Ralph Vaughan Williams. In Teilen wirkt die Musik im Ausdruck etwas blasser vorgetragen, man hat verschiedentlich das Gefühl, dass manche Stimmen nicht deutlich und kraftvoll genug hervortreten. Ob dies nun an einer etwas laxeren Herangehensweise des Orchesters und seines Dirigenten liegt und/oder in erster Linie zu Lasten der Aufnahmetechnik geht, mag jeder für sich entscheiden. Es sei allerdings nochmals betont: Hierbei handelt es sich um kleinere Abstriche von einem unzweifelhaft sehr hohen (!) Qualitätsniveau! Dem entsprechend sollte daraus keinesfalls der Eindruck einer bescheidenen oder gar „schlechten“ Veröffentlichung resultieren.

Die allermeisten auch im Bereich des Films tätigen der europäischen Komponisten waren traditionell dem „seriösen“ Komponieren eindeutiger verhaftet, als die meisten ihrer Kollegen im Hollywood jener Jahre. Schon aus Zeitgründen gelang es letzteren kaum, sich abseits des Filmbusiness im Bewusstsein des „seriösen“ Publikums der Konzert- und Opernhäuser zu verankern. Während gerade in Großbritannien so manche Filmpartitur auch als Konzertfassung abseits der Lichtspieltheater ein (wenn auch begrenztes) Eigenleben führen konnte, war das in Amerika die absolute Ausnahme. Die in Europa für den Film Komponierenden betrachteten ihre parallelen Arbeiten für den Film als eine Art zweites, gegenüber ihrer Konzertmusik weitgehend gleichberechtigtes Standbein, aber keineswegs als eher minderwertige Kunst. Wie sehr konstruiert der daraus letztlich mitentstandene Vorwurf einer generellen Zweitklassigkeit der Filmmusik in Wirklichkeit ist, wird an dieser Stelle recht anschaulich. Vertreter der heutzutage legendären Elite aus Hollywoods so genanntem Golden Age, wie Franz Waxman, Max Steiner und Erich Wolfgang Korngold, waren sich dieses, klischeehafte Vorurteile begünstigenden Dilemmas sehr wohl bewusst. Korngold verließ aus diesem Grunde 1946 Hollywood und versuchte in Europa an seine Vorkriegserfolge anzuknüpfen. Und Franz Waxman hat in der zweiten Hälfte der 1950er durch sein verstärktes Engagement beim Los-Angeles-Festival ebenfalls versucht, dieser Falle zu entkommen.

Hierzulande sind die Werke von Arnold Bax, der 1937 geadelt wurde und ab 1942 den Titel „Master of the King’s Music“ trug, noch weitgehend übersehen. Wenn überhaupt, werden seine Kompositionen als mit dem – hierzulande immer noch schnell etwas zwiespältig angesehenen – Etikett „Light Music“ behaftet angesehen. Das ist schlichtweg falsch, wie eingehenderes Beschäftigen mit seinem Œuvre belegt. Cinemusic.de wird daher zu einem späteren Zeitpunkt seinen Lesern die oftmals faszinierend schönen Klangwelten des Arnold Bax anhand seiner wichtigsten Orchesterwerke etwas näher zu bringen.

Hier gibt es eine Übersicht der bisher besprochenen Chandos-Movies-CDs.

Dieser Artikel ist Teil unseres umfangreichen Programms zum Jahresausklang 2004.

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Mehrteilige Rezension:

Folgende Beiträge gehören ebenfalls dazu:


Komponist:
Bax, Arnold

Erschienen:
2003
Gesamtspielzeit:
73:06 Minuten
Sampler:
CHANDOS MOVIES
Kennung:
CHAN 10126
Zusatzinformationen:
BBC Philharmonic, Rumon Gamba

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