Oliver Twist

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
23. Dezember 2004
Abgelegt unter:
DVD

Film

(6/6)

Bild

(5/6)

Ton

(2.5/6)

Extras

(4/6)

David Leans Oliver Twist auf DVD

Charles Dickens gelang mit „Oliver Twist“ letztlich ein Roman der Weltliteratur, der vom britischen Meisterregisseur David Lean (1908-1991) kongenial verfilmt worden ist. Erzählt wird die Geschichte des Waisenjungen Oliver Twist, der im Armenhaus aufwächst und nach diversen Schikanen nach London flieht, wo er in die Bande verwahrloster Straßenkinder des Gauners und Taschendiebs Fagin gerät.

Nach der ebenfalls erfolgreichen Dickensromanverfilmung Great Expactations • Geheimnisvolle Erbschaft (1946) ist Oliver Twist (1948) das kinematografische Lean-Highlight bis zu The Bridge on the River Kwai • Die Brücke am Kwai (1957).

1398Lean gestaltete Oliver Twist ganz im Sinne der düsteren Stimmungsbilder von Dickens sozialkritischer Romanvorlage. Das Klaustrophobische und auch die aus der krassen sozialen Not letztlich resultierende Gewaltbereitschaft gehen dabei nicht verloren. Detailgetreu und effektvoll zugleich gestaltete der Produktionsdesigner John Bryan die Sets, auf denen zum Teil skurril-verschroben überzeichnete Charaktere agieren. Und der Kameramann Guy Greene hat dies alles mit in expressionistischer Tradition stehenden kontraststarken Schwarzweißbildern festgehalten. Wer’s bislang nicht geglaubt hat, der kann hier erfahren, wie geradezu bestechend eine gekonnte Schwarz-Weiß-Kinematografie in den dramatischen Wirkungsmöglichkeiten sein kann.

Im Bonusmaterial der DVD bezeichnet Greene übrigens in der 24-minütigen Dokumentation über die Entstehung des Films seine Kameraarbeit bei Oliver Twist als seine beste – „A Profile of Oliver Twist“, in Englisch mit anwählbaren deutschen Untertiteln. Der Kameramann erläutert die Konzeption und Realisierung der eindrucksvoll-schroffen Eröffnungsszene, wo in gewittriger, mondheller Nacht eine Hochschwangere auf das in der Ferne aus dem Wolkenschatten auftauchende schäbige Armenhaus zustrebt. Greene erklärt dabei auch einige für David-Lean-Filme so typische, brillante Kameraeffekte: So, wie in der Eröffnungsszene der plötzlich eintretende Schmerz einer Wehe visualisiert wird, indem die Kamera die sich an einem Baum Festhaltende seitwärts kippend einfängt und als der Schmerz nachlässt, wieder in die Normalposition bewegt wird. Oder in einer späteren Szene, wo der kleine Oliver als vermeintlicher Dieb von einer Meute aufgebrachter Bürger verfolgt wird: Die Kamera fährt dabei (auf einem Kinderwagen montiert) auf der Höhe des Jungen, dessen Flucht schließlich durch einen Faustschlag (direkt in die Kamera) abrupt beendet wird.

In der sehr aufschlussreichen Dokumentation kommt auch der Kameramann Oswald Morris zu Wort, der bei der Lean-Verfilmung von Oliver Twist mitarbeitete. Rund 20 Jahre danach stand er bei Carol Reeds Verfilmung des Lionel-Bart-Musicals Oliver (1967) selbst hinter der Kamera, wobei im Resultat eindeutige Parallelen zur 1948er Version auszumachen sind.

Unter den insgesamt sehr überzeugenden Darstellern des Films ist besonders Alec Guinnes als Fagin überragend. Diese Rolle ist zugleich ein Beispiel für die außerordentliche Wandlungsfähigkeit dieses in nahezu jeder Rolle und Maske packend und mit großer Ausstrahlung überzeugend agierenden Mimen.

