Alexander Newski

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
8. Juli 2004
Abgelegt unter:
CD

Score

(6/6)

Alexander Newski: Ersteinspielung der Original-Filmmusik

Was macht ein triefig-pathetisch und stellenweise auch naiv wirkendes Propagandafilmopus des real existierenden Sozialismus auch heutzutage noch zum unangefochtenen Klassiker der Filmkunst? Das „Machwerk“ entstand letztlich, um Hitler-Deutschland vor einem Angriff abzuschrecken; eine in der Nowgoroder Chronik erwähnte siegreiche Schlacht gegen deutsche Ordensritter auf dem zugefrorenen Peipussee im Jahr 1242 musste dafür herhalten. Nach dem Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes verschwand der Film deswegen auch aus den russischen Kinos, um nach dem deutschen Angriff prompt wieder eingesetzt zu werden. An der Echtheit des historischen Events scheinen darüber hinaus ernste Zweifel angebracht, wie eine History-Sendung im ZDF vor einiger Zeit ausführte.

Dass der Film als Klassiker gehandelt wird, liegt allerdings keinesfalls am Plot, sondern am in Teilen hervorragenden Inszenierungsstil und besonders der brillanten Verbindung der Filmbilder mit der Musik — dem kann auch Pathos und Geschichtsklitterung nichts anhaben. Insofern ist der Film zugleich ein gutes Beispiel dafür, dass für die Bedeutung eines Filmwerks (und damit auch seiner Musik) eine gute, überzeugende Story nicht allein und unbedingt ausschlaggebend sein muss — wie häufig behauptet wird. Derart betrachtet erscheint Alexander Newski heutzutage eher fragwürdig und antiquiert, aber das wird ihm eben nur in Teilen gerecht. Im Zusammentreffen und in der intensiven Zusammenarbeit zweier genialer Künstlernaturen, Eisenstein und Prokofjew, manifestierte sich ein historischer Glücksfall: Kinofilm wurde zur Filmkunst. Nicht, wie normalerweise üblich, musste hier die Musik an den Rohschnitt des Films angepasst werden. Vielmehr arbeiteten Regisseur und Komponist von Anfang an intensiv zusammen, um Bild- und Musikwirkungen exakt aufeinander abzustimmen und so eine neuartige Verknüpfung von szenischer und musikalischer Dramaturgie zu erreichen. Manche Filmszene hat Eisenstein sogar noch verlängert, um einen musikalischen Einfall des Komponisten nicht beschneiden zu müssen. Allein unter diesem herausragenden Aspekt einer optimalen Bild- und Musikdramaturgie ist das Resultat als Gesamtkunstwerk zeitlos packend und eindrucksvoll. Demgegenüber erscheinen einige unübersehbare Schwächen der Inszenierung in relativ mildem Licht: beispielsweise in der mit plumpen und zugleich naiv-dümmlichen Slapstick-Elementen durchsetzten großen Schlachtsequenz.

Dementsprechend gilt: Über kaum eine andere klassische Filmmusik dürfte mehr geschrieben worden sein, als über Prokofjews Komposition. Geradezu exemplarisch finden sich in der Filmliteratur analytische Betrachtungen zu Film- und Musikschnitt und natürlich auch zu Eisensteins Theorie der „vertikalen Montage“. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass von diesem als Schlüsselwerk anzusehenden Werk der Film(musik)geschichte die Originalpartitur bislang überhaupt nicht zugänglich war. Was bedeutet, dass sich sämtliche Betrachtungen und Schlussfolgerungen ausschließlich (!) auf die vom Komponisten für den Konzertgebrauch erstellte Kantatenfassung beziehen mussten.

Alexander NewskiFür einen Ton-Film ist der Musik erstaunlich viel Raum zur freien Entfaltung gelassen worden. Kaum finden sich Überlagerungen mit Geräuschen und auch nur einzelne Dialogstellen, die allerdings kaum ernsthaft mit der Musik konkurrieren. Infolge dieses quasi Stummfilmcharakters hat es bereits zuvor verschiedene Versuche gegeben, die klangtechnisch äußerst unzulängliche und dazu infolge Alterung zusätzlich beeinträchtigte, verzerrte und verklirrte Lichttonspur durch eine neu eingespielte Musikfassung zu bereichern. Aber hierzu konnte bislang allein ein Abgleich zwischen Musik von der Filmtonspur und der Kantate erfolgen. So zeigt die 1993 mit dem St. Petersburg Philharmonic Orchestra unter Yuri Temirkanov auch auf CD veröffentlichte Einspielung (RCA BMG 09026 61926 2) auffallend markante Unterschiede zur jetzt neu eingespielten Version auf Capriccio.

Die jetzt vorliegende vorzügliche Ersteinspielung der Original-Filmmusik mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Frank Strobel ist das Ergebnis einer eingehenden deutsch-russischen Kooperation. Durch das Glinka-Museum für Musik sowie das RGALI-Archiv für Literatur und Kunst (beide in Moskau) wurden dem Hamburger Musikverlag Hans Sikorski sämtliche noch auffindbaren Materialien des Originalmanuskripts, Particellseiten und aufschlussreiche Skizzenblätter zur Verfügung gestellt. Der informative Begleithefttext vermittelt einen Eindruck von den umfangreichen Schwierigkeiten, die das Restaurationsteam überwinden musste und damit von der mühevollen Detailarbeit, die erforderlich gewesen ist, um die jetzt endlich allgemein zugängliche Erstausgabe der Filmmusik-Partitur zu erstellen. Teilweise wurde hier vergleichbar mit der Restauration eines Gemäldes vorgegangen: wurden irreführende Übermalungen (hier in Form fraglicher Ergänzungen und Änderungen im Notentext) schichtweise abgetragen (entfernt), um das Original wieder sichtbar werden zu lassen. Lesenswertes erfährt man auch zu den raffinierten Experimenten, die Prokofjew im Rahmen der damaligen Möglichkeiten einer gegenüber Hollywood zweifellos bescheideneren russischen Licht-Tontechnik vornahm. Hierfür steht unter anderem die sogenannte „verkehrte Orchestrierung“, bei der leise Instrumente stärker nach vorn platziert und dominantere weiter im Hintergrund aufgestellt sind. Dies geschah, um Verdeckungseffekte zu vermeiden, aber auch um bestimmte Klangwirkungen zu erreichen.