Für rund 20 Jahre litt die Rezeption des heutzutage einhellig als Meisterwerk anerkannten Films am Vorwurf des Antisemitismus. Etwas, das aus der Fagin-Maske resultierte, bei der Alec Guinnes mit einer überdimensionierten Nase – wohl nicht nur hierzulande – viele Zeitgenossen an eine aus Julius Streichers üblem NS-Hetzblatt „Der Stürmer“ stammende Judenkarikatur erinnerte. Offenbar hatten die Zensoren Bedenken, antijüdische Klischees, wie das vom geldgierigen Juden, würden bewusst oder unbewusst bedient. Die Erinnerung an das „Dritte Reich“ und seine Folgen war in jenen Jahren zwangsläufig noch besonders frisch und in weiten Teilen Europas auch durch die noch bis Ende der 60er Jahre sichtbaren katastrophalen Zerstörungen gegenwärtiger als heutzutage. So kam es im britischen Sektor von Berlin im März 1949 vor dem Lichtspieltheater „Die Kurbel“, wo die englische Originalfassung gezeigt wurde, zu regelrechten Straßenschlachten zwischen aufgebrachten Demonstranten und der Polizei. Aber auch in den USA zeigten sich Auswirkungen der europäischen Antihaltung gegen den Film. Erst im Juni 1951 wurde dieser in einer um immerhin 12 Minuten gekürzten Fassung freigegeben und ist erst 1970 in integraler Fassung im US-TV gezeigt worden.

Originellerweise klärt die DVD-Doku auch darüber auf, wieso Fagin einen derart betonten Gesichtserker bekam: Man bekommt hierzu ein durchaus eindrucksvolles Foto mit Guinnes in einer frühen Form der Fagin-Maske – ohne extrovertierte Nase – zu sehen. Diese Maske muss David Lean (sinngemäß) wie folgt kommentiert haben: Nicht übel, aber er erinnert mich doch zu sehr an Jesus Christus …

Hierzulande wurde die Rolle von Fagin durch noch drastischere Schnitte (rund 20 Minuten) noch stärker verstümmelt, ja sogar fast ruiniert. Die auf der DVD vorliegende, technisch vorzüglich transferierte britische Archivkopie ist vollständig und gibt dem Zuschauer Gelegenheit, sich ein eigenes Bild zu machen. Die Schnitte sind in der deutschen Version übrigens leicht zu erkennen, da diese Teile mit der (s. u.) merklich anders klingenden englischen Tonspur unterlegt sind. Zusätzlich sind in der Bonussektion alle betreffenden Szenen (sechs) separat aufgeführt und können einzeln angesehen werden.

1399Das Schwarzweißbild ist sehr kontraststark und gut durchzeichnet. Die Schärfe schwankt minimal, und geringfügiges Bildrauschen ist allein in sehr hellen Szenen sichtbar. Da praktisch keine Kopieschäden ins Auge fallen, ist der Gesamteindruck vorzüglich.

Nicht auf gleicher Höhe liegt die Qualität des insgesamt etwas betagt klingenden Lichttons. Der deutsche Ton ist elektronisch nachbearbeitet, wobei besonders die Dialoge insgesamt recht präsent, die Musik (wie in der britischen Fassung) deutlich blasser klingt, mitunter kommt es zu Zischlauten und leichten Verzerrungen. Noch etwas weniger kann die englische Tonfassung ihr Alter verleugnen: sie ist gegenüber der deutschen merklich stärker verrauscht und klingt auch etwas dumpfer – ein leicht wahrnehmbarer Effekt, der letztlich dabei nützlich ist, die geschnittenen Teile im laufenden Film aufzuspüren.

Neben dem bereits erwähnten Zusatzmaterial gibt es noch einen Trailer, verschiedene Fotogalerien (u. a. eine Fotoserie, die Guiness’ Verwandlung in Fagin zeigt), Biografien zu Regisseur, Produzent und Charles Dickens auf solide aufbereiteten Texttafeln. Darüber hinaus liegt der Klapp-Box ein 14-seitiges, ansprechend illustriertes und bebildertes Begleitheft bei, das mit zusätzlichen interessanten Informationen aufwartet.

Alles in allem liegt hier eine sorgfältig aufbereitete und mit gutem Zusatzmaterial ausgestattete DVD-Edition des endlich ungekürzt erhältlichen berühmten Filmklassikers des Regisseurs David Lean vor. Die ambitionierte britische Produktion ist dabei von Kochmedia kompetent eingedeutscht worden. Zur guten Kollektion an Zusatzmaterial erhält der Käufer noch eine weitere, den auf den ersten Blick recht hohen Preis der Edition erklärende Beigabe: die Vollversion von Reclams elektronischem Filmlexikon auf CD-ROM. Eine recht nette Zugabe, obwohl beispielsweise Oliver Twist zu den Filmen gehört, die leider nur in einer Randnotiz behandelt werden.


Mehrteilige Rezension:

Folgende Beiträge gehören ebenfalls dazu:


Regisseur:
Lean, David

Erschienen:
2003
Vertrieb:
KOCH Media
Kennung:
DVM000013
Zusatzinformationen:
GB, 1948

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