Der Aufwand hat sich gelohnt! Dem anhand dieser Partitur realisierten (zu Recht!) als Erst-Einspielung der Original-Filmmusik firmierenden CD-Album gebührt allerhöchstes Lob und auch die exakt bildsynchronen Tempi der Neueinspielung sind ein klarer Pluspunkt. Das Rundfunksinfonieorchester Berlin unter Frank Strobel, die Mezzosopranistin Marina Domaschenko sowie der Ernst-Senff-Chor agieren höchstpräzise, intonationssicher und wirken zudem prächtig zusammen. Frank Strobel, der mit hörbarem Engagement bei der Sache ist, zeigt sich als „Überzeugungstäter“.

Strobel ist nicht allein für das Einrichten von Original- und Neukompositionen zu klassischen Stummfilmen bekannt. Als Mitgründer und künstlerischer Leiter der europäischen FilmPhilharmonie (www.filmphilharmonie.de) hat er im Rahmen so genannter FilmKonzerte unter anderem Fritz Langs Metropolis aufgeführt, sowohl mit der originalen Huppertz-Musik als auch mit der Neukomposition von Bernd Schultheis.

Die von der SACD (siehe auch Hamlet) in drei verschiedenen Formaten abrufbare Musikinformation, erweist sich bereits im klassischen CD-Standard als hervorragend transparent und räumlich aufgezeichnet. Damit ist nun erstmals erfahr- und nachvollziehbar, wie im Falle Alexander Newski Kantatenfassung und Filmmusik zwar eindeutig miteinander verwandt, sich aber zugleich auch deutlich voneinander unterscheiden. Zwei Werke, die sich zueinander vergleichbar verhalten wie bei Ralph Vaughan Williams die „Sinfonia Antartica“ und die Filmmusik zu Scott of the Antartic.

Interessanterweise ist Prokofjews Kantatenfassung wesentlich fetter orchestriert und überhaupt deutlich pathetischer angelegt. Im Gegensatz zum großen jubelnden Chorfinale in der Kantate kommt der Chor im Film nur kurz zum Einsatz. Durch das rein orchestral gehaltene (kurze!) Film-Finale werden im Zusammenwirken mit der — wie in der Kantate ähnlich breit angelegten — Totenklage die Akzente spürbar verschoben: die Filmmusik verklingt damit weniger stark patriotisch und wirkt damit auch nicht so militaristisch wie die Kantate.

Besonders markant unterscheiden sich Kantate und Filmfassung auf dem filmischen und sinfonischen Höhepunkt, der ballettartig auskomponierten Schlacht auf dem zugefrorenen Peipussee. Besonders ohrenfällig werden die Differenzen beim Einbrechen der Kreuzritter im Eis. Für die Kantate hat Prokofjew das hier fehlende Bild durch eine üppig orchestrierte tonmalerische Passage ersetzt, in der das Wasser des Sees rauscht wie das des großen Ozeans. In der Filmmusik hingegen setzte er ausschließlich auf eine raffiniert zusammengesetzte, sehr effektive, wuchtige Folge des Schlagwerks, die er fortlaufend wiederholt. (Wem an dieser Stelle James Horner in den Sinn kommt, kann sich entspannen, braucht bohrende Aliens-Monotonie trotz Wiederholungen nicht zu fürchten.) Die 1993er RCA-Einspielung zeigt übrigens gerade in besagter Rhythmus-Passage, wie ungenau und wenig befriedigend hier teilweise die Annäherung an das Original erfolgte. Interpretatorisch und spieltechnisch ist die Aufnahme tadellos, aber der Hörende bemerkt rasch, dass hier (grob betrachtet) aus der Kantatenfassung die „Filmmusik“ mit „Schere und Kleber“ in praktisch unveränderter Orchestrierung übernommen und fehlende Teile durch Abhören der schlechten Tonspur rekonstruiert worden sind.

Die in der Alexander-Newski-Musik unüberhörbaren Anklänge an russische Volksmusik sind im Œuvre des Komponisten Vorbild für weitere Werke, sowohl für die Kinoleinwand (Iwan der Schreckliche) als auch das Theater (die Oper „Krieg und Frieden“) und ebenso den Konzertsaal (5. Sinfonie). Neben einer individuell überzeugenden Version der Kantate sollte aber auch das Capriccio-Album mit der Filmmusik in der Prokofjew-Ecke einen sicheren Platz finden.


Mehrteilige Rezension:

Folgende Beiträge gehören ebenfalls dazu:


Originaltitel:
Alexander Nevsky

Komponist:
Prokofjew, Sergej

Erschienen:
2004
Gesamtspielzeit:
55:56 Minuten
Sampler:
Capriccio
Kennung:
SACD 71 014
Zusatzinformationen:
RSO Berlin, F. Strobel

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